Читать книгу Animant Crumbs Staubchronik - Lin Rina - Страница 10

Das Vierte oder das, in dem ich lernte, Mr Reed zu hassen.

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Ich ordnete meine Kleidung und redete mir weiter ein, dass alles nur halb so schlimm war und mein Stolz stärker als ein paar ungehobelte Worte von diesem Mann.

Sorgfältig strich ich den Rock glatt, kontrollierte meine Haare und richtete die Brosche an meiner Bluse, die direkt unterhalb einer Halskuhle saß. Dann machte ich mich innerlich bereit und trat aus der Tür, zurück auf den Rundgang.

Er beschrieb einen Kreis, den man einmal herumgehen konnte. Die Wände waren so hoch mit Büchern gefüllt, dass mir schwindelig wurde. Was allerdings auch an dem Hochgefühl liegen konnte, das die Masse an Literatur in mir hervorrief.

Gegenüber führte eine Tür auf einen langen Gang, der ebenfalls mit Regalen vollgestopft war und dessen Ende ich von hier aus nicht sehen konnte.

Ich ging eine Runde, langsam und aufmerksam, und genoss die Stille und die Atmosphäre. Eilig versuchte ich mir die Verteilung der einzelnen Themengebiete einzuprägen, besah mir die metallen kleinen Schilder, die jedem Buch auf den Rücken genietet waren und die die Abkürzungen der Abteilung, des Stehplatzes und des Autors eingestanzt hatten. Mir gefiel, dass die Abfolge der Aufteilungen einem Muster folgte und logisch erfassbar war.

Ich stieg die andere der beiden Treppen wieder hinab und mochte, wie mein schmaler Reifrock dabei wippte. Mr Reed war kein zuvorkommender Mensch, wie ich festgestellt hatte. Aber seine Unfreundlichkeiten rückten in den Hintergrund, wenn ich mein Herz in meiner Brust schlagen hörte, weil ich so ergriffen war von diesem Ort.

Bibliotheken hatte ich immer schon geliebt. Doch die zu Hause in unserem beschaulichen Städtchen war ein Frühstückssalon im Gegensatz zu der Royal University Library. Diese prachtvollen Hallen waren wie für mich gemacht und ich war gewillt, für immer hierzubleiben. Selbst mit diesem unfreundlichen Bibliothekar.

Tief atmete ich die Eindrücke um mich herum ein: die säuerliche Schärfe von gebleichtem Papier, muffig angelaufenen Büchern, frischer Tinte, gegerbtes Leder, Metallbeschläge, Staub, altes und neues Holz; das Licht, das durch die riesige Glaskuppel fiel und den runden Saal in einen grau schimmernden Palast voll unentdecktem Wissen verwandelte.

Auch unten waren die Wände voller Bücher und das System setzte sich fort. Ich zog einen kleinen Notizblock und einen Bleistift aus der Tasche meines Rockes und begann mir eine schnelle Skizze von der Verteilung der Themen zu machen. Zwar folgte es einer gewissen Logik, doch ich würde mir trotzdem nicht sofort alles merken können.

Sowohl rechts als auch links führten wie oben hohe Türen in breite, mit Büchern befüllte Gänge, die vorhin beim Betreten meiner Aufmerksamkeit entgangen waren.

Dort fand ich die weniger wichtigen Thematiken, allgemeine Literatur und sogar eine unerwartet große Anzahl an Romanen und Gedichtbänden.

Die Regale, die Treppen, die Geländer und auch die holzgetäfelten Wände waren kunstvoll verziert mit Schnitzereien und mit Gold beschlagenen Einsätzen und Statuen. Der Künstler hatte sich dabei zwar an nur wenige Motive gehalten, die sich jedoch in den verschiedensten Varianten wiederholten. Die Wappentiere Großbritanniens, der Löwe und das Einhorn, und dazu eine Menge Lilien.

