Читать книгу Animant Crumbs Staubchronik - Lin Rina - Страница 9
Das Dritte oder das, in dem ich mein Herz verlieren würde.
ОглавлениеDer Morgen war so eisig, dass mir die kalte Luft unter den Reifrock zog und mir die Beine schlotterten, obwohl ich meine langen Wollstrümpfe trug.
Der Himmel war wolkenverhangen und blieb düster, auch nachdem die Sonne aufgegangen war.
Nach der Morgentoilette hatte Tante Lillian mir beim Anziehen geholfen, da ich zu nervös gewesen war, um auch nur einen Knopf mit meinen zittrigen Fingern zu schließen. Ich trug eine einfache cremefarbene Bluse aus Baumwolle und einen dunklen karierten Rock aus schwerer Wolle. Beides waren Teile, die meiner Mutter kein bisschen zusagten, weil sie ihrer Meinung nach so farblos und lebensverneinend schienen. Doch ich glaubte, dass sie nur fürchtete, dass ich damit viel zu streng aussah und deshalb die jungen Herren abschreckte, die von den Damen des Landadels fröhliche Papageienpracht gewohnt waren.
Ich fühlte mich sehr wohl in meinen Kleidern, viel wohler als in irgendeinem eng geschnürten Rüschending, und freute mich sehr darüber, dass Tante Lillian mich angesehen und mir gesagt hatte, dass ich in meiner Aufmachung älter und reifer wirkte. Anschließend hatte sie mir die Haare hochgesteckt und mir ihre schmalen Perlohrringe geliehen.
Und obwohl ich mich angemessen angezogen fühlte, war mein Kopf unruhig, mein Magen flau und mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Onkel Alfred lief neben mir, hatte mir den Arm geboten, damit ich mich unterhaken konnte, und ich war froh über die Stütze.
Der gepflasterte Weg ging von Onkel Alfreds Haus nur ein Stück die Straße nach unten und bog anschließend durch einen schmiedeeisernen Durchgang in einen Park, der bereits zum Universitätsgelände gehörte.
Mein Onkel zeigte auf mehrere große, stattliche Gebäude aus rostrotem und dunkelgrauem Stein und benannte sie für mich, während mir beinahe die Augen aus dem Kopf fielen vor lauter Staunen.
Das letzte Mal, dass ich hier gewesen war, lag schon eine Weile zurück und ich hatte damals die ganze Zeit mit der Nase in Oliver Twist gehangen, um danach unseren restlichen Aufenthalt in London damit zu verbringen, nach Straßenkindern Ausschau zu halten. Der Bibliothek waren wir nicht einmal nahe gekommen, aus der Angst meiner Eltern heraus, mich dort drin zu verlieren und nie wiederzufinden.
Der Park, durch den wir schlenderten, war weitläufig, durchzogen von hell gepflasterten Wegen, gesäumt mit verknöcherten alten Platanen, die schon beinahe alle Blätter verloren hatten. Von Grünflächen umfasst, ragte die Universität in den verhangenen Himmel. Die Gebäude waren prachtvoll konstruiert, mit schmalen Säulen, Türmchen und silbernen Zinnen, wie es so typisch für London war. Sie hatten Hunderte schmale Fenster, große hölzerne Tore und strahlten allesamt eine so machtvolle Aura aus, dass ich Ehrfurcht empfand vor all dem Wissen, das hier auf dem Campus vermittelt wurde und von dem ich lediglich nur eine leise Ahnung hatte.
Dazwischen wimmelte es nur so von jungen Männern. Es war noch recht früh und doch waren sie schon alle unterwegs. Zu den morgendlichen Vorlesungen, zur Cafeteria, die wir rechts zurückließen, oder zu Lerngruppen, die sich überall auf dem Campus und in den Cafés drum herum trafen.
Die Bibliothek lag recht zentral und ich holte ehrfurchtsvoll Luft, als wir den Weg zum Haupteingang entlanggingen.
Die schmuckvolle Fassade ragte vor mir auf, beugte sich mir entgegen und ließ mich meine Kleinheit spüren.
Die Angst, die ich bisher mehr oder minder erfolgreich verdrängt hatte, kroch mit der Kälte des Morgens in meinen Bauch und gab mir das Gefühl, unzureichend zu sein.
Ich hatte keine Vorstellung davon, wie viele Bücher in diesem Gebäude sein würden. Wie hatte ich mir einbilden können, auch nur eine winzige Kenntnis von all der Literatur dieser Welt zu haben.
