Читать книгу Herz oder Hirn - Lillith Korn - Страница 5
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KATASTROPHE
VOR EINIGEN JAHREN …
Egal, welchen Sender sie auf dem batteriebetriebenen Radio einstellte, überall berichteten Nachrichtensprecher mit bebender Stimme über die Katastrophe. Die Seuche, die die Bevölkerung Amerikas radikal dezimiert und Millionen von Opfern gefordert hatte.
… Bitte bleiben Sie vor allem nach Sonnenuntergang in Ihren Häusern. Die Verseuchten scheinen nachtaktiv zu sein. Experten vermuten, dass die UV-Strahlen schädigend auf die Erkrankten wirken. Verriegeln Sie Türen und Fenster. Wenn Sie oder ein Familienangehöriger von einem Verseuchten verletzt wurden, isolieren Sie ihn und sich selbst sofort. Die Epidemie breitet sich rasant aus …
Granny legte eine Hand auf ihren Arm. »Schalt das lieber aus, mein Schatz.«
Sarah schaute auf. Granny Kate sah blass aus. Dunkle Ringe hatten Furchen unter den Augen geschlagen, und obwohl sie bereits vorher alt ausgesehen hatte, wirkte sie jetzt um weitere zehn Jahre gealtert.
»Ist schon okay. Ich hab keine Angst, ich hab ja noch euch. Außerdem bin ich zwölf und kein Baby mehr«, erwiderte Sarah tapfer. In Grannys Augen blitzte Stolz auf, aber auch etwas anderes, das Sarah nicht benennen konnte.
Gemeinsam saßen sie auf dem Sofa und warteten auf Mum und Dad, die gerade Essen und Tee in der Küche zubereiteten. Vermutlich dämmerte es inzwischen. Sarah konnte es nicht mit Sicherheit sagen, weil Dad alle Fenster vernagelt hatte, damit keines dieser Monster hereinkommen konnte. In der Küche würde sie es sehen, dort gelangte regelmäßig Licht durch eine winzige Ritze.
»Mein tapferes Mädchen.« Kate lächelte.
Sarah lächelte zurück und im selben Moment traten ihre Eltern endlich ins Wohnzimmer. In den Händen hielten sie ein Tablett mit einer Kanne Früchtetee und aufgewärmter Fertignahrung.
Sarah eilte zur Arbeitsecke ihres Vaters, um das Feuerzeug zu suchen. Vorsichtig lehnte sie die Axt an den Tisch, mit der Dad immer das Holz für den Kamin hackte.
»Sarah!«, rief Mum. »Verletz dich nicht an dem Werkzeug, die Klingen sind frisch geschärft!«
Sarah rollte die Augen. Kurz, nachdem die Seuche ausgebrochen war, hatte Dad all sein Werkzeug ins Haus geholt. Obwohl er bereits eine Schrotflinte im Haus verwahrte, hatte er darauf bestanden, damit sich im Notfall jeder etwas davon als Waffe nehmen könnte.
Seufzend ging sie zum gedeckten Esstisch und entzündete ein paar Kerzen, ehe sie sich alle setzten und Mum ein kurzes Gebet sprach.
Dann schnitt Dad eine Scheibe altes aufgebackenes Brot für jeden ab und Mum verteilte den Früchtetee.
Der Geruch von Lasagne schlug ihr entgegen, als sie die in der Mikrowelle erhitzten Verpackungen aufrissen. Sie aßen schweigend.
Gabeln schabten auf dem Aluminium.
Kate würgte.
»Ist alles in Ordnung?«, wandte sich Mum besorgt an sie.
Granny schüttelte den Kopf. »Ich muss euch etwas sagen.« Ihre Stimme glich einem Krächzen.
Im Hintergrund lief das Radio weiter: … Sie hören KFI AM 640. Es ist achtzehn Uhr. Bitte denken Sie daran, in den Häusern zu bleiben …
»Was ist denn, Granny?«, fragte Sarah und nahm einen weiteren Bissen.
Kate tupfte sich mit der Stoffserviette den Mund ab und holte rasselnd Luft. »Heute morgen wollte ich einige Dinge aus der Garage holen. Und da ist es passiert …« Sie schob den Ärmel hoch und offenbarte eine tiefe Verletzung am Arm. Unter der Haut zeichneten sich schwarze Adern ab, die sich von der Wunde aus verbreiteten und an verästelte Wurzeln eines Baumes erinnerten.
Stille.
Alle starrten Kate an.
Keine Gabeln schabten mehr auf Aluminium.
»O mein Gott!«, keuchte Mum. »Du bist … jemand hat …« Alle Farbe wich ihr aus dem Gesicht.
Dad ließ seine Gabel fallen und Sarah traten sofort Tränen in die Augen.
Kate schob den Ärmel wieder herunter. »Er hat mich nicht gebissen, nur gekratzt. Ich konnte fliehen und habe die Wunde sofort ausgewaschen, weil ich dachte, vielleicht, nur ganz vielleicht … Aber ich befürchte, es war zu spät. Es tut mir so leid. Ihr müsst mich isolieren. Ich spüre, dass es beginnt. Etwas geht in mir vor, ich –«
Das war keinesfalls nur ein Kratzer.
Wie von der Tarantel gestochen sprang Dad auf. Unter Mums schrillen Schreien packte er Kate und zog sie grob hoch.
Sarah sprang ebenfalls auf und schrie: »Dad! Was machst du denn da? Es geht ihr gut!«
»Ja, noch! Sie wird uns töten, wenn wir sie nicht sofort wegsperren! Uns läuft die Zeit davon! Heather, geh nach oben und bereite das Zimmer vor, damit wir es von außen verbarrikadieren können!«
Doch Heather, ihre Mum, war starr vor Schreck. Stumme Tränen liefen ihre Wangen hinab. Sie sah nicht aus, als würde sie sich jemals wieder bewegen können.