Die Zeit ging vorbei, ohne dass ich es bemerkte, und ich las gerade im Stehen in einem Buch über Napoleons Aufstieg und Fall, als sich neben mir jemand verhalten räusperte.

Ich las noch die Zeile zu Ende und hob dann die Augen, nur um erschrocken zusammenzuzucken. Aus Versehen ließ ich das Buch viel zu laut zuschnappen, sodass das Geräusch unangenehm durch den ganzen Saal hallte.

Mr Reed stand vor mir, die Augenbrauen fragend hochgezogen, den Blick über den Brillenrand auf mich gerichtet. »Haben Sie keine Uhr, Miss Crumb?«, fragte er mich mit so weicher Stimme, dass mir sofort klar war, dass irgendwas nicht stimmen konnte.

»Nein, Mr Reed«, antwortete ich lauernd und konnte einen harten Zug um seinen Mund erkennen. Wieder fiel mir auf, dass er keinen Bart trug, was ungewöhnlich war für einen Mann in seinem jungen Alter. Aber vielleicht legte er auch einfach keinen Wert auf die modischen Anwandlungen unserer Zeit und das würde ihn zumindest in meinen Augen ein kleines Stück sympathischer machen.

»Es ist eine Dreiviertelstunde vergangen, seit ich Sie entlassen habe. Und ich habe wahrlich keine Zeit, Sie im gesamten Gebäude zu suchen«, fuhr er mich an und die Weichheit seiner Stimme war gewichen, genau wie meine Hochstimmung.

Ich war immer gut mit Worten gewesen, hatte Menschen immer Paroli bieten können. Doch gegen die Barschheit seiner Worte wusste ich einfach nichts Schlaues zu sagen, ohne selbst unhöflich zu werden. Und das ärgerte mich über alle Maßen.

»Kommen Sie mit!«, wies er mich recht streng an und ich folgte ihm zwischen den Regalen hindurch und zurück in den Lesesaal.

»Jedes Buch hat seinen Platz«, begann er und ich rollte mit den Augen, was er nicht sehen konnte, da er vorausging und mir den Rücken zugekehrt hatte. »Sie finden dazu die Signaturen auf den Büchern«, erklärte er, als ob ich völlig verblödet wäre, und ich wollte gar nicht wissen, was er bisher an Leuten einlernen musste, dass er es jetzt für nötig empfand, mir so etwas Banales zu erklären. Oder aber er tat es, weil ich eine Frau war.

»Die Aufgabe eines Bibliothekarsassistenten ist es, so etwas zu wissen. Diese Bibliothek muss Ihr zweites Zuhause werden und Sie müssen das Ganze sehr ernst nehmen.« Er wandte mir sein Gesicht zu und nahm die Brille ab. »Weil ich es sehr ernst nehme«, fügte er hinzu und seine Stimme schien viel bedeutungsvoller zu sein als bei den Worten davor. Es war ein Moment der Intensität, wie er dort stand und mich ansah. Mir zu vermitteln versuchte, dass Bücher sein höchstes Gut waren und ich dies zu ehren hatte. Diese Bibliothek war ihm wirklich sehr wichtig.

Dann wandte er den Blick wieder ab und steckte die Brille an seine Weste, wie er es zuvor schon einmal getan hatte.

»Sie werden alle Aufgaben erledigen müssen, zu denen ich nicht komme, und das wird oft mehr sein, als Sie glauben bewältigen zu können«, stellte er mir in Aussicht und ich dackelte ihm weiter hinterher. »Ich erwarte Sie um sieben Uhr dreißig am Morgen. Sie werden die aktuellen Zeitungen von unserem Boten entgegennehmen und ihm seine Entlohnung zahlen. Die Zeitungen müssen dann in die Einspannungen gefasst und dort vorne in den Ständer gehängt werden.« Er zeigte ins Foyer, wo ich einen hohen Ständer mit unzähligen Zeitungen sehen konnte. »Die veralteten Ausgaben werden von Ihnen ins Archiv gebracht. Sie werden die Entleihe und die Annahme von Büchern durchführen. Die zurückgegebenen Exemplare müssen vorsortiert werden. Beschädigte Bücher werden gesammelt und bei einer bestimmten Anzahl an den Buchmacher geschickt, damit er sie restaurieren kann.« Nun wurde Mr Reed immer schneller. Man merkte ihm an, dass er das in den letzten Monaten schon oft aufgezählt hatte und ich zog schnell meinen Papierblock aus der Tasche, um mir Notizen zu machen.