Onkel Alfred tätschelte mir die Hand, lächelte mir väterlich zu und ließ dann meinen Arm los, um die schwere Tür zu öffnen.
Ich hielt den Atem an, bemühte mich um Haltung; den Kopf hoch erhoben, straffte ich die Schultern und betrat das Gebäude.
Stille umfing mich, als mein Onkel die Tür hinter uns schloss und alle Geräusche von außen aussperrte. Der Wind, der in den Bäumen geraschelt hatte, das Krächzen der Krähenvögel, das Klappern der weit entfernten Kutschen. Hier drin war es so leise, dass man einen Stecknadelkopf hätte fallen hören können.
Die wuchtigen Schritte meines Onkels hallten wie Hammerschläge durch das Foyer und ich folgte ihm schnell.
Ich hob den Blick, mein Herz setzte aus, meine Augen konnten kaum glauben, was sie sahen. Das Foyer war groß, wurde von einem U-förmigen Tresen aus schwarzbraunem Holz dominiert, der in der Mitte des Vorraums stand und an dem zwei junge Männer leise arbeiteten.
Dahinter öffnete sich eine runde Halle, groß wie ein Theater, mit einer gläsernen Kuppel als Dach. Und obwohl die unendlichen Verzierungen aus Schnitzereien und goldenen Applikationen sicher sehenswert gewesen wären, wurde meine Aufmerksamkeit nur von den Büchern gefangen genommen.
Die Regale gingen einmal an der gesamten Wand entlang, geschwungen, sodass sich Nischen ergaben, die die einzelnen Themenbereiche voneinander trennten. Sie waren so hoch, dass man lange Leitern verwenden musste, um an die oberen vier oder fünf Regalbretter zu gelangen. Zwei Treppen führten hinauf auf einen breiten Rundgang, an dem sich das Ganze nur weiter fortsetzte.
Bücher über Bücher, Seiten, Wörter, der Geruch von Papier und Staub in der Luft, und ich wusste, dass ich mein Herz an diesen Ort verlieren würde.
Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich nach vorne getreten war, bis ich beinahe mit einem Studenten zusammenstieß, der etwas ungeschickt einen Stapel Bücher an seinen Platz manövrierte.
»Entschuldigung«, murmelte ich und klang dabei schon viel zu laut für diesen Ort der Ruhe und des Wissens.
Der Mann nickte mir nur zu und setzte sich an einen der unzähligen Tische, die in der runden Halle aufgestellt waren. Auch andere saßen hier, gebeugt über dicke Gesetzbücher, Lexika, fremdländische Literatur, Baupläne und lasen, schrieben und lernten.
Wäre ich ein Mann, so würde ich längst hier sitzen und studieren, alles Wissen in mich aufsaugen. So wie mein Bruder Henry. Aber ich war kein Mann und auch wenn es am anderen Ende von London seit Neuestem auch eine kleine Universität für Frauen gab, war das Studieren für Frauen immer noch eine nicht besonders angesehene Tätigkeit. Wie ich gelesen hatte, waren bisher auch die Studienfächer sehr begrenzt und für mich bisweilen noch nichts dabei, das mich wirklich angesprochen hätte.
Henry hatte behauptet, die Universität für Frauen wäre ein Witz im Gegensatz zu dieser hier und es würden noch viele Jahre vergehen müssen, ehe sich daran etwas ändern würde.
Ich reckte den Hals, sah von einem zum anderen Studenten und versuchte unter ihnen meinen Bruder zu erkennen. Doch er war nicht hier.
Onkel Alfred räusperte sich neben mir und ich schreckte zusammen. Ihn hatte ich ganz vergessen, und auch den Grund unseres Besuches. Eigentlich war alles in den Hintergrund getreten, als ich die Bücher gesehen hatte. Selbst meine Angst vor dem, was vor mir lag, war den Schmetterlingen in meinem Bauch gewichen.
»Ah, da ist er ja«, flüsterte mein Onkel mir zu und ich sah in die Richtung, in die er flüchtig zeigte.
Auch ohne diese Geste, wäre ich sehr schnell darauf gekommen, dass der Mann, der gerade die Treppe nach unten kam, niemand geringerer als der Bibliothekar sein konnte.
