Читать книгу Animant Crumbs Staubchronik - Lin Rina - Страница 8

Das Zweite oder das, in dem mein Lesesessel nach London zog.

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Ich saß in der Kutsche nach London und klammerte mich an meine Handschuhe, die ich zwischen den Fingern hielt und immer wieder über das glatte Leder strich, um mich selbst zu beruhigen. Draußen zog die Landschaft vorbei, gelbe Stoppelfelder, bunte Bäume, die bereits begannen, ihre Blätter zu verlieren. Draußen bot sich mir eine traumhafte Spätherbstlandschaft, die ich leider in diesem Moment nicht so richtig schätzen konnte.

Ich war auf dem Weg nach London. Kaum zu fassen. Mutter war dagegen gewesen, hatte gezetert und geschimpft, bis Vater sie beiseitenahm und anschließend mit ihr und Onkel Alfred im Salon verschwunden war.

Nur einen winzigen Moment hatte ich es dann noch auf meinem Stuhl im Esszimmer ausgehalten, bis ich aufgesprungen und ihnen hinterhergeeilt war, um an der geschlossenen Tür zu lauschen.

»Stell dir vor, welche Möglichkeiten sich dort auftun könnten. Wie viele Menschen ihr dort begegnen werden«, sagte Vater und Mutter fiel ihm ins Wort.

»Aber Charles«, begann sie weinerlich und ich wusste, welchen Blick sie jetzt aufgesetzt hatte. Diesen flehenden, von schräg unten, mit dem sie Vater immer weichkochte.

Doch diesmal schien er sich davon nicht einwickeln zu lassen. »Charlotte, Gesellschaften mit den Großen Londons, vielleicht sogar Bälle am Königshof. Junge Männer mit Rang und Namen, Grips und Witz. Einen Monat, Darling, und ihr wird der Kopf schwirren von all den nennenswerten Verehrern, zwischen denen sie sich entscheiden muss!«

Ich schnappte erschrocken nach Luft. War dieser Vorschlag wirklich von meinem Vater gekommen? Wann hatte er sich in dieser Angelegenheit denn so sehr auf die Seite meiner Mutter geschlagen? Ich wusste nicht, ob ich empört oder geschockt sein sollte.

Auch Mutter schien es die Sprache verschlagen zu haben, denn es kam kein Ton von ihr.

»Ihr müsst es ja auch niemandem sagen. Wir behaupten einfach, ich nehme sie als Gesellschaft für Lillian mit. Damit sie nicht den ganzen Tag allein ist, wenn ich die nächsten Wochen so viel zu tun habe. Wer würde es schon hinterfragen, wenn Animant ihren Onkel in London besuchen käme«, gab Onkel Alfred zu bedenken. »Und dann gibt es ja auch immer noch Henry. Er wird sich freuen, seine Schwester zu sehen.«

Ich hörte Mutter seufzen. Es war ein ergebenes Seufzen, eines, das mir sagte, dass Vater und Onkel Alfred gewonnen hatten und sie mir erlauben würde, nach London zu fahren. »Einen Monat!«, erwiderte sie streng. »Und das auch nur, wenn sie es einen Monat aushält. Was ich schwer bezweifle.«

Ich nahm das Ohr von der Tür, trat einige Schritte zurück und setzte mich vorsichtig auf die unteren Stufen der Treppe.

Denn jetzt war es an der Zeit, mir zu überlegen, was ich eigentlich wollte. Wollte ich nach London und die Assistentin eines verschrobenen Bibliothekars werden? War die Aussicht auf ein wenig Freiheit genug, um mich aus meiner täglichen Routine zu reißen und in eine andere Stadt zu fahren?

Die Gesellschaften würden mich ganz sicher nicht reizen und auch die Erwähnung der vielen Gesprächspartner, die ich abzuwimmeln hätte, stimmte mich nicht gerade euphorisch.

Doch andersherum gab mir der Gedanke, abzulehnen und hierzubleiben, einen Stich, der direkt auf meinen Stolz abzielte. Mutter hatte behauptet, ich würde es keinen Monat dort aushalten. Sie hielt mich für naiv und unerfahren, weil ich mich bisher nie beweisen musste und weil alle in mir noch das arme, weiche Kind sahen. Wenn ich ablehnte, würde ich ihnen recht geben und das könnte mein Stolz nicht ertragen.

