Читать книгу Animant Crumbs Staubchronik - Lin Rina - Страница 11
Das Fünfte oder das, in dem ich blieb.
ОглавлениеEs war genau sieben Uhr neunundzwanzig und ich stand vor der geschlossenen Tür der Royal University Library. Der Morgen war kalt, noch kälter als gestern, und ich hatte mir einen wärmeren Mantel angezogen. Meine Finger waren eisig, obwohl ich Handschuhe trug, und ich holte zittrig Luft.
Wenn man mich gefragt hätte, was mich dazu bewogen hatte, heute Morgen wieder hierherzukommen, ich hätte keine Antwort gehabt.
Mein Onkel war nicht zu Hause gewesen, als mir Mr Dolls, der Butler, die Tür geöffnet hatte. Tante Lillian sagte mir, dass er wohl erst morgen Abend wieder da sein würde und ich schimpfte ihn innerlich einen Feigling, weil er sich so der Auseinandersetzung mit meinem noch frisch entfachten Zorn entzog.
Meine Beine zitterten, als mich meine Tante zum Abendessen nötigte und ich verschlang ganz undamenhaft eine ganze Lammkeule, fünf große Kartoffeln und zwei Schokoladenpudding mit Schlagsahne.
Sie fragte mich, wie es mir in der Bibliothek ergangen war, und ich hatte nichts darauf erwidert.
Unruhig hatte ich mich die halbe Nacht herumgewälzt und die andere Hälfte schlecht geträumt, nur um schließlich um sechs in der Früh hellwach im Bett zu sitzen und mich zu fragen, was ich nun tun sollte.
Wollte ich mir das heute wirklich noch einmal antun?
Ich konnte einfach im Bett bleiben, sagen, dass das alles nichts für mich war und wieder in mein Provinznest zurückkehren. Ich würde einfach alles hinschmeißen und Mr Reed würde weiterhin schlecht von mir denken. Doch was gab ich schon auf die Meinung eines unhöflichen Mannes, der Spaß daran hatte, andere Menschen mit Arbeit zu überfordern, um dabei zuzusehen, wie sie unter der Last zusammenbrachen.
Außerdem würde es zu Hause niemand wissen. Meine Eltern hatten Stillschweigen darüber bewahrt, dass ich vorhatte zu arbeiten, und niemand würde mich je wieder darauf ansprechen.
Außer meiner Mutter vielleicht.
Das klang in meinem Kopf alles fantastisch und doch hatten sich meine Beine aus dem Bett bewegt. Ich hatte mich gewaschen und angezogen und war noch vor Tante Lillian im Esszimmer eingetroffen, um ein schnelles Frühstück zu mir zu nehmen.
Meine Tante hatte mich gefragt, ob ich mir sicher wäre; ich hatte nur schmal gelächelt und nach meinem dickeren Mantel verlangt.
Und jetzt stand ich hier, frierend, unentschlossen und wartete darauf, dass die Türen sich öffneten.
Ich war nur wenigen Menschen begegnet und fühlte mich in dem Vorurteil bestätigt, dass das Studentenleben immer erst nach neun Uhr am Morgen begann.
Eine graue Gestalt kam durch den dünnen Nebel. Mit großen Schritten, den Kragen hochgeschlagen und einen dicken Schal um den Hals, kam Mr Reed durch den morgendlichen Dunst auf mich zu, die Augen auf den Boden gerichtet, die Gedanken ganz weit weg.
Er bog auf den Weg zur Bibliothek ein und kramte in seiner Manteltasche nach einem Schlüsselbund, bevor er den Blick hob und wie angewurzelt stehen blieb.
»Guten Morgen, Mr Reed«, sagte ich aus dem Zwang heraus, höflich zu sein, und verkniff mir, von einem Bein auf das andere zu treten, um mich warm zu halten. Ich wollte schließlich nicht wie ein zappeliges Kind aussehen.
Meine Wut gegenüber diesem Mann war inzwischen verraucht und obwohl ich ihn immer noch nicht besser leiden konnte, fiel es mir schwer, ihn so inbrünstig zu hassen wie noch einen Tag zuvor.