Er unterschied sich deutlich von den gebeugten Studenten mit den rauchenden Köpfen. Auffallend groß, war seine Haltung gerade, die Gestalt leicht hager. Er hatte sehr dunkles Haar, keinen Bart und konnte nicht älter als dreißig sein, was erklärte, warum mein Onkel ihn zu einem Jungspund erklärt hatte. Er war für eine so leitende Position wirklich noch sehr jung. Seine Schritte machten fast keine Geräusche und obwohl er mit der Nase in einem Buch steckte, waren seine Füße so trittsicher auf den breiten Stufen, als hätte er sie schon Hunderte Male begangen. Sein Anzug war dunkelbraun, schlicht, passend. Im Gesicht trug er eine Brille, die ihm bis auf die Nasenspitze gerutscht war.
Es ließ sich schwer sagen, wie ich seinen ersten Eindruck auf mich beurteilen sollte. Ich hatte etwas so anderes erwartet und trotzdem schien er voll und ganz hierher zu passen.
»Mr Reed«, sprach Onkel Alfred ihn an und er hob zögernd den Blick von den Zeilen seines Buches.
Als er meinen Onkel entdeckte, sah ich ihn verhalten seufzen und er stoppte das Rollen mit den Augen gerade noch rechtzeitig, dass es nicht zu offensichtlich war. Aber ich hatte es dennoch gesehen.
»Mr Crumb. So schnell hatte ich Sie nicht wiedererwartet«, sagte er und seine Stimme klang höflich und überrascht. Das passte so gar nicht zu den feinen Ausdrücken in seinem Gesicht, die allesamt eine angespannte Genervtheit signalisierten. Genau wie auch bei meinem Onkel, wenn er die letzten Tage von Mr Reed gesprochen hatte. Die beiden mussten sich in der Vergangenheit ja ziemlich auf die Nerven gegangen sein.
»Nein? Wie seltsam. Wo wir doch beide die gleiche Problemlösung verfolgen«, meinte mein Onkel heiter und ich hörte die leichte Prise Ironie so deutlich, dass ich mir ein Grinsen verkneifen musste. »Darf ich vorstellen«, fuhr er fort und legte mir eine Hand auf den Rücken, damit ich einen Schritt nach vorne trat.
»Das ist Animant Crumb, die Tochter meines Bruders. Sie ist eine hervorragende junge Dame mit Scharfsinn und Witz. Sie ist anständig, höflich und ich kenne kaum jemanden, der so viele Bücher gelesen hat wie sie. Ich denke, dass nicht mal Sie da mithalten können«, lobte mein Onkel mich in den Himmel und ich war für einen Moment etwas irritiert über die Wahl seiner Worte. Warum genau erzählte er ihm das alles?
Mr Reed nahm seine Brille von der Nase, faltete sie zusammen und hakte den einen Bügel an den Ausschnitt seiner schlicht bestickten Weste. Sein Blick wanderte recht skeptisch von meinem Onkel zu mir, weil auch ihm nicht klar war, worauf das alles hinauslaufen sollte.
»Und ich habe beschlossen, sie als Ihre neue Assistentin einzustellen«, rief Onkel Alfred ein bisschen zu laut für diese geweihten Hallen und einige Studenten drehten ihre Köpfe zu uns. Doch offensichtlich machte ihm das alles viel zu viel Spaß, als dass er darauf achten wollte. Sein Blick lag ganz auf Mr Reeds Zügen, dessen Gesichtsfarbe sich von normal zu ungesund blass wandelte, nur um Sekunden später in wutrot umzuschlagen.
»Auf. Ein. Wort!«, zischte Mr Reed ihm verbissen zu, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte wie ein Feldmarschall auf die Treppe zu, die er gerade heruntergekommen war.
Auf Onkel Alfreds Lippen erschien ein diabolisches Grinsen, kaum dass sich der Bibliothekar umgedreht hatte, und er folgte ihm mit großen Schritten.
Ich hatte keine Ahnung wohin mit mir, stand einfach nur da, während die Herren mich verließen, und sah mich den Blicken der herumsitzenden Studenten ausgeliefert, die mich ansahen wie einen bunten Hund. Es war nicht sehr nett von den beiden, mich einfach hier zurückzulassen, und ich raffte kurz entschlossen meinen Rock, um ihnen zu folgen.
Ich sah sie gerade noch hinter einer Tür verschwinden, die seitwärts von dem oberen Rundgang abging, als ich die oberste Stufe erreichte. Da sich hier oben niemand weiter aufhielt und die Studenten von unten mich nicht sehen konnten, wenn ich nah an den Regalen entlangging, rannte ich das kurze Stück so leise ich konnte und versuchte meinen schnellen Atem zu unterdrücken, als ich mein Ohr an die geschlossene Tür hielt.