Also hatte ich zusagen müssen und den verkniffenen Gesichtsausdruck meiner Mutter genossen, die insgeheim gehofft hatte, dass ich mich gegen London und für ihre Gesellschaft entscheiden würde. Doch darauf konnte sie lange hoffen.

Es dauerte zwei Tage, bis ich alles gepackt hatte und Mutter mit meiner Kleiderauswahl ebenfalls zufrieden war. Onkel Alfred blieb und bewohnte unser Gästezimmer, war tagsüber aber die ganze Zeit mit Vater unterwegs, sodass sich keine Gelegenheit bot, ihn über London und die Bibliothek auszufragen.

Über uns rumpelte es und Onkel Alfred schreckte aus seinem Halbschlaf auf. »Was war das?«, wollte er schlaftrunken wissen und ich kniff die Lippen nervös zu einem schmalen Strich zusammen.

»Sicher nur mein Sessel«, gab ich zurück und Onkel Alfred schüttelte den Kopf, während er sich an seinem Bart kratzte.

»Wieso musstest du das alte Ding auch mitschleppen?«, meinte er, doch ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

»Er gehört nun mal zu mir. Und ich wäre doch auch sicher eine Schande für all meine Vorfahren, wenn ich nicht auch ein bisschen exzentrisch wäre«, warf ich selbstsicher ein und Onkel Alfred lachte laut.

»Da hast du recht, Ani! Wie so oft«, grölte er und ich lächelte.

Die Familie Crumb hatte schon eine Menge Exzentriker hervorgebracht und wenn ich mir die Stammbäume anderer Familien besah, waren es auffällig viele. Meine Großtante Rose hatte eine Vorliebe für übergroße Hüte, mein Cousin dritten Grades war ein Mann mit dem Talent, Geschichten zu erzählen, ohne jemals das Ende zu verraten, und mein Großvater hatte immer behauptet, seine eigene Mutter wäre Admiral bei der Marine gewesen.

Im Gegensatz dazu war es ja fast schon harmlos, dass ich mit einem Sessel verreiste.

Wir machten zwei Pausen auf unserer Reise. Einmal, um in einem wunderschönen kleinen Gasthaus zu Mittag zu essen und einmal für den Fünfuhrtee.

Onkel Alfred erzählte viel über seine letzte Reise nach Europa, über Lillians Begeisterung für deutsches Brot und dass es eine ganz tolle Zeit in London werden würde.

Doch egal, wie geschickt ich es anstellte, das Thema auf die Bibliothek, meinen neuen Job oder diesen ominösen Bibliothekar zu lenken, Onkel Alfred schaffte es immer irgendwie, sich wieder herauszuwinden, und nach dem achten Versuch gab ich schließlich auf.

Er wollte mir offensichtlich nichts darüber erzählen und das machte mich nervös und neugierig zugleich. Doch er versprach, sich gleich morgen früh darum zu kümmern, dass alles offiziell in die Wege geleitet wurde. Und damit würde ich mich wohl zufriedengeben müssen. Vorerst.

Wir erreichten London kurz nach Sonnenuntergang und ich konnte nur wenig erkennen auf den dunklen Straßen, die nur selten von einer Laterne beleuchtet wurden, da die Laternenanzünder ihre Runden wohl noch nicht beendet hatten. Erst als wir ins Zentrum fuhren und dem Gelände der Universität näher kamen, wurden die Straßen breiter und heller und ich konnte die düsteren hohen Häuser bewundern, die sich so eng aneinanderschmiegten, als ob sich so die Kälte besser aushalten ließ.

Natürlich war ich nicht das erste Mal in London, aber das erste Mal ohne meine Eltern, und obwohl die Luft nicht so frisch war wie bei uns auf dem Land, roch sie für mich nach Freiheit und unendlich vielen neuen Möglichkeiten.

Tante Lillian empfing uns an der Tür, als wir mit steifen Gelenken aus der Kutsche kletterten, und lachte überrascht, als sie mich erblickte.

»Animant!«, rief sie freudig und schloss mich in ihre Arme, als ich die drei Stufen zur Haustür hinaufgestiegen war und zu ihr in den warmen Flur trat.

In London war es wirklich bitterkalt, sodass man den Eindruck hatte, der Winter wäre hier schon sehr viel näher als bei uns.