»Miss Crumb«, kam es überrascht aus seinem Mund, als wäre ich heute Nacht von fliegenden Piraten verschleppt worden und durch ein Wunder wieder hier vor die Tür der Bibliothek geraten. »Sie sind hier«, fügte er hinzu und ich entschied, es zu handhaben wie bei meiner Mutter und mich absichtlich unwissend zu stellen.
»Es ist sieben Uhr dreißig. Wo sollte ich sonst sein?«, gab ich also zurück und behielt meinen neutralen Gesichtsausdruck bei.
Mr Reed nickte und setzte sich wieder in Bewegung. Während die Schlüssel beim Aufschließen gegeneinanderklirrten, lag sein Blick prüfend auf mir und ich bemühte mich, ihn nicht anzusehen und richtete meinen Blick stattdessen möglichst gelangweilt auf die Tür.
»Sie sind einer von sechs, die am nächsten Tag wiedergekommen sind«, meinte er plötzlich und ich wandte ihm meinen Blick zu.
Ich hob nur unbeeindruckt die Augenbrauen, auch wenn ich gern laut geschnaubt hätte. Es wunderte mich gar nicht, dass sie nicht wiederkamen, wenn sie von ihm so behandelt wurden wie ich. »Von wie vielen insgesamt?«, fragte ich und die Tür schwang auf.
»Fünfundzwanzig«, antwortete Mr Reed mir und machte eine Geste mit der Hand, die mir bedeutete, als Erste ins warme Innere des Gebäudes zu treten.
Ich raffte meine Röcke und stieg die kleine Stufe hinauf ins Foyer. Das war die erste höfliche Geste gewesen, die Mr Reed mir gegenüber gezeigt hatte, und es überraschte mich, da ich ihm allgemeine Höflichkeit bereits abgesprochen hatte.
Gerne hätte ich zu ihm gesagt, dass es mich nicht wunderte, dass die neunzehn anderen nicht wiedergekommen waren, doch da war Mr Reed auch schon an mir vorbei und lief mit großen Schritten auf die Treppe zu, die seinem Büro am nächsten war.
»Kommen Sie, Miss Crumb. Keine Müdigkeit vortäuschen!«, rief er mir zu und es hörte sich seltsam an, wie der Klang seiner Stimme durch den runden Lesesaal hallte. Es kam dem Entweihen einer Kirche gleich, in einer Bibliothek die Stimme zu heben, ungeachtet dessen, dass außer uns niemand hier war.
Ich blinzelte, nahm mir vor, in Zukunft schneller mit meinen Antworten zu sein und ging trotz Aufforderung nur so zügig, wie es sich für eine Dame gehörte.
Ich stieg die Treppen hinauf, kam an Mr Reeds Bürotür vorbei, hinter der ein Geräusch ertönte, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Ein lautes Fluchen folgte und ich machte mich eilig daran, meinen Mantel im Nebenraum abzulegen.
Gerade kam ich wieder heraus, da stand Mr Reed auch schon vor mir. Er trug einen dunkelbraunen Anzug und eine hellere Weste zu einem beigefarbenen Hemd. Es stand ihm gut und betonte die dunkle Farbe seiner Augen.
»Hier«, sagte er und hielt mir einen kleinen Seidenbeutel hin. »Zwei Schilling bekommt der Zeitungsjunge und keinen Penny mehr. Lassen Sie sich nicht von ihm abziehen«, wies er mich an und ich nahm den Beutel entgegen. Er war schwer und ich schob ihn mir in die Rocktasche, aus der ich im gleichen Zug Notizblock und Bleistift herauszog.
2 Schilling, schrieb ich hinter den Punkt mit den Zeitungen auf meiner Liste und lief dabei Mr Reed hinterher, der zurück zur Treppe ging.
»Mr Reed, eine Frage«, sprach ich ihn an, gerade als er die ersten paar Stufen genommen hatte. Er machte auf dem Absatz kehrt und sah mich durchdringend an.
Es war ein komisches Gefühl, auf ihn herabzusehen, obwohl er es scheinbar gar nicht bemerkte.
Ein ungeduldiges Zucken seiner Augenbrauen war die einzige Aufforderung, die ich bekam.
»Wo befindet sich das Archiv und wie finde ich dort den Platz, an den die alten Zeitungen gehören?«, wollte ich wissen und Mr Reeds Gesicht bewegte sich kaum.