Wenn ich ihm wirklich beweisen wollte, dass er mich unterschätzte, dann musste ich jetzt besonders gut aufpassen.

»Sie nehmen die Neuerscheinungen in die Kartei auf, präparieren das Buch mit den Signaturen und überprüfen die Schlagwörter für die Suchmaschine.«

Ich notierte es zwar, aber die Bedeutung seiner Worte verstand ich nicht. Was war eine Suchmaschine?

»Erlauben Sie eine Frage«, unterbrach ich ihn und störte mich nicht daran, dass er sich irritiert zu mir umdrehte.

Sein Blick fiel auf den Block und den Stift in meinen Händen und ich fragte mich kurz, wie viel er ohne die Brille eigentlich sah. Brauchte er sie nur zum Lesen?

»Schreiben Sie etwa mit?«, brachte er schockiert hervor und ich nickte, wusste nicht, ob es eine Beleidigung oder ein Lob darstellen sollte.

»Die Frage«, erinnerte ich ihn, als er nicht aufhörte, auf meine Hände zu starren und zunehmend verwirrt blinzelte. »Diese Suchmaschine? Wie muss ich mir das vorstellen? Ist es eine richtige Maschine? Steht sie hier in der Bibliothek?«, war ich an der Reihe, ihn mit Worten zu überfallen, und es schien ihm tatsächlich für einen kurzen Moment die Sprache verschlagen zu haben.

»Es ist eine richtige Maschine, Miss Crumb. Und sie steht hier im Gebäude. Um genau zu sein, ist sie direkt neben dem Raum, in dem Sie Ihren Mantel gelassen haben. Es wundert mich, dass sie Ihnen nicht aufgefallen ist«, fand er seine Sprache wieder und räusperte sich dann verhalten. »Aber dieses Thema werden wir zu einem späteren Zeitpunkt angehen. Sie werden vorerst mehr als genug zu tun haben.« Seine Stimme hatte unerwartet wieder diesen schroffen Ton angenommen und der kurze Augenblick an Menschlichkeit, den wir geteilt hatten, war schneller vorbei, als ich ihn hätte genießen können.

Mr Boyle hatte recht gehabt. Dieser Mann war wirklich kompliziert.

Wir liefen die Treppen zum Rundgang hinauf, einmal im Kreis herum und wieder nach unten, während Mr Reed mir unablässig die groben Vorgänge dieser Bibliothek erklärte und dabei so vage blieb, dass ich mir die Hälfte selbst zusammenreimen musste. Meine Liste wurde immer länger und mir wurde langsam klar, warum all die jungen Männer so schnell die Waffen gestreckt hatten. Es war einfach nicht zu schaffen. Nicht so viel in so wenig Zeit, und ich würde mich wahnsinnig anstrengen müssen, wenn ich wirklich vorhatte, meinen Wert zu beweisen.

Nach einiger Zeit, die mir vorkam wie Stunden und doch höchstens eine halbe gewesen sein konnte, entließ mich der Bibliothekar mit den Worten, ich solle mich an ihn wenden, wenn ich noch Fragen hätte, und dem klaren Befehl in seinem Blick, es ja nicht zu wagen, dieses Angebot zu häufig in Anspruch zu nehmen.