»Wie kommen wir zu der Ehre?«, wollte sie wissen und ihre schmalen Augen wurden von Lachfältchen umzogen. Sie hielt mich eine Armlänge von sich und musterte mich eingehend.

»Onkel Alfred möchte mich als Bibliothekarsassistentin auf Probe einstellen«, antwortete ich frei heraus und ihre Augen wurden erst groß, dann zornig.

»Du willst sie diesem Scheusal zum Fraß vorwerfen?«, rief sie empört, als ihr Mann durch die Tür kam, und stemmte ihre dünnen Ärmchen in die schmale Taille.

»Mach dir mal keine Sorgen, Liebling. Die kleine Ani wird ihn in der Luft zerfetzen«, behauptete er gelassen, knöpfte den Mantel auf und schälte sich aus dem dicken Kleidungsstück.

»Duuu …«, begann Tante Lillian schimpfend und mit gerecktem Finger, schüttelte aber dann den Kopf und seufzte nur leise. »Ach, komm her, mein Abenteurer!« Ihre Stimme wurde milde und sie ging zu ihm, um sich von seinen bärigen Armen umschließen zu lassen.

Die beiden waren ein sehr ungleiches Paar und doch wie füreinander geschaffen. Er war groß und stämmig, sie klein und zierlich. Seine Haare waren dunkel, seine Haut gebräunt, während sie leuchtete wie ein Engel mit hellblondem Haar und einer Haut so weiß wie Marmor.

Nur ihr Humor war der gleiche und das war wohl auch der Grund, warum sie sich so gut verstanden.

Ich knöpfte meinen Mantel auf und reichte ihn an einen stillen älteren Herrn, der mir den Arm hinhielt, damit ich das Kleidungsstück ablegen konnte. Ich nickte ihm höflich zu, er nickte zurück und dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Tante.

»Das Essen wartet, Alfred«, sagte sie gerade und hob dann vielsagend die Augenbrauen. »Und ein Gast, der darauf besteht, noch heute eine Unterredung mit dir zu führen«, fügte sie hinzu und hatte dabei ein Lächeln im Mundwinkel.

»Ein Gast, oho«, machte Onkel Alfred und Tante Lillian knuffte ihn verspielt in die Seite.

»Habt ihr beiden denn Hunger?«, wandte sich meine Tante jetzt auch an mich.

Jetzt, wo wir endlich da waren, spürte ich die Müdigkeit in meinem Körper und das Loch in meinem Magen. Außerdem würde ich zu einem guten Essen nie Nein sagen.

Das Esszimmer war kleiner als unseres. Eigentlich waren hier alle Räume kleiner als bei uns, was nicht am fehlenden Reichtum meines Onkels, sondern an dem mangelnden Platz in den Londoner Straßen lag.

Meine Tante ging voraus, ich folgte und mein Onkel wechselte noch ein paar Worte mit seinem Butler, der sich um unser Gepäck kümmern sollte.

Ich war so hungrig, dass ich nicht mal den Drang verspürte, mich vor dem Essen umzuziehen und auch meine Tante schien darin kein Problem zu sehen. Bei ihr und meinem Onkel ging es so viel ungezwungener zu als bei meinen Eltern zu Hause. Mutter hätte mich sofort die Treppen hochgejagt und mich in einen netten Fummel gesteckt, wenn auch nur die geringste Hoffnung bestand, dass der besagte Besuch männlich, jung und ledig sein könnte.

Und das war er tatsächlich. Unerwartet stand ich einem Paar hellbrauner Honigaugen gegenüber und musste sogleich aufpassen, dass mich das ausladende Kleid meiner Tante nicht in die Arme des dazugehörigen Mannes schubste. Ich kam allerdings trotzdem ins Straucheln und hielt mich an einem Tischchen fest, um mein Gleichgewicht wiederzuerlangen.

»Verzeihen Sie«, stammelte ich, ohne die Hand des Mannes in Anspruch zu nehmen, die er mir bereitwillig entgegenstreckte, um mich wenn nötig aufzufangen.

»Schon gut«, antwortete er mir mit leiser, aber fester Stimme und ich starrte ihn an wie ein verschrecktes Kaninchen.