»Das waren aber zwei Fragen«, gab er altklug von sich und ich kniff die Lippen zusammen. Meine Laune, die ich bisher recht neutral gehalten hatte, begann sich zu verschlechtern.
»Mein Fehler«, gab ich also zu und zwang mich, die Mundwinkel zu heben, um meine Gefühle zu verbergen.
Mr Reed nickte nur, wandte sich wieder von mir ab und nahm die restlichen Stufen. »Im Westflügel gibt es weiter hinten einen Durchgang, der zu einer Treppe führt«, erklärte er und wies nachlässig nach rechts durch die hohen Türen. »Nehmen Sie sich einfach ein bisschen Zeit und sehen sich dort unten um. Sie scheinen ja sowieso für alles ein bisschen länger zu brauchen«, spottete er über mich, ohne sich noch mal zu mir umzudrehen, verschwand unter dem Rundgang und so auch aus meinem Blickfeld. Ich stand immer noch am oberen Ende der Treppe und ballte meine Fäuste so fest, dass ich in einer Hand den Notizblock zerquetschte.
Das war jetzt mehr als nur bloße Unhöflichkeit. Das war eine Beleidigung gewesen und ich wäre diesem Mann nur zu gern hinterhergerannt und hätte ihm irgendwas an den Kopf geworfen. Worte möglicherweise. Aber am liebsten ein Buch oder einen großen Stein.
Doch ich zwang mich stattdessen tief durchzuatmen, strich die Seiten meines Blocks wieder glatt und stieg, den Kopf würdevoll nach oben gereckt, die Stufen nach unten.
Mr Reed stand nahe der Treppe an einem Regal, fuhr mit dem Zeigefinger über die Buchrücken und zog dann eins heraus. Er klemmte es sich unter den Arm und suchte ein weiteres.
Ich blieb nicht stehen, um ihn zu beobachten, ich hatte meine Arbeit zu erledigen. Und nur, weil ich noch nicht so routiniert war und einen Hang zur Gründlichkeit hatte, brauchte dieser hochnäsige Mensch sich gar nicht anmaßen, sich über mich lustig zu machen.
Ich lief zu dem Ständer mit den Zeitungen, nahm alle heraus, die täglich erschienen, und stemmte mich gegen den Schraubverschluss der hölzernen Einspannungen. Sie waren so fest zugedreht, dass mir schon nach dem dritten die Finger schmerzten, doch ich blieb dran, versuchte es mir nicht anmerken zu lassen und stapelte die Zeitungen neben mir auf einem Hocker, der an der Wand gestanden hatte.
Nachdem ich fast fertig war, kam ein Junge in die Bibliothek geschlurft. Er war vielleicht gerade mal zehn, hatte eine viel zu große Jacke an und die Mütze auf seinem Kopf rutschte ihm ständig in die Augen. Unter dem Arm trug er einen Stapel Zeitungen und lief damit schnurstracks auf den Tresen zu. Mit einem dumpfen Geräusch landete das bedruckte Papier auf der Tischplatte. Ich ging ihm entgegen und als er sich die Mütze vom Kopf gezogen hatte, blickten seine Augen in meine Richtung. Rote Haare standen unordentlich von seinem Kopf ab, seine Wangen waren von der Kälte gerötet und Millionen kleiner Sommersprossen zierten sein Gesicht.
»Guten Morgen«, grüßte ich leise und zog den seidenen Beutel aus meiner Rocktasche.
»Morgen«, nuschelte der Junge und musterte mich unverhohlen von oben bis unten. »Sie sind aber ’ne schicke Maus«, sagte er mit dem Ton eines Seemanns in der Stimme und zwinkerte mir selbstgefällig mit einem Auge zu.
Ich hielt die Luft an.
Gut, dass meine Wut auf Mr Reed noch ganz frisch war und ich gegenüber einem ungewaschenen, übermütigen Straßenburschen keinerlei Scheu hatte, diese Wut auch zu zeigen.
»Erstens ist mein Name Miss Crumb!«, kam es so scharf aus meinem Mund geschossen, dass dem Jungen dabei das Grinsen auf der Stelle verging. »Zweitens wirst du in Zukunft weder unhöflich noch unverschämt sein. Solltest du also jemals wieder auf die dumme Idee kommen, mich nach einem Nagetier zu benennen, werde ich dich an einem Ohr hier rauszerren und dafür Sorge tragen, dass sich ein anderer Junge mit besseren Umgangsformen für deine Arbeit findet.«
Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren und seine Augen, die mir gerade noch so unverblümt entgegengestarrt hatten, senkten sich auf seine schäbigen Schuhspitzen.
