Читать книгу Animant Crumbs Staubchronik - Lin Rina - Страница 13

Das Siebte oder das, in dem ich in die Welt der Maschine eintauchte.

Оглавление

Als ich an diesem Morgen vor der Bibliothek stand, wunderte sich Mr Reed nicht mehr darüber. Und wenn doch, verbarg er es zumindest besser als am Morgen zuvor. Er grüßte undeutlich, sah mir nicht ins Gesicht und schien auch so sehr schlecht gelaunt zu sein.

Aber das war mir heute gleichgültig, da ich nicht besonders viel geschlafen hatte und schon seit dem Aufwachen von leichten Kopfschmerzen geplagt wurde. Ich konnte es in diesem Moment nicht gebrauchen, von Mr Reed irgendeinen Kommentar darüber zu hören.

Still folgte ich ihm die Treppen auf den Rundgang hinauf und sah ihn ohne ein weiteres Wort in seinem Büro verschwinden, dessen Tür er mit mehr Nachdruck schloss, als nötig gewesen wäre.

Ich legte meinen Mantel in dem kleinen Räumchen nebenan ab, fragte mich, was wohl vorgefallen war und ob es etwas mit dem Gentleman von gestern zu tun haben konnte. War er womöglich deshalb immer noch so verstimmt?

Ich begann mit den Zeitungen im Foyer, holte sie aus den Verspannungen, immer die Angst vor dem finsteren Archiv in der Magengrube. Doch diesmal wusste ich ja, was mich dort unten erwartete. Es würde also viel schneller gehen. Hoffte ich zumindest.

Der Junge mit der Zeitung war nicht mehr so verschreckt wie gestern, hielt aber Abstand und blieb übertrieben höflich. Ich gab ihm zwei Schilling und er verriet mir, dass sein Name Phillip Tams war.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihm noch mehr Geld zu geben, damit er für mich ins Archiv runterging. Doch das wäre ein zu großes Eingeständnis meiner Schwäche gewesen und so ließ ich Phillip wieder ziehen, machte meine Arbeit und stellte mich meinen Ängsten.

Jedenfalls redete ich mir das ein, denn meine Furcht vor diesem schummrigen Ort mit dem immerwährenden Luftzug, der nach meinem Nacken griff und mich immer wieder vor jedem Schatten zusammenzucken ließ, wurde nicht weniger.

Wieder rannte ich die Treppen nach oben und blieb mit klopfendem Herzen zwischen den Bücherregalen im Seitentrakt der Bibliothek stehen, an dessen Wand sich der Abgang zum Archiv befand.

Einunddreißig Tage in einem Monat, weniger zwei Tage, die bereits vergangen waren, weniger die vier Sonntage, die ich nicht arbeiten musste, ergab fünfundzwanzig mal hinunter ins grausige Archiv, rechnete ich im Kopf und bekam eine unangenehme Gänsehaut. Noch fünfundzwanzigmal musste ich in dort runter, und das kam mir im Moment wie eine viel zu große Anzahl vor.

Ich war froh, Cody zu begegnen, als ich zurück in den Lesesaal kam. Besser, als sich nach dem Schreck völlig allein in den großen Räumen aufzuhalten. Er sah mich erst verängstigt an, zog sich dann aber eilig die Mütze vom Kopf und verbeugte sich leicht zum Gruß. Immer noch, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

Eigentlich hatte ich ihn noch nie sprechen hören.

»Guten Morgen, Cody«, erwiderte ich seine Verbeugung verbal und half ihm anschließend, die Bücher, die im Lesesaal auf den Tischen liegen geblieben waren, zusammenzusammeln und thematisch zu ordnen, damit er sie anschließend wegräumen konnte.

Ich verzog mich in meine Kammer, als die ersten Studenten ins Foyer getingelt kamen und mich mit großen Augen wie eine Zirkusattraktion beglotzten.

»Sie ist die neue Bibliothekarsassistentin«, hörte ich jemanden zu seinem Kollegen flüstern, strich mir flüchtig die Bluse zurecht und suchte das Weite.

Es gab noch einen ganzen Stapel neuer Bücher ohne Etiketten, die darauf warteten, dass ich mich ihrer annahm.

Gegen halb zehn klopfte es an meiner Tür, was mich überraschte. Es hatte mich noch niemand in der Kammer aufgesucht.