Der Mann vor mir war jung, vielleicht Mitte zwanzig, sein Haar dunkelblond und etwa mittellang, sodass es ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig, der Kiefer kantig, die Lippen auffällig, ohne dass ich wirklich sagen konnte weshalb.

Die schweren Schritte meines Onkels auf dem Parkett rissen mich aus der Betrachtung des Fremden und holten mich in die Wirklichkeit zurück. Ich schaffte es, in meinem Kopf ein für mich überraschendes abschließendes Urteil über das Aussehen meines Gegenübers zu fällen: Er sah viel zu gut aus, um mich nicht wenigstens ein bisschen zu beeindrucken.

»Winston!«, rief mein Onkel, als er den jungen Mann erblickte, und grinste breit. »Mein Freund, ich dachte, du wärst schon auf halbem Weg nach Glasgow.«

Auch der Angesprochene lächelte und trat vor, um meinem Onkel die Hand zu schütteln. »Erst morgen in der Früh, Alfred. Deshalb nehme ich auch die Unhöflichkeit in Kauf, dich um diese Stunde noch zu stören.«

»Ach wo«, wehrte Onkel Alfred ab, und dann schien ihm plötzlich wieder einzufallen, dass ich nach wie vor neben den beiden Männern an der Wand eingezwängt stand.

»Oh, natürlich«, begann mein Onkel und trat ein Stück zur Seite, damit ich mit meinem Rock mehr Platz zum Stehen hatte. »Ani, darf ich bekannt machen? Dieser junge Mann ist Winston Boyle, der neue Rechtsbeistand meiner Abteilung«, stellte er mir Mr Boyle vor, der höflich den Kopf neigte, ein verschmitztes Lächeln im Mundwinkel. »Winston, das ist meine Nichte Animant Crumb. Ich habe sie nach London mitgebracht, damit sie sich als Bibliothekarsassistentin versuchen kann.«

Mr Boyle fiel bei diesen Worten das Lächeln aus dem Gesicht und er zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Wie? In dieser Bibliothek? Bei Mr Reed?«, wollte er entgeistert wissen und so langsam war ich bereit, mir doch ein wenig Sorgen zu machen.

»Wie fürchterlich muss dieser Mann denn sein, dass alle so entsetzt reagieren, wenn das Thema auf ihn kommt?«, fragte ich in einem leichten Ton und lächelte sanft, um meine Gefühle nicht zu offenbaren. Wenn ich die ganze Sache nicht mit Humor nahm, würde ich am Ende vielleicht wirklich Angst bekommen und ich war fest entschlossen, mich nicht so leicht einschüchtern zu lassen. Mutter würde es nur zu gern sehen, wie ich alles hinschmiss und nach Hause zurückgekrochen kam. Aber diesen Gefallen würde ich ihr garantiert nicht tun.

»Er ist nicht fürchterlich«, beeilte Mr Boyle mich zu beruhigen und als er mein Lächeln sah, kehrte auch sein eigenes zurück. »Nur … kompliziert.«

Ich hob eine Augenbraue, legte den Kopf leicht schräg und beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, den gut aussehenden Mr Boyle auszuquetschen. Wenn schon niemand anderes bereit war, meine Fragen zu beantworten, dann musste eben er herhalten.

»Setzt euch doch erst mal und esst«, unterbrach Tante Lillian meine Gedanken mit weicher Stimme und streckte die Hand nach mir aus, damit ich mich auf ihre Seite des Tisches setzte. »Dabei könnt ihr immer noch reden.«

Ich lächelte ihr zu, obwohl ich innerlich seufzte, raffte meine Röcke und manövrierte mich zwischen Onkel Alfred und Mr Boyle hindurch, die mir bereitwillig den Weg frei machten.

Meine Mutter hätte mich wohl niemals unterbrochen, wenn ich gerade mit einem netten jungen Mann geplaudert hätte. Aber so war das Leben nun mal, man konnte an jeder Situation etwas beanstanden.

Wir setzten uns, Onkel Alfred sprach das Tischgebet und eine beleibte Frau mit Spitzenhäubchen trug eine Terrine mit dickem Eintopf herein, aus der sie uns einem nach dem anderen ausschöpfte.