»Hast du mich verstanden?«, forderte ich ihn auf, mich zu bestätigen, und stellte mit Befriedigung fest, wie er nervös seine Mütze zwischen den Fingern knetete.
»Ja, Ma’am«, kam es kleinlaut aus seinem Mund und ich atmete einmal tief durch, ehe ich den Seidenbeutel öffnete und zwei Schilling herausnahm.
»Mr Reed sagte, du bekommst zwei Schilling«, eröffnete ich ihm und er nickte zaghaft. Ich hielt ihm die Münzen hin, er nahm sie zögerlich entgegen und versenkte sie in seiner Jackentasche.
»Danke, Ma’am«, nuschelte er und räusperte sich dann. Sein Blick huschte umher, weil er nicht wusste, wohin er schauen sollte, und dann holte er tief Luft. »Darf ich jetzt gehen?«, wollte er wissen und ich war von mir selbst beeindruckt.
Ich hatte nie viel mit Kindern zu tun gehabt. Seit ich selbst keins mehr war, waren sie mir uninteressant und strapazierten lediglich meine Nerven.
Daher hätte ich auch nie von mir gedacht, dass ich dazu fähig war, einem von ihnen Respekt einzuflößen.
Meine Mutter hatte meine dunklen Röcke oft als Kluft einer Gouvernante geschimpft. Vielleicht hatte sie damit gar nicht so unrecht.
»Ja, nachdem du dich verbeugt und mir einen Guten Tag gewünscht hast, wie es sich in Gegenwart einer Dame gehört«, forderte ich und fragte mich, ob es nicht langsam zu viel des Guten war. Doch wahrscheinlich würde er es sonst nirgendwo anders zu hören bekommen und ein paar gute Umgangsformen zu besitzen, hatte noch niemandem geschadet.
Der Junge folgte meinen Anweisungen, verbeugte sich so ungelenk, als würde er es das erste Mal tun, wünschte leise einen Guten Tag und rannte dann so schnell davon, dass seine Schritte unangenehm laut durch das ganze Foyer hallten.
Jetzt ging es mir besser. Ich hatte meinem Ärger Luft gemacht, fühlte mich befreit und hatte auch meine Schlagfertigkeit wiedergefunden. Nun musste ich diesen Zustand nur beibehalten.
Beschwingt nahm ich die Zeitungen vom Tresen und versuchte darauf zu achten, die Manschetten meiner cremefarbenen Bluse nicht mit Druckerschwärze zu versauen.
»Tja«, machte eine tiefe Stimme hinter mir und ich schaffte es, nicht zusammenzuzucken, obwohl mein Herz einen gewaltigen Satz machte. »Bei Ihnen möchte ich kein Schüler sein, Miss Crumb«, meinte Mr Reed fast tadelnd und ich drehte mich mit einem Mal zu ihm um.
Ich sah nicht sonderlich elegant aus mit dem Stapel Papier auf dem Arm, aber wenigstens fiel mir sofort etwas ein, was ich ihm antworten konnte.
»Vielleicht hätten Ihre Manieren das aber nötig«, gab ich schroff zurück, strafte ihn mit einem kurzen, strengen Blick, machte einen höflichen Knicks und ließ ihn dann mit den Büchern zurück, die er auf dem Tresen abgelegt hatte.
Ihm schien so schnell wohl nichts Passendes eingefallen zu sein, denn er sah mir nur überrascht hinterher und ich machte mich nun gut gelaunt daran, die neuen Zeitungen in die Holzverspannungen einzufädeln.
Jetzt fühlte ich mich voller Tatendrang, stellte die Zeitungen in den Ständer zurück und schnappte mir die alten, um einen Blick ins Archiv zu werfen.
Es tat gut, Kontra zu geben, den Ärger nicht immer runterzuschlucken und ich fühlte mich beinahe euphorisch.
