Читать книгу Herz oder Hirn - Lillith Korn - Страница 16
ETHAN
ОглавлениеIm Speisesaal blieb er stehen, zog ein weiteres Mal an der Krawatte, weil er das Gefühl nicht loswurde, sie würde ihn erwürgen, und spürte dabei seinen eigenen Herzschlag. Das unregelmäßige Pochen verärgerte ihn stärker, als er sich eingestehen wollte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Estelle kam wie üblich zu spät. Ein Glück, sonst hätte sie vermutlich den Wutanfall seines Vaters mitbekommen.
Ethan schnaubte. Mit hochrotem Kopf eilte in diesem Moment der Chefkellner zu ihm, das Tablett mit den Horsd'œuvre
in der zitternden Hand. Nach Ethans grobem Nicken stellte er es vor ihm ab.
»Miss Blair …?«, wagte er es zu fragen.
»Wird jeden Moment hier auftauchen«, schnauzte Ethan, was den Kellner dazu brachte, sich mit einem hastigen »Verzeihen Sie, Sir« in die Küche zurückzuziehen.
Die nächsten Minuten verbrachte Ethan damit, die stilvoll angerichteten Appetithäppchen zu betrachten und seinen sich verkrampfenden Magen dabei zu ignorieren. Immer wieder stieg der Duft des vergammelten Fleischs aus dem Kühlraum in die Nase, obwohl er wusste, dass er sich das einbildete. Die Kontrollen im ›Franklin’s‹ waren zu streng, als dass auch nur ein Gramm dieses Zeugs in die Speisen gekommen sein konnte.
Schweres Parfüm drängte sich zwischen den imaginären ekelerregenden Geruch.
»Ethan«, zwitscherte eine rauchige Stimme, dann umarmte ihn eine Frau von hinten, wobei sie die Brüste gegen seinen Unterarm presste. »Tut mir so leid, ich wurde aufgehalten!«
Augenblicklich zwängte sich Ethan ein Grinsen aufs Gesicht, bevor er aufstand, um seine Besucherin so zu begrüßen, wie sie es bevorzugte: Mit zwei artigen Küsschen auf die Wange und einem weitaus weniger artigen Klaps auf den Hintern.
Die Augenbrauen in spöttischem Tadel gerunzelt, fasste Estelle ebenfalls nach seinen Arschbacken, doch er streifte ihre Hände einen Hauch zu ruppig ab.
»Später. Setz dich.«
Erst als er ihr den Stuhl nach hinten zog, kam sie seiner Aufforderung nach. Statt den Kellner zu rufen, kümmerte Ethan sich selbst um den passenden Wein. Nachdem sie beide versorgt waren, ließ er sich ihr gegenüber nieder und musterte sie. Wie üblich wirkte sie wie aus dem Ei gepellt, jedes Haar saß an seinem Platz, das Make-up perfekt mit dem seidenen Schal um ihren Hals und den Ohrringen abgestimmt. Vielleicht bekam er später die Gelegenheit, diese Perfektion ein wenig zu zerstören.
»Du brauchst also eine Vorkosterin, wenn ich dich richtig verstanden habe?« Estelle schmunzelte, wobei sie mit dem Zeigefinger gegen ihre rot geschminkten Lippen tippte.
»Richtig.« Damit schob er ihr den Teller hin, auf dem Bruschetta, hauchdünner geräucherter Schinken und Canapés aus kunstvoll geschnittenem Gemüse angerichtet worden waren.
Diese Vorspeisenplatte kostete mehr, als der Stadt der Kopf eines Zombies wert war, und das Wissen über diese Ironie brannte wie Galle in Ethans Hals.
Auf einmal erschien es ihm lächerlich, Häppchen zu probieren, während achtzig Prozent der Bürger von San Francisco jederzeit als Häppchen für die hirnlose Meute, die schlurfend und grollend durch die ungesicherten Straßen zogen, enden konnte. Wäre es nicht sinnvoller, erst hier einzugreifen und Alternativen zu schaffen? Lösungen zu suchen, die nicht bloß auf kurze Zeit Verbesserung schafften? Los Angeles, das keine zwei Tage nach seinem letzten Besuch vollkommen von den Horden überrannt worden war, hatte ihm doch gezeigt, wie schnell eine Stadt untergehen konnte. Und in Sacramento sah es nicht viel rosiger aus. Wie schnell die Seuche sich wieder ausbreitete, obwohl sie alle gedacht hatten, das Problem längst, wenn nicht dezimiert, so doch zumindest minimiert zu haben.