»Herein«, rief ich gepresst, während ich mich gegen den Hebel des Gerätes stemmte, das die metallenen Etiketten auf die Buchrücken nietete.

»Miss Crumb«, sprach mich Mr Reed an und ich erkannte ihn nur an der Stimme, weil ich gerade keine Möglichkeit hatte, hinzusehen.

Drei schnelle Schritte erklangen dumpf auf dem getäfelten Boden und dann griff ein Arm über meine Schulter hinweg. Eine kräftige Hand umschloss den Hebel, drückte mit und das Gerät schnappte ein.

Ich hatte kaum etwas tun müssen. Mr Reed hatte den Mechanismus, für den ich mein ganzes Körpergewicht einsetzen musste, mit nur einem Arm betätigt.

Den Atem anhaltend, ließ ich sofort den Griff los und drehte erschrocken den Kopf zu dem Mann, der dicht an meinem Rücken stand. Seine Augen waren ebenholzbraun.

Erst als er meinen verschreckten Gesichtsausdruck sah, schien Mr Reed bewusst zu werden, wie heikel die Situation war, die er geschaffen hatte, und er trat augenblicklich von mir zurück.

»Entschuldigen Sie, Miss Crumb«, sagte er schnell, als fühlte er sich gezwungen, es zu sagen, und fing sich dann wieder. Er holte kurz Luft. »Kommen Sie, der Mechaniker ist da«, teilte er mir mit, wandte sich um und war schon fast wieder aus der Tür raus, noch bevor ich reagieren konnte.

In mir sträubte sich alles bei seinen Worten und doch überwand ich mich selbst und folgte ihm. Wieso musste er mich so herumkommandieren, als hätte ich keinen eigenen Willen? ›Hätten Sie die Güte, mich zu begleiten?‹‚›Würde es Ihnen passen, Ihre Arbeit für einen Moment ruhen zu lassen und mir zu folgen?‹ Wie schwer konnte es denn sein, so etwas zu sagen? War es ihm so unmöglich, höflich zu sein?

Mein Herz schlug schon wieder viel zu schnell. Von dem vorherigen Schreck und vor Wut. Dieser Bibliothekar schaffte es immer wieder, mich mit nur einem Satz so zu verärgern, dass ich ihm am liebsten mit einem Schürhaken eins überziehen wollte. Und ich war für gewöhnlich kein gewalttätiger Mensch.

Ich folgte Mr Reed zurück in den Lesesaal und die Treppe nach oben auf den Rundgang und war sogar zu erbost, um zu fragen, wofür eine Bibliothek einen Mechaniker benötigte und warum ich ihn treffen sollte.

Natürlich wäre ich selbst darauf gekommen, wenn ich mir bewusst gemacht hätte, dass Mr Reed am Anfang erwähnt hatte, dass es sich bei der Suchmaschine um eine wirkliche Maschine handelte. Aber meine Gedanken waren zu sehr damit beschäftigt, dem Bibliothekar wüste Beschimpfungen an den Kopf zu werfen, als dass ich eine klare Schlussfolgerung hätte ziehen können.

Erst als wir den kleinen Raum betraten, in dem ich meinen Mantel abgelegt hatte, öffnete sich auf einen Schlag mein Blick für andere Dinge, als ich durch die zweite Tür auf der anderen Seite sah, hinter der sich ein Wald aus Zahnrädern auftat.

Es klapperte weiter hinten, Metall traf auf Metall und dann fluchte jemand leise.

»Mr Lennox!«, rief Mr Reed durch die Tür und verschwand hinter einem wagenradgroßen Zahnrad, durch das man auf einige Riemen, eine riesenhafte Metallfeder und mehrere Kurbeln sehen konnte. Kupfer, Stahl und Messing glänzten um die Wette im Licht, das durch die schmalen Fenster an der einen Seite fiel, und ich war für einen Moment wie erstarrt.

»Jamie?«, hörte ich Mr Reed lauter werden und es schepperte weiter hinten.