Er rauschte schließlich ab, seine Post unter den Arm geklemmt, die er unten am Tresen abgeholt hatte. Noch etwas, das in Zukunft meine Aufgabe sein würde. Ich sah ihm nach, wie er ohne sich umzudrehen in seinem Büro verschwand und stand nun unschlüssig in der Halle.

Eine gigantische Anzahl an Dingen war zu tun und ich fühlte mich von der schieren Masse so überwältigt, dass ich wie gelähmt war. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen? In was hatte mein Onkel mich nur hineinmanövriert?

Sicher bereute er selber bereits, dass er mich bei Mr Reed abgeliefert hatte. Sein Blick und das falsche Lächeln hatten ihn verraten. Was er zunächst für einen kleinen Spaß gehalten hatte, erwies sich durch Mr Reeds augenscheinliche Abneigung als höchst kompliziert und nun muss Onkel Alfred aufgegangen sein, was er seiner geliebten Nichte da eigentlich antat.

Doch es gab jetzt kein Zurück mehr. Zumindest nicht, wenn ich meine Ehre behalten wollte. Wenn ich so schnell aufgab, würde Mr Reed nur schnauben, »Ich hab es ja gewusst« murmeln und weiterhin auf Frauen herabsehen, als wäre sein Beamtenarsch etwas Besseres.

Außerdem war dies hier ein Traumland voller Bücher und ich musste zumindest die Gelegenheit finden, in ein paar hineinzuschmökern.

Unruhig durch die neue Verantwortung zog ich die Unterlippe zwischen die Zähne, was ich mir in der Öffentlichkeit oft verkniff, und drückte meinen Notizblock fester an meine Brust.

Ich würde es einfach angehen, meinen Ehrgeiz und meine Intelligenz nutzen, um mich ordentlich zu strukturieren, und dann wäre es sicher ein Klacks. Hoffte ich zumindest.

Eilig setzte ich mich an einen der Tische und besah mir all die Aufgaben, die zusammengekommen waren. Sie zu sortieren, fiel mir nicht schwer. Es gab die täglichen und diejenigen, die nur sporadisch vorkamen, und ich erstellte mir dann einen Tagesplan, um dem Ganzen eine Reihenfolge zu geben. Wichtige vor unwichtigeren, große wurden unterteilt in viele kleine.

Als ich fertig war, fühlte ich mich gleich viel besser, hatte einen ersten Überblick über meine Tätigkeiten und war bereit, es anzugehen. Ich verstaute den Notizblock in meiner Rocktasche und machte mich auf zu den zwei jungen Männern, die Mr Reed mir vorgestellt hatte und die am Tresen arbeiteten.

Sie hießen Cody und Oscar und musterten mich skeptisch, als ich auf sie zugelaufen kam.

»Guten Tag, die Herren«, grüßte ich freundlich und schaffte es in meinem Überschwang sogar zu lächeln. »Da Mr Reed ein schwer beschäftigter Mann zu sein scheint und ich noch so viel zu lernen habe, würde ich gerne Ihrer Arbeit ein wenig zusehen. Wäre das wohl möglich?«, formulierte ich höflich und sah in zwei verdatterte Gesichter. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als hätten die beiden mich nicht verstanden.

»Äm, klar, Miss. Wenn Sie das gern wollen«, antwortete Oscar flapsig und zuckte unbeholfen mit den Schultern, während er immer wieder zu Cody sah, als wollte er sich vergewissern, dass es in Ordnung war, was er sagte.

Obwohl die beiden ordentlich angezogen waren, ließ mich das Gefühl nicht mehr los, dass sie wohl nicht aus reichen Elternhäusern stammten und daher sicher auch keine sehr umfassende schulische und charakterliche Bildung genossen hatten. Vielleicht lag es an der Art, wie Oscar gesprochen hatte, vielleicht aber auch an Codys zurückgezogener Haltung, die ihn wie einen geprügelten Hund aussehen ließ.