»Oh, das ist göttlich«, stieß Estelle aus und leckte genüsslich über ihre Finger, etwas, das ihn sofort aus seiner idiotischen Grübelei holte. »Ethan, das ist wirklich hervorragend!«
Er ließ sich von ihr ein Türmchen aus knusprigem Brot, Weichkäse und etwas, das von der Optik her Lachs nachempfunden worden war, in den Mund schieben und nickte stumm, während sein Magen wie üblich rebellierte.
»Dein Vater hat es wirklich drauf«, sagte sie bewundernd. »Euer Restaurant war ja schon immer in aller Munde, aber ich schwöre dir, mit dem neuen Konzept werdet ihr noch mehr Leute anlocken. Das ist eine wahre Goldgrube!«
»Vorausgesetzt, wir bekommen das Problem mit dem verdorbenen Fleisch in den Griff.«
Estelles fragende Miene war zu perfekt, um echt zu wirken. »Was meinst du?«
Schnaubend griff er über den Tisch nach ihrer Hand und hielt sie davon ab, ihn erneut zu füttern. »Du weißt genau, was Sache ist«, erwiderte er. »Mir ist bewusst, dass der Skandal in Los Angeles seine Wellen schlägt. Wenn die Leute erst einmal erfahren, dass das ›Franklin’s‹ darin verwickelt war, werden die Gäste definitiv ausbleiben.«
»Stimmt.« Mit einem leichten Achselzucken befreite Estelle sich aus seinem Griff, bevor sie über ihre Finger leckte, langsam und genussvoll, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. »Hast du mich deshalb eingeladen? Damit ich meinen Charme spielen lasse?«
»Oh, Süße, deinem Charme kann niemand widerstehen, das ist sicher. Ich habe mehr Interesse an deinem Einfluss.«
Sie lachte auf, ein wohlkalkulierter entzückender Laut. »Ethan, du verstehst es, Komplimente zu machen.« Nachdenklich legte sie den Kopf schräg. »Wenn du nicht so verdammt geil aussehen würdest, würde ich dir jetzt eine klatschen, das weißt du, oder? Warum fragst du nicht deinen Kumpel? Harry?«
»Henry …«, korrigierte Ethan und griff ein weiteres Mal nach ihrer Hand, um mit dem Daumen über ihr Handgelenk zu streichen. »Und ich will die Reichen und Schönen, nicht die Politiker. Also lass deine Kontakte ein bisschen spielen, komm mit deinen Freundinnen vorbei, bring deine Dates hierher …«
»Dates?«
Er grinste und nach einem Moment erwiderte sie es, bevor sie aufstand, um den Tisch herumkam und sich auf seinem Schoß niederließ.
»Wirst du nicht furchtbar eifersüchtig werden, wenn ich meine Verabredungen hierherbringe?«
»Haben sie Kohle in der Tasche? Werden sie meine Kellner mit fürstlichem Trinkgeld entlohnen?«
Lachend nickte sie und fuhr mit den Fingernägeln die Konturen seines Gesichts nach, was einen leichten Schauer durch seinen Körper schickte. »Du weißt«, wisperte sie, »dass ich mich höchstens mit den Besten abgebe.«
Ethan zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß.« Er gab sich keine Mühe, die Arroganz aus seiner Stimme herauszuhalten. »Ist das ein Ja, Süße?«
»Ach, sicher ist es das. Aber nur, weil ich die Arbeit deines Vaters so sehr schätze.«
Das versaute ihm die Stimmung augenblicklich, obwohl er wusste, dass Estelle ihn lediglich aufzog. Aber sie hatte keine Ahnung, über wie viele Leichen Howard ging, um den Erfolg seines Geschäfts sicherzustellen. Nun, vielleicht ahnte sie es auch und es kümmerte sie bloß nicht.
»Was ist los, Ethan-Schätzchen?«, gurrte Estelle und drückte sein Kinn mit dem Zeigefinger nach oben, damit er ihr in die Augen sehen musste. »Immer wenn wir über deinen Vater reden, bekommst du gleich schlechte Laune.«
Er wischte ihre Hand fort. »Wenn du sehen würdest, wie er wegen jeder Kleinigkeit aus der Haut fährt, wärst du nicht mehr sein größter Fan. Ich habe einfach keine Lust, wie der letzte Dienstbote von ihm behandelt zu werden.«
»Du armer Kerl. Du gehst das falsch an«, behauptete sie, bewegte sich auf seinem Schoß und beugte sich zu seinem Ohr herunter. »Du musst mehr schmeicheln und flirten.«
»Ich flirte sicher nicht mit meinem Vater!«, empörte Ethan sich, wobei er ihre Hüften grob umfasste, um sie von zu hektischen Bewegungen abzuhalten.