Jedoch schwand meine Hochstimmung sehr schnell wieder, als ich die steinernen Treppenstufen nach unten ins Archiv stieg. Ich trug eine Laterne bei mir, die ich oben an einem Haken gefunden hatte, und trotzdem wurde das Licht scheinbar von den Wänden verschluckt und verwandelte alles in düstere, tanzende Schatten.
Die Treppe endete so abrupt, dass ich in Erwartung weiterer Stufen beinahe hingefallen wäre. Es war ein ekliges Gefühl, mit vor Schreck rasendem Herzen im Halbdunkel zu stehen und kein anderes Geräusch zu hören als den eigenen Atem.
Ich räusperte mich, richtete mich auf und hielt die Laterne in die Luft. Vor mir führte ein Türbogen in ein weites Gewölbe und ich schlich vorwärts, die alten Zeitungen an meine Brust gepresst, in der beständigen Hoffnung, hier unten niemandem zu begegnen. Denn eine Person, die aus den Schatten auftauchte, würde mein Herz nicht verkraften.
Ein gespenstischer Luftzug bewegte meinen Rock, streichelte meine Wange und ich quietschte erschrocken auf, obwohl gar nichts geschehen war. Ich verspürte den Drang, mich zu bekreuzigen, um das Böse abzuwehren, obgleich ich eine Frau der Wissenschaft war und an böse Geister überhaupt nicht glaubte. Leider hatte ich die Hände voll und zwang mich selbst, weiter in den stockfinsteren Raum zu treten.
Sei nicht so ein Angsthase, ermahnte ich mich und traute mich doch nicht, einen Mucks zu machen.
Ich versuchte die Laterne weiter vor mich zu halten, um besser sehen zu können, als das Licht sich plötzlich in einem glatten Gegenstand brach und für einen winzigen Moment ein riesiger Raum voller Schränke erschien, der gleich wieder im Nichts versank, als ich mit der Hand zurückzuckte.
Was war denn das gewesen?
Langsam streckte ich die Laterne wieder nach vorne. Neben mir an der Wand stand ein Tischchen mit einem Spiegel, ähnlich einer Frisierkommode, in dessen Mitte eine Laterne stand. Ich nahm sie herunter und stellte stattdessen meine eigene dorthin. Sofort erhellte sich das gesamte Gewölbe in schummrigem Licht.
Gegenüber meiner Laterne war ein zweiter Spiegel an der Wand, der das Licht wiedergab, und diesem gegenüber wieder einer mit demselben Effekt. Es führte sich fort bis in den hintersten Winkel des Archivs. Von Spiegel zu Spiegel, erleuchtet von nur einer einzigen Laterne.
Ich war fasziniert und schockiert gleichermaßen, und leider tröstete mich diese außergewöhnliche Entdeckung nicht über das Unwohlsein hinweg, das ich in diesen Gemäuern verspürte.
Ein leichter Zug lag in der Luft, die so trocken war, dass mir das Schlucken nach wenigen Augenblicken schon schwerfiel.
Ich ließ die Laterne auf dem Tischchen und wagte mich langsam weiter in den Raum. Die Schränke standen in langen Gängen, Rücken an Rücken und sie alle waren mit metallenen Schildern beschriftet.
Der Schrank für die Zeitungen war weit vorne. Als ich diesen öffnete, fand ich mehrere Kisten, für jedes Zeitungshaus eine. Ich beeilte mich, die richtigen Kisten für meine im Stapel befindlichen Papiere zu finden und schloss den Schrank wieder.
Furchtsam schreckte ich zusammen, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, wich zurück und stieß mit dem Rücken gegen einen der Schränke, in dem es laut schepperte. Mein Herz schlug so heftig gegen meine Rippen, dass es wehtat. Es dauerte aber nur einen Moment, bis ich erkannte, dass ich mich vor meinem eigenen Spiegelbild erschreckt hatte, das geisterhaft in einer Vitrine schimmerte.
Ich musste hier raus. Und zwar schnell. Mit eiligen Schritten lief ich in den Gang zurück und zu meiner Laterne, die mir den Weg zur Treppe erleuchtete. Ungelenk nahm ich sie von ihrem Platz auf dem Tischchen und sofort stürzte sich hinter mir wieder alles in Dunkelheit.