Ich wusste nicht recht, wie ich damit umgehen sollte, zwang mein Lächeln zu bleiben, wo es war und trat hinter den Tresen, um mir das Ganze genauer anzusehen.

Der gesamte untere Bereich des Tresens war voller Schubladen, die nach dem Alphabet beschriftet waren.

Ein junger Mann mit hellblauer, teuer bestickter Weste kam mit drei Büchern unter dem Arm auf uns zu und legte sie vor Cody auf den Tresen.

»Mr Lassiter«, sprach Oscar ihn an, während Cody nur verschüchtert nach unten sah und die Schublade L öffnete. Es dauerte nur einen Moment, bis er eine längliche Karte aus schwerem Papier herauszog und sich von Oscar die Titel der Bücher diktieren ließ, die Mr Lassiter gewillt war zu entleihen.

Oscar öffnete jedes der Bücher am hinteren Deckel, nahm die dort befindlichen Zettel heraus und drückte mit einem Stempel das Rückgabedatum darauf.

Dieser Vorgang war mir bekannt und es tat gut, dass diese Bibliothek der meinen zu Hause doch nicht so unähnlich war.

Dann fiel Mr Lassiters Blick auf mich und das leicht ungeduldige Desinteresse, das er den beiden jungen Männern entgegengebracht hatte, verwandelte sich in Überraschung.

»Wer ist denn die Lady?«, fragte er und sprach damit keine bestimmte Person an, so als würde er die Frage an sich selbst richten. Seine Stimme war angenehm klar und doch so glatt, dass ich kein Interesse daran hatte, diesem Mann vorgestellt zu werden, da sie von Arroganz und einer unguten Verschlagenheit zeugte.

Er musterte mich so unverhohlen, dass ich mich für sein Betragen schämte und nicht anders konnte, als trotzig den Kopf zu heben und seinem unerhörten Blick standzuhalten.

»Sie wird die neue Bibliothekarsassistentin«, erklärte Oscar, der offensichtlich der Gesprächigere von den beiden Jungen war, und warf mir einen vielsagenden Blick zu, der von Unsicherheit bis Ungläubigkeit alles enthielt und mir sagte, dass er nicht daran glaubte, dass ich lange bleiben würde.

»Was? Wirklich?«, platzte es belustigt aus Mr Lassiter heraus, als hätte Oscar einen Witz gemacht, und er musste sich bemühen, seine Stimme gesenkt zu halten.

Mir wurde es langsam zu bunt. Ich war ja wohl kein Tier im Käfig. Sollte dieser eingebildete Kerl doch glauben, was er wollte. Innerlich schnaubend wandte ich mich mit einer schwungvollen Bewegung ab und trat aus dem U des Tresens hervor. Ohne den Mann anzusehen, ging ich an ihm vorbei, als er sich mir geschmeidig in den Weg schob.

»Sollte eine schöne Frau sich nicht lieber einen Ehemann suchen, als sich von einem Tyrannen wie Mr Reed herumscheuchen zu lassen?«, wollte er amüsiert von mir wissen und das Glitzern in seinen Augen verriet mir, dass er sich über mich lustig machte.

Mein erster Gedanke war, dass es für mich keinen Unterschied machte, ob der Tyrann mein Vorgesetzter oder mein Angetrauter war, doch ich sprach ihn nicht aus. »Das ist aber traurig«, sagte ich stattdessen und machte ein mitleidiges Gesicht. »Sie klingen so rückständig wie meine Mutter.« Und damit ließ ich ihn einfach stehen.