Estelle verdrehte die Augen. »So meine ich das nicht. Aber ein bisschen mehr Sanftheit würde sicher helfen. Soll ich dir Nachhilfe geben?«
»Du bist durchaus begabt, was deine Überzeugungskraft angeht, das ist wohl wahr.«
Irgendetwas an seinem Satz, der sie eigentlich von dem Thema hatte ablenken sollen, schien sie zu verärgern. Sie zog die Augenbrauen kraus und schürzte den Mund. »Funktioniert nur bei meiner Familie nicht.«
»Sind deine Eltern immer noch der Meinung, dass dein Bruder die Geschäftsleitung übernehmen soll?«, erkundigte Ethan sich mit halb vorgespieltem Interesse. Tatsächlich diskutierte er gern mit ihr über geschäftliche Dinge – neben ihren körperlichen Vorzügen Estelles größte Stärke – und er wusste, dass sie seit Langem versuchte, den in die Jahre gekommenen Klub in einen angesagten Szeneladen zu verwandeln. Das Knowhow und die Kontakte dazu besaß sie, aber ihre Mutter legte ihr regelmäßig Steine in den Weg, weil sie der Meinung war, dass Estelle sich lieber um die schönen Dinge im Leben kümmern sollte. Wie einen Ehemann zu finden und für Nachwuchs zu sorgen, was in einer Welt wie dieser, in der die Krankheit jederzeit lauerte, wichtiger als zuvor geworden war.
Aber Estelle und Ethan waren in einer Zeit groß geworden, in der man stets befürchtet hatte, dass San Francisco – so wie die umliegenden Dörfer – zum Opfer der Seuche werden würde. Zwar lebten sie beide in gesicherten Teilen der Stadt, aber die Regierung hatte jahrelang alle Hände voll damit zu tun gehabt, die Zombiehorden einzudämmen. Ethan erinnerte sich noch genau an die Nächte, in denen sein Vater mit der Sportarmbrust um die Villa spaziert war, immer auf der Suche nach einem Hirnlosen, dem er den Kopf zertrümmern konnte.
Dass sich die Lage beruhigt hatte, hieß im Endeffekt nichts. Jederzeit könnte ihr sorgloses, behütetes Leben zerstört werden und sowohl Estelle als auch Ethan planten deshalb nicht langfristig, sondern genossen das, was ihnen ermöglicht wurde. Selbstverständlich waren sie verwöhnte Kinder, die glaubten, die Welt drehte sich ausschließlich um sie, aber sie arbeiteten hart für die Ziele ihrer Eltern und Ethan sah nicht ein, dass ihnen ein Vorwurf gemacht werden konnte, weil sie das Leben neben der Arbeit in vollen Zügen auskosten wollten.
»Ich mag meinen Bruder«, erwiderte Estelle und holte ihn aus den Gedanken zurück. »Er hat echt was drauf, aber er wird den Laden herunterwirtschaften, weil er andauernd den Kopf in den Wolken hat. Ständig kommt er mit den absurdesten Ideen an und meine Eltern schmeißen ihm das Geld hinterher, als wäre es bloß Klopapier. Das ist auch mein Erbe, das sie da verschleudern! Und ich weiß, dass ich großen Gewinn erzielen würde, wenn sie mir endlich mal freie Hand lassen würden.«
»Wenn er wüsste, wie gut du bist, würde mich mein Vater sicher mit Kusshand gegen dich austauschen.«
Das brachte Estelle zum Lachen. Sie schlang die Arme um seinen Nacken. »Dann bleibt mir wohl doch nur eine Heirat mit dir, denn sonst darf ich sicher nicht ins Familiengeschäft einsteigen.«
Mit dem überheblichen Grinsen auf dem Gesicht, das sie so anmachte, sah er sie an. »Heirat?«, wiederholte er. »Bevor ich dir einen Ring an den Finger stecke, Süße, möchte ich erst einmal deine Argumente sehen.«
Wie üblich turnte ihn das Flirten mit Estelle tierisch an, weshalb er sich unruhig unter ihr bewegte, weil sich seine Hose merklich anspannte. Eine Tatsache, die ihr nicht entging.
»Oh, Ethan, ich dachte schon, du fragst nie«, schnurrte sie entspannt, kreiste mit dem Po ein weiteres Mal auf seinem Schoß und spähte über seine Schulter, vermutlich um festzustellen, ob sie allein waren. Dann warf sie ihm einen Luftkuss zu, und ehe er Estelle schnappen konnte, um sie richtig zu küssen, rutschte sie von seinen Beinen. Ohne Umschweife kniete Estelle vor ihm nieder, drückte seine Knie auseinander und presste ihr Gesicht gegen seinen Schritt. Überrascht stöhnte Ethan auf, doch er machte keine Anstalten, sie von ihrem Tun abzuhalten.