»Das kann ja wohl kaum Ihr Ernst sein!«, hörte ich Mr Reed überdeutlich und er klang wirklich erbost.
»Doch, es ist mein voller Ernst. Vierundzwanzig Assistenten haben Sie in den vergangenen Monaten abgelehnt, rausgeekelt oder entlassen. Und nun ist es genug!«, brachte mein Onkel ihm nicht weniger aufgebracht entgegen und ich musste mich mit der Hand an der Seite eines Regals festklammern, um in meinem Korsett genug Luft zu bekommen und gleichzeitig weiter lauschen zu können.
»Sie ist eine Frau, Mr Crumb. Und eine Unstudierte noch dazu. Was glauben Sie, was ihr Job sein wird? Tee kochen?«, rief der Bibliothekar höhnisch und ich zuckte innerlich zusammen. Es griff mich an, solche Worte zu hören. Natürlich war mir klar, dass ich nie das Ansehen erlangen würde, das ein Mann in meiner Position haben könnte, doch von vornherein anzunehmen, ich sei zu weniger zu gebrauchen, nur weil ich eine Frau war, machte mich rasend.
»Sie ist ehrgeizig und schlau, und sie wird durchaus in der Lage sein, den Aufgaben nachzugehen, die Sie ihr auftragen werden«, verteidigte mein Onkel mich und seine Stimme war wieder ruhiger geworden. »Außerdem haben Sie keine Wahl, Mr Reed. Entweder Sie behalten sie für mindestens einen Monat oder ich werde dem Finanzrat nahelegen, Ihrer kuriosen Maschine nicht länger finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen.«
Mr Reed blieb stumm und ich hielt die Luft an vor lauter Spannung. Mein Onkel hatte diesen Mann gerade tatsächlich erpresst und ich fand das gar nicht gut. Dafür war ich nun wirklich nicht skrupellos genug.
»Außerdem ist sie meine Nichte. Sie werden also achtsam mit ihr umgehen«, setzte Onkel Alfred noch einen drauf und dies schien Mr Reed wieder zur Besinnung zu bringen.
»Na gut. Wie Sie wollen. Aber wenn es der Lady zu anstrengend wird, werde ich der Letzte sein, der sie am Abreisen hindert«, grummelte er und ich konnte ihn kaum verstehen, weil seine Stimme im Rascheln von Papier unterging. »Wird sie auch das Zimmer im Personalgebäude beziehen?«, wollte er fast spöttisch wissen und Onkel Alfred schnaubte.
»Natürlich nicht. Machen Sie sich nicht lächerlich. Sie wird bei meiner Frau und mir wohnen.«
»Dann ist ja alles geklärt. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und dass ich Sie lange nicht mehr wiedersehen muss«, äußerte Mr Reed ungehalten und ich schnappte erschrocken nach Luft über seine Unhöflichkeit, obwohl seine Stimme wieder einen angenehmeren Unterton bekommen hatte.
»Auf Wiedersehen, Mr Reed. Und ich wünsche Ihnen das Gleiche«, erwiderte mein Onkel die Unverschämtheit und ich wich von der Tür zurück.
Als Lauscherin mit jahrelanger Erfahrung wusste man, wann ein Gespräch wirklich beendet war. Ich ging ein paar eilige Schritte und trat an die Balustrade, um unbeteiligt zu wirken und mir einen kurzen Überblick zu verschaffen.
Hinter mir riss man die Tür mit Schwung auf und ich hörte die schweren Schritte meines Onkels. Als er mir die Hand auf die Schulter legte, drehte ich mich zu ihm um und setzte einen fragenden Gesichtsausdruck auf, damit es so aussah, als ob ich nicht die geringste Ahnung hätte, was als Nächstes passieren würde.
»So, die Formalitäten sind geklärt«, teilte er mir mit und bemühte sich um ein Lächeln, das falsch wirkte. Ich lächelte zurück und tätschelte ihm aufmunternd den Arm.
»Dann kann ich gleich anfangen?«, fragte ich mit entschlossener Stimme und sah von ihm zu Mr Reed, der mich scharf über den Rand seiner Brille hinweg musterte, die er wohl während des Gesprächs im Büro wieder aufgesetzt haben musste.