Eine fiese Gänsehaut zog sich über meinen ganzen Körper, ich rannte so schnell mein Rock es zuließ die Treppenstufen wieder nach oben und versuchte, nicht an die Schatten zu denken, die von unten nach mir zu greifen schienen.
Viel zu hastig schob ich die Tür am oberen Ende der Treppe hinter mir zu und lehnte mich mit dem Rücken dagegen, um wieder zu Atem zu kommen. Dieses Archiv war der wahrhaftig gruseligste Ort, an dem ich je gewesen war, und ich wollte mir gar nicht vorstellen, dass ich zukünftig jeden Tag da runtermusste.
Ich atmete tief ein, löste meine verkrampften Finger um den Laternengriff und blies schlussendlich sogar die Kerze darin aus. Die Vormittagssonne schien durch die hohen Fenster auf den steinernen Boden und vertrieb die Gänsehaut von meinen Armen.
Meine Bluse war voller Druckerschwärze. Na wunderbar.
Stunden saß ich daran, die Kisten mit den Neuerscheinungen auszupacken und für jedes Buch eine Eintragung im Register zu erstellen, die Titel, Autor, Thema, Erscheinungsdatum, Herkunft und Nachbestellungsinformationen beinhaltete.
Als Big Ben elf Uhr schlug, fühlte ich mich bereits erschlagen und sah mich doch einer Unzahl Bücher gegenüber, die ich noch nicht mal ausgepackt hatte.
Was hatten denn die vierundzwanzig vor mir gemacht? Nur herumgesessen und Däumchen gedreht? Es konnte doch nicht sein, dass so viel liegen bleiben konnte und sich niemand darum kümmerte.
Meine Finger waren voller Tinte, meine Ärmel bedeckt mit dunklen Flecken, die sich nicht hatten rausklopfen lassen, und eine Haarsträhne klebte mir verschwitzt im Nacken. Mein Rücken tat weh und ich beschloss, später weiterzumachen und erst einmal die Rückgabe vorzusortieren.
Am Tresen fand ich Oscar, allein. Nachdem ich mich vorsichtig erkundigt hatte, erfuhr ich, dass Cody morgen wieder da sei und dass sie nur montags und freitags zu zweit waren.
Dankend lächelte ich ihm zu, worauf er die Augen verlegen zu Boden schlug, und um ihn nicht weiter in Verlegenheit zu bringen, begann ich ohne ein weiteres Wort das Sortieren der Bücher. Ich war schneller als gestern und als der große Ansturm vor der Mittagspause begann, war ich bereits fertig. Wahrscheinlich war es aber auch der Tatsache geschuldet, dass sich seit gestern nicht so viel angesammelt hatte.
Ich half Oscar beim Verleihen der Bücher, fragte nach Namen, schrieb Buchtitel auf und dann hörte ich plötzlich einen Namen, der mir so bekannt vorkam, als sei es mein eigener.
»Henry Crumb«, sagte der Mann vor mir, den ich erst ansah, als er mir sein Buch reichte, und mir entfuhr ein leicht hysterisches Quieken.
»Henry!«, rief ich viel zu laut und wäre meinem Bruder am liebsten um den Hals gefallen. Doch wir waren in der Öffentlichkeit, ich hatte zu arbeiten und ein Tresen stand zwischen uns.
»Wann hast du Pause?«, wollte er schnell wissen und ich schaffte es kaum, meinen Blick von ihm abzuwenden, um in der Schublade C nach seinem Namen zu suchen.
»Halb zwölf«, informierte ich ihn und Henry lachte.
»Also vor fünf Minuten«, gab er zurück und mein Blick fuhr herum zu der Uhr, die schräg über uns wie in einem Bahnhof von der Decke hing.
»Oh, ja«, stellte ich fest und Oscar hinter mir schnaubte.
»Schreiben Sie das Buch auf und gehen Sie. Ich schaff das hier«, sagte er mürrisch und doch war sein Unterton nicht abfällig.
Ich zog Henrys Karte heraus, notierte das Buch und schob sie wieder zurück.
»Danke«, flüsterte ich Oscar zu und ich könnte schwören, einen Hauch Rosa auf seinen Wangen schimmern gesehen zu haben.
Eilig lief ich nach oben, um meinen Mantel zu holen, und hakte mich dann bei Henry unter, der mir den Arm anbot.