Ich fand in einem der Seitenflügel einen Raum, der wohl für viele meiner Arbeiten gedacht war, und ärgerte mich, dass Mr Reed nicht die Güte besessen hatte, mich darauf hinzuweisen, dass diese Kammer existierte. Sie war groß wie ein kleiner Salon, mit hohen Fenstern, die in den Park hinausgingen. Helle Regale und Aktenschränke standen an den Wänden, gefüllt mit Bücherkarteien, Aufzeichnungen über Buchbestellungen und Lieferungen und sämtlichen Verleihkarten ehemaliger Studenten, die jemals ein Buch aus diesen Hallen ausgeliehen hatten. Auf einem massiven Holztisch standen mehrere eigentümliche Maschinen, die ich aber schnell identifizieren konnte. Die eine war für die Prägung der Metallplättchen, die an die Buchrücken gehörten, und ich probierte mich an ihr, was leichter war als vermutet. Die zweite nietete die Plättchen an die Buchrücken und ich brauchte einen so immensen Kraftaufwand für den Hebel, dass ich mein ganzes Körpergewicht einsetzen musste, um ihn herunterzudrücken.

Im gleichen Zimmer fand ich auch eine ganze Reihe an hölzernen Platten, jeweils eine Handspanne hoch und breit, dünn wie eine Scheibe Wurst und mit zwei Löchern im oberen Bereich. Auch sie wurden geprägt mit Buchtitel, Autor, Standort des Buches und Schlagwörtern zum Inhalt. Doch leider war es für mich nicht ausreichend ersichtlich, wofür sie gedacht waren. Hatten sie vielleicht etwas mit der besagten Suchmaschine zu tun?

Auch die beschädigten Werke lagerten hier kreuz und quer und ohne jegliche Ordnung, sodass es mir beinahe schon leidtat um die armen Bücher.

Ich ging langsam alle Punkte meiner Liste durch, suchte nach den dazugehörigen Arbeitsbereichen innerhalb der Bibliothek und brachte Stunden damit zu, mich zurechtzufinden.

Die Zeit schritt voran und ich konnte auf der Standuhr, die im rechten Flügel zwischen Theologie und Philosophie an der Wand stand, ablesen, wie schnell.

Ich fühlte mich, als ob ich kaum vorankäme. Die zurückgegebenen Bücher stapelten sich wirr in mehreren Ständern neben dem Tresen im Foyer und obwohl es mir hätte leichtfallen sollen, sie zu sortieren, damit Cody oder auch Oscar sie gesammelt zurück in ihre Abteilungen bringen konnten, brauchte ich doch eine gefühlte Ewigkeit, weil meine Handgriffe so ungelenk waren.

Es entsprach nicht meiner Gewohnheit, so lang auf den Beinen zu sein, da ich mein bisheriges Leben damit verbracht hatte, auf bequemen Möbelstücken zu sitzen und zu lesen. Meine Waden schmerzten gegen Mittag so sehr, dass ich mich für einen Moment auf einen Stuhl im Lesesaal setzen musste. Meine Fußsohlen brannten, meine Knöchel waren sicher geschwollen, meine Arme taten weh und mein Kopf verlangte nach einer Pause.

Die Bibliothek begann sich zur Mittagspause langsam zu leeren und die Studenten stellten die Bücher, die sie nicht mehr benötigten, auf einen Wagen oder liehen sie aus.

Stöhnend erhob ich mich wieder auf meine wunden Füße und ging mit zügigen Schritten auf den Tresen im Foyer zu, an dem bereits reger Andrang herrschte. Cody und Oscar hatten alle Hände voll zu tun und viele genervte und müde Studenten warteten darauf, an die Reihe zu kommen.

Ein Stück entfernt stellte ich mich an den hohen Tresen und nahm ganz dreist einem jungen Mann mit weißblondem Haar das Buch aus der Hand.

»Guten Tag. Ihr Name?«, sprach ich ihn ruhig an und er blinzelte mich überrascht an.

»Higgins«, gab er zurück und ich öffnete die Schublade H, als ob ich den ganzen Tag nichts anderes getan hätte. Wenigstens etwas, was mir leichtfiel.