Selbst wenn einer der Angestellten des ›Franklin’s‹ den Raum betreten hätte, wäre derjenige mit hochrotem Kopf wieder in die Küche zurückgeeilt und hätte es niemals gewagt, ein Wort über das Gesehene zu verlieren. Sein Vater hatte das Gebäude längst verlassen. Und zu dieser Zeit war das Restaurant noch geschlossen, also gab es keinen Grund, Estelles Zuwendungen nicht zu genießen.
Mit geschickten Händen öffnete sie den Knopf, küsste sich an den Shorts entlang und Ethan spürte, wie das Blut aus dem Gehirn in seine Körpermitte schoss. Durchatmend ließ er den Kopf in den Nacken fallen und schloss die Augen, während Estelle in den Stoff biss und leise lachte, als sie seine Reaktion darauf bemerkte.
Sie brauchte nicht viel, um ihn vollständig hart werden zu lassen, so gut kannte sie seine Vorlieben, und er stöhnte ein weiteres Mal auf, als sie ihn endlich aus der eng gewordenen Unterhose befreite und den Mund um ihn schloss.
Als sie begann, mit den Lippen an seinem Schaft auf und ab zu streifen, knurrte er ungeduldig, griff in ihr Haar und sie ließ sich bereitwillig auf Kurs halten, schlang die Zunge um ihn und für einen langen, gedankenlosen Moment konnte Ethan abschalten und genießen.
Bis die abscheulich geschmacklose Kuckucksuhr, auf die sein Vater aus irgendeinem unverständlichen Grund bestand, direkt hinter Ethans Stuhl die volle Stunde einläutete. Das schrille Geräusch klingelte noch in seinen Ohren, als er bereits spürte, wie Estelles Kopf hochzuckte.
»Es ist schon so spät?«, stieß sie aus und fluchte. Dann richtete sie sich endgültig auf, wich ihm aus, als er sie packen wollte, und strich ein letztes Mal mit den Fingernägeln über seinen Schritt. »Wir holen das nach. Versprochen. Aber ich bin verabredet und darf nicht zu spät kommen.«
Obwohl sie ein wenig atemlos klang, hörten sich ihre Worte nicht danach an, als würde sie es sonderlich bereuen, ihn so im Regen stehen zu lassen. Ethan keuchte, noch benommen vor Erregung, doch als sie sich dieses Mal zu ihm herunterbeugte, um sich zu verabschieden, schnellte seine Hand nach vorn und vergrub sich in ihren Haaren.
»Oh, ich werde darauf bestehen«, flüsterte er. »Glaub nicht, dass du mich einfach so hier sitzen lassen kannst.«
»Heute habe ich leider keine andere Wahl. Aber komm morgen im Brain vorbei, vielleicht fällt mir dann etwas ein, um es wiedergutzumachen.«
Frustriert ließ er sie gehen und er brauchte einen langen Moment, bevor er sich weit genug gefasst hatte, dass er sich wieder anziehen konnte, die Krawatte zurechtrückte und das ›Franklin’s‹ ebenfalls verließ.
Vor dem Restaurant stieß er beinahe gegen eine Frau, die mit derart unbeteiligtem Gesichtsausdruck die Karte studierte, dass es auffälliger nicht hätte sein können.
»Hey«, platzte sie heraus, als er so knapp und abrupt vor ihr stehen blieb, dass ihre Gesichter sich fast berührten. Erst als sie zu ihm herumwirbelte, erkannte er die zornig blitzenden Augen, deren Blau ihn sofort wieder fesselten.
»Du!«, grummelte er und schob sie von sich, um Abstand zu gewinnen. Ihr Duft nebelte ihn ein. Er war süß und mit einem Hauch von Tod behaftet, der ihn schwindeln ließ. Reichte es nicht, dass er dank Estelle immer noch mit einem Halbsteifen herumlief? »Was zur Hölle treibst du dich schon wieder hier herum? Hab ich dir nicht erklärt, dass kleine Mädchen wie du hier nichts verloren haben?«
Bevor sie es schaffen konnte, einen ihrer kecken und treffsicheren Sprüche hervorzuschleudern, war er bereits an ihr vorbeigeeilt.
Bei dem Techtelmechtel mit Estelle hatte er vergessen, dass auch er Arbeit vor sich hatte, die keinen weiteren Aufschub duldete.