»Tante Lillian hat mir geschrieben, dass du da bist. Es ist so verrückt. Ich dachte, sie hätte sich verschrieben, als ich gelesen habe, dass du in der Bibliothek arbeiten sollst«, eröffnete Henry mir, während wir die Stufe nach draußen überwanden und den gepflasterten Weg entlangschlenderten.
Seit Henry hier in London Rechtswissenschaft studierte, hatte ich ihn nur noch zu den Feiertagen und zu Mutters Geburtstag zu Gesicht bekommen. Und da er auch immer viel zu tun hatte, waren seine Briefe mit der Zeit immer kürzer geworden.
Ich betrachtete ihn von der Seite und stellte überrascht einige Veränderungen an ihm fest. Er trug sein dunkelblondes Haar nun etwas länger, seine Koteletten waren verschwunden und der Schnauzer, den ich schon immer für albern gehalten hatte, auch.
»Sagen wir, ich wusste nicht, worauf ich mich einlasse, als Onkel Alfred und Vater mich überredet haben. Aber Mutter hat mir damit gedroht, mich mit dem langweiligen Mr Michels zu verloben, wenn ich nicht bald von meinem Dachboden komme«, witzelte ich, obwohl es nicht einmal zur Hälfte als Witz gemeint war. Henry lachte und doch war sein Blick ernst geblieben.
»Mr Michels, wirklich?«, wollte er skeptisch wissen und hob die Augenbrauen. »Der popelt in der Nase, wenn er sich unbeobachtet fühlt«, bestätigte Henry mich und nun musste ich wirklich lachen. »Hast du Hunger?«, wollte er von mir wissen und ich nickte eifrig. Denn ich hatte wirklich einen Bärenhunger.
Henry führte mich in die Cafeteria der Universität, die im letzten Jahrhundert eine Orangerie gewesen war. Da das Wetter draußen grau war, wurde der Saal durch warmes Laternenlicht erhellt und schuf so trotz der Größe eine heimelige Atmosphäre. Der Geruch von gebackenen Kartoffeln hing in der Luft und mir lief das Wasser bereits im Mund zusammen, noch bevor wir uns ein deftiges Mittagessen, Tee und zwei Stück Kuchen besorgen konnten.
»Und? Wie machst du dich bisher so als Bibliothekarsassistentin?«, erkundigte sich Henry süffisant, als wir uns an einen der unendlich vielen Tische setzten, und ich seufzte laut. Doch wenigstens machte es mir nichts aus, ihm gegenüber ehrlich zu sein.
Henry verstand mich. Er hatte mich schon immer verstanden und ich wandte mich schon seit wir Kinder waren in allen Problemen vorrangig an ihn. Er war ein verständiger, fröhlicher und sanftmütiger Mensch, der mich immer ernst genommen hatte und auf den ich mich voll und ganz verlassen konnte. So wie er sich auf mich.
»Ich glaube, nicht so gut. Es ist unglaublich viel zu tun und ich komme zu langsam voran. Hunderte Bücher liegen herum und keiner hat sich um sie gekümmert. Alles ist so groß, dass mir die Füße wehtun, wenn ich einmal hin und her gelaufen bin. Und zu allem anderen bin ich noch gar nicht gekommen«, gestand ich.
»Dann mach doch einfach langsam. Es ist dein zweiter Tag, Ani. Du setzt dich zu sehr unter Druck«, riet Henry mir und ich sackte in mich zusammen, so gut das mit Korsett eben möglich war.
»Du hast leicht reden. Du hast ja auch nicht den Teufel im Nacken, der nur darauf wartet, dass du versagst, damit er sich über dich lustig machen kann«, schimpfte ich, nahm meine Gabel zur Hand und begann zu essen. Essen war gut, Essen beruhigte mich.
»Du meinst Mr Reed?«, lachte Henry und ich sah ihm an, dass er sich zusammenreißen musste, um nicht noch lauter zu lachen.
»Natürlich, wen sonst?«, blaffte ich und pickte mir ein Stück Truthahn aus dem Krautsalat. »Er ist dreist und vorlaut und von Höflichkeit hat er auch noch nie etwas gehört. Er behandelt mich, als ob ich sowieso gleich versagen würde und ich es nicht wert wäre, dass er überhaupt das Wort an mich richtet«, schimpfte ich leise weiter und Henry versteckte sein Lachen hinter seiner Hand.