Ich hatte gerade den Löffel aufgenommen, da richtete ich das Wort auch schon wieder an Mr Boyle. »Mr Boyle«, sagte ich mit leiser Stimme, hoch erhobenem Kopf, das Kinn hielt ich jedoch ein wenig gesenkt, genau so, wie meine Mutter mir immer einredete, wie man mit jungen Männern zu reden hätte. »Geh ich recht in der Annahme, dass Sie diesen Mr Reed persönlich kennen?«, fragte ich sehr direkt und Mr Boyle nickte, während er kaute.

»Das tun Sie, Miss Crumb«, erwiderte er charmant und seine ungewöhnlichen Lippen verzogen sich zu einem leichten Schmunzeln. »Wenn man so viel Zeit wie ich in dieser Bibliothek zugebracht hat, kann man gar nicht anders, als diesem Herrn persönlich zu begegnen.«

Ich rutschte mit dem Po ein Stück weiter auf die Stuhlkante, um aufmerksamer zuzuhören und mein Interesse an diesem Thema zu unterstreichen. »Mein Onkel hat mich dazu überredet, mein Glück in der arbeitenden Schicht zu versuchen, bisher allerdings alles verschwiegen, was mir in diesem Bezug wichtig erscheint. Sie werden mir wohl verzeihen müssen, dass ich meine Neugierde so offen zur Schau trage«, erzählte ich und Mr Boyle lachte, ein Lachen, das mich anstecke.

Er stützte die Unterarme auf der Tischkante ab und beugte sich mir ebenfalls entgegen. »Ich werde Ihnen mit Freuden alle Fragen beantworten, die ich imstande bin aufzuklären«, versicherte er mir verschwörerisch und hob dann den Blick zu Onkel Alfred, als wäre ihm eingefallen, dass es sich nicht gehörte, Versprechungen in Aussicht zu stellen, die man vielleicht nicht einhalten konnte. »Wenn es Ihrem Onkel denn genehm ist«, fügte er schnell hinzu und seine Stimme bekam einen nüchternen Ton.

Onkel Alfred seufzte laut und schob sich noch einen Löffel voll Eintopf in den Mund, was seine Antwort verzögerte und mich noch mehr auf die Folter spannte. »Redet nur«, sagte er schließlich schroff. »Soll mir recht sein. Dann muss ich schon nicht über diesen Mann sprechen. Das ist nicht gut für mein Herz, wisst ihr«, behauptete er und ich konnte ihm nicht so recht glauben, weil Tante Lillian in diesem Moment ebenfalls zu grinsen anfing und sich nur mühsam das Lachen verkneifen konnte.

Doch es konnte mir ja auch egal sein, welche Gründe Onkel Alfred wirklich hatte, solange er mir erlaubte, meine Neugierde anderweitig zu stillen.

Mr Boyles Honigaugen wandten sich erwartungsvoll an mich und mir fiel es schwer, auf die Schnelle bei all den vielen Fragen zu entscheiden, welche ich als Erstes stellen wollte.

»Mein Onkel deutete an, dass sich kein Assistent für diesen Mr Reed finden lasse. Woran kann das Ihrer Meinung nach liegen?«, begann ich klein, erinnerte mich selbst daran, dass ich ja mal hungrig gewesen war, und tauchte meinen Löffel in den heißen Eintopf, der nach Kartoffeln, Hühnchen und diversen Gewürzen duftete.

»Puh, das ist wohl auch schon der Kern der Sache«, meinte Mr Boyle und ließ seinen Löffel auf halbem Weg in der Luft verweilen, während er die Stirn krauszog, um seine Gedanken anzustrengen. »Ich würde behaupten, es liegt an den Erwartungen, die er an die Leute stellt und die niemand erfüllen kann.«

»Und die wären?«, schob ich gleich hinterher, als Mr Boyle sich den Löffel zum Mund führte.

»Er nimmt sich nicht die Zeit, die Leute richtig einzulernen. Er hat gern seine Ruhe, verschwindet manchmal am Nachmittag einfach, ohne zu sagen wohin, und erwartet, dass man mit den gestellten Aufgaben fertig wird, ohne von ihm eine Anleitung zu bekommen. Ich würde behaupten, er ist ein schlechter Lehrer, der aber trotzdem Perfektion als Ergebnis erwartet«, führte er aus und da fiel ihm noch etwas ein. »Oh!«, machte er und sein Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. »Und er schätzt es gar nicht, wenn man seine Arbeit nicht ernst nimmt. Ein Mensch, der Vergnügen der Arbeit voranstellt, hat bei ihm nicht die geringste Chance.«

Das waren eine Menge Eigenschaften, die auf einen sehr verschrobenen, steifen Mann hinwiesen, mit dem ich meine liebe Mühe haben würde. Falls ich die Gelegenheit bekam, lang genug zu bleiben, um mich überhaupt darauf einzulassen.