»Charles oder James?«, fragte ich, als ich zwei Karten mit dem gleichen Nachnamen fand, und der junge Mann lachte, was seine auffällig grünen Augen zum Strahlen brachte. »Charles. James ist mein Cousin«, erklärte er und ich zog die entsprechende Karte heraus. Ich nahm mir einen Füllfederhalter aus einem Keramikbecher und schrieb eilig den Titel und den Autor des Buches in die nächste freie Zeile.

Kurz besah ich mir die verschiedenen Handschriften auf dem Zettel, die zum größten Teil krakelig waren. Nur die letzten zwei Einträge waren wirklich gut lesbar und ich fragte mich, ob es Cody war, der so schön schreiben konnte.

»Sie sind neu«, merkte Mr Higgins freundlich an und ich nickte.

»Brandneu, heute Morgen geliefert«, erwiderte ich spaßhaft und er lachte verhalten.

Ich gab es zwar nicht gerne zu, aber ich musste doch sagen, dass einige Männer in London anscheinend weniger stumpfsinnig waren als die bei uns auf dem Land.

Ich drückte den Stempel hinten ins Buch und reichte es ihm.

»Auf Wiedersehen«, verabschiedete er sich höflich, deutete eine Verbeugung an und verschwand mit einem Lächeln auf den Lippen.

Der Nächste wartete schon und ich sah die Schlange, die sich bereits gebildet hatte.

»Zachary Bostick«, verriet er mir seinen Namen mit Ungeduld in der Stimme, noch bevor ich fragen konnte, und ich wusste, dass ich noch schneller werden musste.

Nachdem die Bibliothek endlich wie leer gefegt war, begann ich hinter den Studenten aufzuräumen. Ich legte Bücher weg, sortierte sie auf die Wagen, nahm eins mit in die Kammer, weil bereits mehrere Seiten ausgerissen waren, und notierte den Mangel auf einem kleinen Zettel, den ich in den Buchdeckel klemmte.

Stöhnend zog ich mir eine Holzkiste heran, in die noch mehr beschädigte Bücher achtlos hineingeworfen worden waren, und besah mir eins nach dem anderen. Zu jedem schrieb ich eine kurze Notiz und etwa fünfzig Bücher später verfluchte ich mein Leben, das einen so unglücklichen Lauf genommen hatte. Mein Rücken schmerzte, meine Arme noch mehr, und meine Füße pochten, auch wenn ich sie bereits hochgelegt hatte.

Gebrochener Buchrücken, lose Seiten im hinteren Teil, schrieb ich gerade und wünschte mich zurück nach Hause auf meinen Dachboden. Dort würde mir der Rücken nicht wehtun.

Ich legte das Buch ordentlich in die Kiste zurück und rieb mir dann die Augen.

Wenn ich jetzt zu Hause wäre, würde meine Mutter mir auf die Nerven gehen, wir würden Tee trinken und sie hätte mir schon von drei jungen Männern erzählt, die infrage kommen würden und die sie bisher nicht im Blick gehabt hatte.

Ich würde mit den Augen rollen, aber meinen Füßen würde es wunderbar gehen.

Ich blinzelte, versuchte, nicht mehr an zu Hause zu denken und ließ den Blick durch die Kammer schweifen. Zu meinem Erschrecken entdeckte ich weitere Holzkisten.

Ich hörte die unverwechselbare Melodie von Big Ben und zählte eine Stunde zu meinem Tag dazu. Es war sechs Uhr am Abend und ich mit meinen Nerven am Ende.

Mein Magen war ein tiefes Loch, da ich heute eigentlich noch nichts gegessen hatte. Meine Arme waren schwer wie Blei und meinen Kopf hielt ich nur noch durch reine Willenskraft aufrecht.

Ich war am Boden. Und bereits sogar so tief gesunken, dass ich mir in den letzten Stunden gewünscht hatte, meine Mutter würde mich einfach an irgendwen verschachern, nur damit ich nicht mehr hier stehen und Ordnung schaffen musste.