»Ich bin hier«, ertönte eine Stimme aus der Maschine und dann sah ich kohlenschwarzes Haar zwischen einem Pendel und einer seltsamen Metallkonstruktion hindurchblitzen. »Die Übersetzungsstange zwischen M und L war nur im Lager verrutscht. Da muss sich ’ne Schraube gelockert haben«, erklärte die Stimme und dann sah ich ihn. Er kam zwischen den Teilen hervorgeklettert, hangelte sich an einer Stange, die über ihm hing, über eine Ansammlung von Zahnrädern und kam dann keine zwei Meter von mir entfernt mit seinen schweren Stiefeln auf dem Boden auf. Er war etwa so groß wie ich, vielleicht ein bisschen größer, das Gesicht und die lederne Weste ölverschmiert, die schwarze Hose verstaubt, einen breiten Werkzeuggürtel an der Hüfte. Er hatte breite Schultern, die schwarzen Haare zu einem Zopf im Nacken gebunden und einen markanten Dreitagebart. Sein Alter ließ sich durch all das schwarze Öl schwer bestimmen, aber er konnte kaum viel älter als ich sein.

»Mr Ree…«, begann er und blinzelte dann überrascht. »Oh, Miss. Äh, entschuldigen Sie mich«, stammelte er, machte ein verlegenes Gesicht und verschwand ebenfalls hinter dem riesigen Zahnrad. »Mr Reed?«, rief er und ich schnappte nach Luft.

Was war das nur für eine riesenhafte Maschine und warum baute man so etwas in einer Bibliothek? Neugierig setzte ich einen Schritt vor den anderen, erreichte den Türrahmen und dann war ich auf einmal mittendrin. Ich hielt meinen Rock zusammen, um nirgendwo hängen zu bleiben, schritt durch die schmalen Gänge zwischen den Teilen, las die Schilder und Markierungen, die mir nicht viel sagten, und konnte mich nicht sattsehen. Es roch nach Schmieröl und Metall, nach Hitze und Kraft, und obwohl ich nicht sehr viel Praktisches über Maschinen wusste, beeindruckte mich dieses Werk über alle Maßen.

»Da sind Sie ja. Sie können doch nicht einfach so hier herumspazieren!«, fuhr Mr Reed mich an und mir fiel auf, dass ich ganz vergessen hatte, wütend auf ihn zu sein. Selbst seine schroffen Worte konnten meine Begeisterung in diesem Moment nicht mindern.

»Es ist unglaublich«, brachte ich heraus und drehte mich einmal um meine eigene Achse, um die gesamte Pracht des Werkes zu erfassen. »Was macht sie?«, wollte ich wissen und Mr Reeds bittere Miene schmolz direkt vor meinen Augen dahin.

»Sie findet Bücher«, erklärte er milde und leider konnte ich nicht begreifen, was es bedeuten sollte. »Ich zeig’s Ihnen«, bot er etwas zu eifrig an und ein Lächeln versteckte sich in seinem Mundwinkel.

Ich folgte Mr Reed aus dem Zahnrädergewirr heraus, ein Weg, den ich allein nur schwer wiedergefunden hätte, und durchquerte den kleinen Raum, der die Maschine von dem Rundgang trennte.

Mr Reed lief ein paar Meter an der Wand entlang und wandte sich dann einem Verschlag zu, der zuvor meiner Aufmerksamkeit völlig entgangen war, da er die gleiche Holztäfelung wie der Rest der Wand aufwies. Der Bibliothekar zog einen Schlüsselbund hervor und schloss damit den Verschlag auf. Mit etwas Mühe stemmte er sich gegen die breiten Türen und schob sie zur Seite.

Vor mir erschien ein Podest, auf dem eine Schreibmaschinentastatur befestigt war. Dahinter war eine Reihe Plättchen angebracht und darüber ein paar metallene Schienen, die aus der Wand ragten.

»Nehmen wir an, Sie suchen ein Buch. Eines über Physik oder Gesellschaftsrecht«, begann Mr Reed seine Erklärung und zum ersten Mal an diesem Tag sah er mich wirklich an.

Und obwohl er immer noch der steife, geringschätzende Bibliothekar war, wirkte er nicht mehr ganz so unzugänglich wie zuvor. Diese Maschine begeisterte ihn und ich hörte ihm gespannt zu.

»Sie schreiben ein Wort mit den Tasten, das das Buch, welches Sie suchen, beschreibt und die Maschine sucht für Sie alle Bücher raus, die zuvor mit diesem Wort verbunden wurden«, führte er weiter aus und ich konnte nicht glauben, was er mir da erzählte. Das war wirklich spektakulär.