So wie es bei Mr Boyle klang, würde ich in die Bibliothek hineinkommen, einen Fehler machen und schon wieder rausgeworfen werden. Ich hatte noch nie in einer Bibliothek gearbeitet.

Was dachte ich da? Ich hatte überhaupt noch nie gearbeitet! Ich hatte keine Ausbildung, kein Literaturstudium, keinerlei Erfahrungen als Assistent eines Bibliothekars.

Aber ich hatte Stärken, die von Vorteil sein würden. Ich kannte mich in Bibliotheken aus. Zwar nicht speziell in dieser, aber ich hatte schon viele gesehen und das System war immer ähnlich. Ich konnte schnell lesen, war logisch veranlagt und hatte einen Hang zur Sorgfalt.

Und vor allem war ich dickköpfig.

Wenn es sein musste, dann würde sich dieser Mr Reed die Zähne an mir ausbeißen. Sollte sich herausstellen, dass es nur die trotzige Reaktion einer Tochter auf die Worte ihrer Mutter war, würde ich trotzdem niemals aufgeben!

Dieser Entschluss stärkte mir den Rücken, gab mir Aufwind, auch wenn Mr Boyles Worte mich eigentlich hätten entmutigen müssen.

»Woher wissen Sie von dem Vergnügensverbot?«, fragte ich nach.

»Es ist kein Verbot, Miss Crumb. Es wird nur nicht gern von ihm gesehen, wenn sie Bälle und Gesellschaften der Arbeit vorziehen und unausgeschlafen am Morgen antreten«, verdeutlichte er und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er irgendwie zu glauben schien, dass ich so eine Person sein könnte, die Bälle liebte und den Morgen verschlief.

»Und um auf Ihre Frage zu antworten. Einige meiner engeren Bekannten haben sich bereits in die Knechtschaft dieses Mannes begeben und sind allesamt geflohen«, sagte er und lachte, weil er darin einen Witz fand, den ich nicht entdecken konnte. »Aber zu Mr Reeds Verteidigung muss ich sagen, dass diese besagten Bekannten faule Taugenichtse sind und es eigentlich nicht anders verdient haben.«

Da war er also, der Witz, und ich lächelte elegant, genau wie Mr Boyle es auch tat.

Ich hatte gedacht, dass die Antworten auf meine Fragen Licht in die Dunkelheit bringen würden. Doch eigentlich warfen sie nur neue Schatten an die Wände, die ich noch weniger deuten konnte als die vorherige Dunkelheit.

Es ergab sich einfach kein vollständiges Bild und meine Neugierde wurde nur weiter angestachelt.

»Aber um dem verschrienen Mr Reed nicht unrecht zu tun, bin ich gewillt, Ihnen auch ein paar seiner positiven Eigenschaften aufzuzählen«, gab Mr Boyle fast gnädig von sich und Onkel Alfred schnaubte in sich hinein. Er schien da wohl anderer Meinung zu sein, sodass ich mir verhalten die Hand vor den Mund legte, damit er mein Lachen nicht sah.

Doch Mr Boyle entging es nicht und seine Augen glitzerten in einer so angenehmen Weise, dass ich mir nicht erklären konnte, woher all die Sympathien kamen, die ich für ihn hegte, obwohl ich ihn so wenig kannte.

Vielleicht lag es an seinem hübschen Gesicht oder seiner stilvollen Kleidung. Doch das hatten schon andere vor ihm gehabt und ich hatte ihnen auch nichts abgewinnen können.

Ich belächelte mich selbst und gab der Möglichkeit Raum, dass es an der Tatsache lag, dass er bisher noch nichts gesagt hatte, was auf Stumpfsinn hinweisen könnte.