Ich wusste nicht, wie lange all die Arbeit schon liegen geblieben war, aber es musste schon eine beträchtliche Zeit sein, wenn sich so viel angesammelt hatte.

Die meisten beschädigten Bücher waren nun durchgesehen, in Kisten verpackt und verschnürt. Doch es waren bisher nur die beschädigten gewesen. Es standen mindestens noch zwei Kisten Neuware herum, von denen sich bisher keiner die Mühe gemacht hatte, sie in die Kartei aufzunehmen und zu etikettieren.

Von den Schlagwörtern mal ganz abgesehen.

Ich hatte die Rückgaben im Foyer sortiert, war durch die Regale gegangen, um verirrte Bücher ausfindig zu machen, hatte sicher dreißig Studenten bei der Suche nach bestimmten Werken geholfen und meine Finger waren voller Tintenflecken.

Seufzend rieb ich mir den Rücken, zog die Tür zur Kammer hinter mir zu und schlich über den langen Gang zwischen den Regalen bis in den Lesesaal.

Hier saßen noch etliche Studenten und wälzten ihre Bücher. Ich hatte heute so viel Papier zwischen den Fingern gehabt, dass meine Hände ganz trocken waren, und trotzdem sehnte ich mich nach meinem Sessel und einfach ein paar Zeilen, die nur mir gehören würden.

Heute Vormittag hatte ich diesen Ort noch in den Himmel gelobt, war erfüllt gewesen von der Atmosphäre, die hier herrschte. Doch jetzt, nach einem ganzen Tag Arbeit, war ich nicht mehr empfänglich für derlei Magisches und fühlte mich müde und stumpf.

»Sie sind noch hier?«, sprach mich jemand erstaunt an und ich war sogar zu erschöpft, um mich zu erschrecken.

Mr Reed stand vor mir, die Augenbrauen überrascht gehoben, ein geöffnetes Buch in den Händen.

Er hatte nicht viel gesagt und doch fühlte ich mich sofort angegriffen. Es war die Art, wie er die Worte hervorbrachte, so als erwartete er, dass ich mich schon längst davongestohlen hätte.

»Natürlich. Ich war den ganzen Tag hier und habe gearbeitet«, empörte ich mich schnippisch und pfiff auf einen höflichen Ton. Dieser Mann war schließlich auch nicht höflich, warum sollte ich es dann sein?

»Sie haben eine Mittagspause von halb zwölf bis ein Uhr und können um fünf nach Hause gehen«, erläuterte er mir und ich wäre ihm in diesem Moment gern ins Gesicht gesprungen.

»Und das teilen Sie mir erst jetzt mit?!«, gab ich fassungslos von mir, als mein Ärger ein Maß erreichte, in dem ich keinen Ausdruck mehr dafür fand.

»Ich habe Sie den halben Tag nicht gesehen. Ich dachte, Sie hätten schon aufgegeben«, behauptete Mr Reed ruhig und als würde er gar nicht bemerken, wie aufgelöst ich war.

»Ich war in der Kammer und habe beschädigte Bücher sortiert. Die sich übrigens ganz schön angesammelt haben und die Sie gerne an den Buchmacher schicken dürfen«, zischte ich und wusste, dass mein Gesicht bereits dunkelrot und heiß sein musste von der Wut, die ich auf diesen Mann hatte.

Zum Glück war mein Korsett nicht besonders eng geschnürt, sonst hätte ich jetzt sicher angefangen, nach Atem zu ringen.

»Was?«, gab Mr Reed leicht lachend von sich. »Und mehr haben Sie in all der Zeit nicht geschafft?«

Er machte sich über mich lustig, ich konnte es sehen, fühlen, wahrscheinlich sogar riechen und war den Tränen nahe, die ich nur durch äußerste Bemühung zurückhielt.

Und eins wurde mir in diesem Moment überdeutlich. Ich hasste diesen Mann aus vollem Herzen.

Animant Crumbs Staubchronik

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