»Scheint wohl so«, erwiderte er und straffte die Schultern. »Da Ihr Onkel es sicher eilig hat, seinen sonstigen Geschäften nachzugehen«, sagte er scharf und sah Onkel Alfred aus den Augenwinkeln an, »werde ich Ihnen den Ort zeigen, an dem Sie Ihren Mantel ablegen können, und dann werden Sie eine halbe Stunde haben, sich mit dem System vertraut zu machen. Denn ich hatte zu meinem Bedauern in meinem heutigen Zeitplan nicht vorgesehen, einen Assistenten einzulernen, Miss Crumb.« Seine Stimme war immer noch nicht weicher geworden und ich schüttelte innerlich den Kopf über ihn. Langsam verstand ich, was alle an ihm so schrecklich fanden. Er war wirklich sehr unhöflich und ein Meister darin, anderen das Gefühl zu vermitteln, dumm und nutzlos zu sein.
Onkel Alfred schnaubte laut und ich lächelte unverwandt weiter, als ob ich weder den sehr deutlichen Rausschmiss meines Onkels noch die verachtende Haltung gegenüber meiner Anwesenheit bemerkt hätte. Denn so war man als wahre Dame. Man stand über den Dingen, und vor allem über Beleidigungen.
»Mr Reed«, verabschiedete sich Onkel Alfred knapp und führte mich ein Stück am Geländer des Rundgangs entlang, bevor er sich zu mir runterbeugte. »Du wirst das schaffen, Ani. Zeig es dem Sesselfurzer«, raunte er mir zu und ich musste lachen über seine Ausdrucksweise. Auch bei meinem Onkel stahl sich ein Grinsen in die Mundwinkel. Er nickte mir zu, drückte noch einmal kurz die Hand, die ich immer noch auf seinem Arm ruhen hatte, und trat dann auf die Treppe zu. Ein letzter Blick zu mir, der für meinen Geschmack viel zu besorgt aussah, und dann war er verschwunden.
Mr Reed hatte seine Nase schon wieder in dem Buch, das er bereits vorhin in den Händen gehalten hatte, und sah erst auf, als ich mich direkt vor ihn stellte.
»Der Mantel«, sprach ich ihn so freundlich wie irgend möglich an und er blinzelte zweimal, als hätte er schon vergessen, dass ich da war.
»Aber natürlich«, gab er zurück und ich konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht recht deuten. Er führte mich zu der Tür neben seinem Büro und wir betraten ein schmales Zimmer. Darin befanden sich ein kleiner, grob gearbeiteter Tisch, zwei Stühle, eine ganze Menge Gerümpel, ein wenig befülltes Regal, ein Garderobenständer und noch eine zweite Tür, die nach hinten führte.
Unaufgefordert entledigte ich mich meiner Handschuhe, die ich ins Regal legte, und knöpfte meinen Mantel auf, der einen Platz an einem Messinghaken des Ständers fand.
Ich hatte keinen Moment erwartet, dass Mr Reed mir beim Ablegen behilflich sein würde und er hatte es auch nicht angeboten.
»Waren Sie bereits schon einmal zuvor in dieser Bibliothek?«, fragte Mr Reed ganz direkt und ich kniff die Lippen aufeinander.
»Nein«, musste ich zugeben und es passte mir gar nicht. Das klang, als ob ich noch nie ein Buch zur Hand genommen hatte und ich ärgerte mich über den abschätzigen Blick meines Gegenübers. »Nicht in dieser«, fügte ich daher hinzu, doch das ließ den Bibliothekar kalt, wenn er mir denn überhaupt zugehört hatte.
»Dann schlage ich vor, Sie sehen sich ein bisschen um, bis ich so weit bin, und dann werde ich Sie mit Ihrem neuen Aufgabenbereich vertraut machen«, erläuterte er, als erzählte er einem Kind, es würde wichtige Arbeit leisten, wenn es seine Bauklötze zusammenräumte. Dann drehte er sich einfach zur Tür, ließ mich ohne ein weiteres Wort stehen und ging zurück in sein Büro, dessen Tür er hinter sich schloss, als wollte er mich gleich wieder vergessen.
Ich kniff die Lippen noch fester aufeinander, um über diese Dreistigkeit nicht laut aufzuschreien.
Für einen Monat hatte Onkel Alfred mich hier eingestellt. Einen Monat gab mir meine Mutter.
Einen Monat, sagte ich mir. Einen Monat mit diesem Mann. Das musste doch irgendwie zu schaffen sein.