Mr Boyle nahm noch einen Löffel Eintopf zu sich und führte seine Anschauungen weiter aus. »Mr Reed ist weltoffen und unkonventionell, soweit man das als Stärken auslegen möchte. Er ist wissbegierig, hat zu beinahe jedem Thema eine Meinung oder zumindest ein Buch, auf das er verweisen könnte, und sein Sinn für Fortschritt ist mir sehr genehm.«

Ich nickte leicht und schwieg, hing meinen Gedanken nach, versuchte das Bild weiter zusammenzusetzen.

»Bin ich Ihnen denn eine Hilfe, Miss Crumb?«, fragte Mr Boyle plötzlich ein wenig verunsichert und ich hob meine Augen wieder zu ihm, bemüht, das Lächeln zurück auf meine Lippen zu zaubern.

»Aber natürlich, Mr Boyle. Sie helfen mir sogar in großem Maße. Doch ich muss zugeben, dass ich aus alldem nicht schlau werde.«

»Da werden Sie wohl warten müssen, bis Sie ihm begegnen«, lachte Mr Boyle und seine Stimme hatte eine Art Zuversicht, die mich davon überzeugte, dass es eine interessante Begegnung werden würde.

Nach dem Essen zogen sich Onkel Alfred und Mr Boyle ins Arbeitszimmer zurück und redeten über irgendwelche Verträge. Allerdings konnte ich nicht viel in Erfahrung bringen, da Tante Lillian mich beinahe beim Lauschen erwischt hätte und ich mich daraufhin mit ihr im Wohnzimmer vor den Kamin setzte. Sie ließ mich von meinen Eltern berichten, von der Reise, und erzählte mir dann von all den aufregenden Sachen, die sie mit mir in London unternehmen wollte.

Ich wies sie nicht darauf hin, dass ich morgen eine Arbeit antrat und daher wahrscheinlich nicht so viel Zeit für ausschweifende Unternehmungen haben würde. Stattdessen lächelte ich nur und ließ ihr die Freude, mir Londons Attraktionen aufzuzählen. Und als sich die Herren wieder zu uns gesellten, war es bereits spät geworden und es war absehbar, dass Mr Boyle uns bald verlassen würde.

»Wie lang werden Sie denn voraussichtlich in London verweilen, Miss Crumb?«, fragte er mich und ich fühlte mich ein wenig geschmeichelt von all der Aufmerksamkeit, die er mir entgegenbrachte.

Er hatte sich nah neben das Sofa gestellt, auf dem ich saß, und sein Blick lag auf mir. Amüsiert und ernst zugleich.

Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Seine Blicke verwirrten mich, denn ich fühlte mich besonders gut und gleichzeitig unwohl bei dem Gedanken, dass er mit seiner Frage darauf abzielte, mich wiederzusehen.

»Oh, das weiß ich noch nicht«, gab ich uneindeutig zurück und dachte daran, dass meine Mutter darauf bestanden hatte, dass ich nicht länger als einen Monat blieb. Aber wer konnte das schon so genau vorhersagen?

Onkel Alfred schmunzelte. »Keine Angst, du wirst sie schon wiedersehen«, meinte er mit seiner brummenden Stimme und der Unterton darin gefiel mir gar nicht. Es klang so nach verkuppeln.

Tante Lillian war da auch nicht besser. »In sechs Tagen findet eine Soiree bei den Kents statt«, warf sie ein, erhob sich vom Sessel mir gegenüber und lächelte Mr Boyle an. Er erwiderte das Lächeln, während sein Blick immer wieder zu mir wanderte. Er schien eine Art Bestätigung von mir zu erwarten, die ich ihm aber nicht geben konnte, da ich seine Absichten nicht so recht zu deuten wusste.

»Animant wird uns sicher dorthin begleiten«, versprach Tante Lillian also an meiner statt und auch sie sah mich erwartungsvoll an.

Unsicher stützte ich meine Hand auf der Armlehne des Sofas ab und drückte mich auf die Füße hoch. Wenn alle im Raum standen, wäre es unhöflich gewesen, einfach sitzen zu bleiben.

Meine Gefühle waren noch durcheinander, während der Teil meines Kopfes, der rein analytisch dachte, eine Ungereimtheit in den Worten meiner Tante fand.