»Du lässt kein gutes Haar an ihm, was?«, meinte er und ich zuckte mit den Schultern.
»Warum auch? Soweit ich gehört habe, kann niemand ihn ausstehen.« Es schüttelte mich innerlich, wenn ich an ihn dachte, wie er auf mich herabsah und so tat, als ob ich nur nett herumsitzen würde, anstatt zu arbeiten.
»Ich mag ihn«, sagte Henry plötzlich und mir fiel vor Schreck die Kartoffel von der Gabel. Ich sah ihm in die blauen Augen, um sicherzugehen, dass er mich auch nicht auf den Arm nahm, und konnte darauf einfach nichts erwidern.
»Schau mich nicht so an, Ani. Er ist keine Höllenkreatur«, fuhr er fort und ich hätte ihm gerne widersprochen, wäre meine Stimme wieder bei mir gewesen. »Er macht es dir nicht aus Bosheit so schwer, sondern um dir die Gelegenheit zu geben, es allein zu schaffen, ohne Hilfe, wie ein erwachsener Mensch.«
»Sag das nicht so, als ob ich noch ein Kind wäre«, grummelte ich.
»Dann benimm dich auch nicht wie eins!«, warf er mir an den Kopf und stellte seinen Tee wieder ab. »Hör auf zu meckern, tu, was du kannst und alles andere wird sich schon fügen. Wenn du dich provozieren lässt, ist das nur ein Zeichen dafür, dass du dich nicht beherrschen kannst. Und dann wirst du auch weiter wie ein Kind behandelt werden.«
Mühsam schluckte ich gegen den Kloß an, der sich in meinem Hals bildete und mir signalisierte, dass ich mir eigentlich bewusst war, dass Henry recht hatte. Ich musste aufhören, wild um mich zu schlagen, und anfangen, die Dinge zu tun, weil ich es wollte und nicht, um Mr Reed oder meiner Mutter eins auszuwischen.
Aber das war leichter gesagt als getan.
Zumindest hatte Henry mir die Augen geöffnet und mir endlich einen guten Grund gegeben, zu bleiben. Und zwar um meinetwillen und nicht, um jemand anderem etwas zu beweisen.
»Ani.« Sein Blick wurde versöhnlicher. »Du schaffst das.«
Ich nickte, schob meinen Teller zur Seite, von dem ich nur ein paar Bissen gegessen hatte, und machte mich über das Stück Kuchen her. Schließlich war ich erwachsen. Erwachsene durften auch entscheiden, den Kuchen zuerst zu essen.
»Außerdem geratet ihr beide euch nur so sehr in die Hörner, weil ihr euch ziemlich ähnlich seid«, behauptete Henry plötzlich und ich verschluckte mich.
»Bitte was?!«, zischte ich scharf und konnte nur knapp verhindern, dass mir der Kuchen wieder aus dem Mund fiel. »Ganz bestimmt nicht. Hast du nicht gehört, wie ich sagte, er sei dreist und vorlaut und ohne eine Spur von Höflichkeit?«, empörte ich mich, nachdem ich geschluckt hatte, und in Henrys Augen kehrte das Lächeln zurück. Anstatt zu antworten, hob er nur vielsagend eine Augenbraue.
»Ich bin nicht dreist und vorlaut«, wiederholte ich. Henry begann stumm zu essen, womit er mich nur noch mehr verhöhnte.
»Da sagt Mutter aber was anderes«, erwiderte er und ich hörte die nur schwer zu versteckende Belustigung in seiner Stimme, die mich ärgerte.
Denn er hatte schon wieder recht. Mutter beschwerte sich ständig darüber, dass ich im richtigen Moment nicht den Mund hielt und immer alles besser wusste.
»Aber ich bin höflich«, versuchte ich es irgendwie noch zu retten. Henry nickte.
»Na ja. Du meinst, du versteckst deine Unhöflichkeit besser als er«, kommentierte er amüsiert und ich starrte ihn erbost nieder. Das von meinem eigenen Bruder zu hören, traf mich härter, als ich gedacht hätte, und ich wusste nicht, ob ich es verkraften konnte, ihm in diesem Punkt ebenfalls recht zu geben.