Sarahs kleines Herz hämmerte, in ihren Ohren rauschte es.
»Beeilt euch …«, flüsterte Kate.
… Wenn Sie oder ein Familienangehöriger von einem Verseuchten verletzt wurden, isolieren Sie ihn und sich sofort. Die Epidemie breitet sich rasant aus …, wiederholte der Radiosprecher zum xten Mal.
Kate warf ihr einen letzten flehentlichen Blick zu, verdrehte die Augen und sackte in den Armen von Sarahs Dad zusammen.
»Jetzt hilf mir doch einer!«, fluchte er. »Bereitet das Zimmer vor, verdammt noch mal! Heather! Sarah Kate Adinson!«
Mit diesen Worten riss er alle aus der Erstarrung.
Sarah sah aus dem Augenwinkel, dass ihre Mum sich regte.
»Geh nach oben, Sarah, sofort!«, keuchte sie.
Sarah gehorchte. Sie rannte nach oben und öffnete dort die Tür zum Gästezimmer.
Das Prozedere hatten sie etliche Male besprochen. Wenn es einen von ihnen erwischte, würden sie ihn in diesen zuvor präparierten Raum sperren. Von außen hatte Dad mehrere Riegel angebracht, deren Schlösser Sarah nun holte. Im Zimmer selbst standen ein großer Wasservorrat und einige Rationen an haltbarem Essen.
Unten klirrte und schepperte es. Sarah hörte ihr eigenes Schluchzen, während sie alles kontrollierte und die Schlösser samt Schlüssel an sich nahm. Granny, ihre liebe Granny!
Weinend stürzte sie die Treppen hinab – und erstarrte.
Kate drehte sich zu ihr um, das Gesicht zu einer blutigen Fratze verzogen. Etwas hing aus ihrem Mund. Ein Stück Fleisch. Schließlich beugte sie sich gierig wieder zu ihren Opfern und schmatzte weiter. Mum und Dad lagen auf dem Boden und bewegten sich nicht mehr.
… Denken Sie daran: Der Zustand der Verseuchten ist nach bisherigem Wissensstand unumkehrbar. Wenn Sie auf einen von ihnen treffen, flüchten Sie sofort und kämpfen Sie nur im Notfall. Die einzig wirkungsvolle Methode scheint die Enthauptung zu sein, sofern sich anschließend von den Köpfen ferngehalten wird …
Sarah bekam kaum Luft. Sie japste, als sie allen Bedenken zum Trotz näher heranging. Das Schmatzen wurde lauter. Granny röchelte und verdrehte genüsslich die Augen, während sie Dads Gehirn verspeiste.
Mum und Dad! Granny hatte sie getötet … Schmerz explodierte in Sarahs Inneren. Er war so stark, dass sie meinte, entzweigerissen zu werden. So stark, dass sich alles in ihr abschaltete und sie aus purem Instinkt heraus handelte.
Verstecken, sie musste sich verstecken! Langsam drückte sie sich an der Wand entlang, Schritt für Schritt. Kate schien sie über ihr grausiges Mahl wieder vergessen zu haben.
Hoffentlich blieb das so. Dads Werkbank gelangte in ihr Blickfeld. Ob sie darunterkriechen konnte? Würde Granny sie weiterhin vergessen, wenn sie sich ganz ruhig verhielt?
Selbst die winzigen Schritte, die sie sich zutraute, ließen ihre Knie so sehr zittern, dass sie nicht glaubte, die Werkbank erreichen zu können. Jede Sekunde könnte Granny sie erneut entdecken und diesmal würde sie Sarah nicht verschonen.
Endlich erreichte sie den Arbeitstisch und klammerte sich an das Holz. Im selben Moment trafen ihre Finger auf etwas Kaltes und ein metallisches Klirren schallte durch den Raum.
Grannys Kopf zuckte hoch.
Panisch packte Sarah die Axt, die vor ihr auf den Boden gescheppert war, und ließ sie sofort wieder los, als Schmerz durch ihre Hand schoss.
Die Zeit blieb stehen. Fassungslos starrte sie auf ihren Finger. Blut quoll hervor und tropfte auf den Boden. Für eine Sekunde nahm sie nur das Geräusch wahr, wie ihr eigenes Blut auf den Boden traf. Selbst das Klirren der Axt hatte nicht derart in ihren Ohren gedröhnt. Das Geräusch veränderte sich. Wurde tiefer, grollender.
Irritiert hob sie den Blick und starrte in Grannys tote Augen, die sie hungrig vom anderen Ende des Raumes aus fixierten. Das Grollen, das zwischen den herabhängen Hautfetzen aus ihrem Mund drang, hatte nichts Menschliches mehr an sich.
In diesem Moment begriff Sarah, dass von ihrer Großmutter nichts mehr übrig war.
Das da vor ihr war ein Monster.
Es hatte ihre Eltern getötet.
Während der Zombie auf sie zustürzte, griffen ihre Hände selbsttätig nach der Axt. Mit einem Schrei kniff sie die Augen zusammen und holte aus.
Schmatzend traf die Schneide auf Fleisch.
Es polterte. Automatisch riss sie ihre Augen wieder auf. Das Monster lag vor ihr auf dem Boden und röchelte.
Noch immer hielt Sarah die Axt fest umklammert, dann brachen all der Schmerz und die Angst aus ihr heraus. Immer wieder schoss die Waffe hinab, durchtrennte Fleisch, Sehnen und Knochen. So lange, bis ihre Finger vom blutigen Stiel abrutschten und sie weinend neben ihrer toten Großmutter zusammenbrach.