»Moment. In sechs Tagen? Sagte Onkel nicht, dass Sie nach Glasgow reisen würden? Welche Kutsche der Welt schafft es denn in sechs Tagen nach Schottland und wieder zurück?«, platzte es lauter aus mir heraus, als ich beabsichtigt hatte, und trotz der Unhöflichkeit, die ich damit an den Tag legte, begann Mr Boyle zu lachen.

»Keine Kutsche, Miss Crumb, da haben Sie recht. Aber ein Luftschiff sehr wohl«, antwortete er und sein Blick veränderte sich. Ungewollt hatte ich das Thema gewechselt und fühlte mich gleich ein wenig leichter ums Herz. Als ob ein unangenehmer Druck, den alle Anwesenden auf mich gelegt hatten, verschwunden wäre.

Meine Augen wurden groß, als ich mir seiner Aussage bewusst wurde. Das war doch unfassbar! »Ein Luftschiff?«, fragte ich entgeistert und trat näher auf Mr Boyle zu. »Ich habe darüber gelesen, aber noch keins mit eigenen Augen gesehen.«

»Was haben Sie denn gelesen?«, interessierte er sich und ich bekam einen kleinen Euphorieschub. Das hatte mich wahrlich noch kein Mann in meinem Alter gefragt.

»Louis Sanders’ Abhandlung vom Fliegen, Vom Bau bis zum Flug von den Thill-Brothers«, ratterte ich runter und dann fiel mir noch ein drittes Buch ein, das auch detaillierte Beschreibungen des Fliegens mit einem Luftschiff enthielt, aber sicher nicht als Sachbuch zählte. »Und Claire’s Reise zum Mond«, sagte ich trotzdem und wartete darauf, dass Mr Boyle etwas antwortete. Ich hoffte, ich hatte ihn nicht überfordert. Wenn er keines der Bücher kannte, dann würde er sich für unwissend halten. Und zum ersten Mal wollte ich nicht, dass ein Mann sich in meiner Gegenwart vor den Kopf gestoßen fühlte.

»Erstaunliche Fachliteratur«, merkte Mr Boyle an und grinste dann schelmisch. »Vor allem das Letzte«, witzelte er und ich kniff verstimmt die Lippen aufeinander.

Ich mochte es gar nicht, wenn man sich wegen der Bücher, die ich gelesen hatte, über mich lustig machte.

»Wie gefiel Ihnen das Ende?«, erkundigte sich Mr Boyle jedoch und ich fasste mich rasch wieder. »Robert entscheidet sich für seine Claire und gibt das Fliegen um ihretwillen auf. Romantische Lektüre, die für junge Frauen wie geschaffen ist, scheint mir«, merkte er an und ich blinzelte erstaunt.

»Sie haben es gelesen?«, wollte ich wissen, obwohl es offensichtlich war. Schließlich kannte er das Ende.

»Das habe ich. Und?«, blieb er an seiner Frage dran und ich schüttelte den Kopf.

Ich konnte mich genau erinnern, wie ich den Schluss gelesen hatte und danach verwirrt und wütend das Buch auf meinen Nachttisch knallte. »Ich muss Sie enttäuschen. Ich fand das Ende schrecklich«, berichtete ich und nun war es Mr Boyle, den ich mit meiner Aussage ins Staunen versetzte. »Eine Frau, die von ihrem Liebsten verlangt, das wichtigste Gut seines Lebens aufzugeben, kann ihn nicht wahrlich lieben!«, empörte ich mich und sah, wie Tante Lillian sich neben mir ein Grinsen verkniff.

»Eine wirklich ungewöhnliche Meinung für eine junge Frau«, meinte Mr Boyle und ich wusste genau, was er meinte. Ich kannte die jungen Dinger aus meinem kleinen Städtchen und sie alle hatten nur hübsche Kleider, Liebesbriefe, Rosen und anderen romantischen Firlefanz im Kopf.

»Das sagt sie nur, weil sie keine Ahnung von der Liebe hat«, behauptete Tante Lillian plötzlich und ihre Worte verletzten mich, obwohl ich eigentlich wusste, dass sie es nicht böse meinte.

»Ich habe über die Liebe gelesen«, gab ich von mir und riss mich zusammen, um nicht zu streng zu sprechen.

»Liebes«, sagte Tante Lillian zu mir und legte mir gutmütig eine Hand auf den Arm. »Manchmal reicht es nicht, nur darüber zu lesen.«

Animant Crumbs Staubchronik

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