Ich starrte ihn zuerst nur fassungslos an, schaffte es aber schließlich, meinen Mund wieder zu schließen und fuhr mir dann mit der Zungenspitze über die Unterlippe, um sie etwas anzufeuchten, bevor ich sprach.

»Dürfte … ich das ausprobieren?«, fragte ich für meine Verhältnisse recht schüchtern und auf Mr Reeds Gesicht erschien ein Lächeln. Ein echtes, eines, das mich überraschte und gleichermaßen verwirrte.

»Aber natürlich, Miss Crumb«, gab er mir die Erlaubnis und wandte sich dann den Tasten zu. »Mr Lennox?«, rief er durch eine der Öffnungen, durch die die Schienen nach vorne führten und durch die man einen Blick auf die sich dahinter befindende Maschine werfen konnte.

»Bin gleich so weit!«, antwortete die Stimme des jungen Mannes aus den Tiefen des Raumes, gefolgt von einem lauten Knirschen. »Repariert und aufgezogen, Sir! Aber geben Sie mir einen Moment, damit ich hier wieder rauskomme, bevor Sie die Lady anwerfen.« Scheppern und polternde Schritte folgten, und dann tauchte der junge Mann mit dem ölverschmierten Gesicht auch schon in der Tür auf.

Mr Reed machte eine auffordernde Geste mit der Hand und ich riss meinen Blick von dem Mechaniker los, der mich ebenfalls anlächelte.

Zögerlich trat ich an das Podest, dachte einen Moment nach und legte dann meine Finger auf die Tasten. Sie ließen sich erstaunlich leicht drücken und jeder Buchstabe, den ich auswählte, erschien auf den Plättchen dahinter. Mit einem leisen Klackern kamen ein T, ein H, ein E und ein R zum Vorschein. Thermodynamik schrieb ich es aus und holte tief Luft, in der Erwartung, dass sofort etwas geschehen musste. Doch es passierte gar nichts.

»Habe ich was falsch gemacht?«, wollte ich wissen und der Mechaniker neben mir lachte. Er zog einen Lappen aus der Hosentasche und wischte sich das Gesicht sauber.

»Sie müssen nur bestätigen«, wies Mr Reed mich drauf hin und zeigte auf einen kleinen Hebel neben den Tasten.

Vorsichtig griff ich danach, zog ihn nach vorne und sofort begann die Maschine zu schnurren wie eine Katze, die gekrault werden wollte.

Zahnräder setzten sich in Bewegung, Federn spannten sich, Riemen drehten sich. Und ich konnte nicht anders, als mich vorzubeugen und durch die Öffnung in der Wand zu starren, wie ein Kind, das sich an der Fensterscheibe eines Süßwarengeschäftes die Nase platt drückte. Es war wie das erste Mal in die Sterne zu sehen, und ich hätte gerne laut gelacht wegen des überschäumenden Gefühls in meiner Brust.

Und dann kam etwas auf mich zu. Erschrocken wich ich zurück und drei schmale Holzkarten schossen aus der Öffnung hervor, stießen ans Ende der Schiene und blieben schwankend stehen. Diese Karten hatte ich auch in meiner Kammer gesehen. Die beiden Löcher am oberen Teil waren also die Aufhängung für diese Schiene.

Doch am erstaunlichsten war, dass all diese Karten die Titel von Büchern wiedergaben, in denen es um Thermodynamik ging. Die Thermodynamik chemischer Vorgänge von Helmholtz, Thermochemische Untersuchungen von Hermann Heinrich Hess und ein Lehrbuch der physikalischen Chemie.

»Umwerfend«, konnte ich nur sagen und Mr Reeds Lächeln verharrte auf seinen Lippen. Er sah recht ansehnlich aus, wenn er lächelte.

Doch dann verschwand es plötzlich, er straffte die Schultern, bekam wieder sein ernstes, verkniffenes Gesicht und räusperte sich dann dezent, während er eine silberne Taschenuhr hervorholte. »Gut. Nachdem Sie nun wissen, was es ist, überlasse ich Sie Mr Lennox«, klärte er mich auf, während er auf die Uhr spähte und sich dabei schon fast wieder abgewandt hatte. »Er hat dieses Monster gebaut und er wird Ihnen auch erklären, wie Sie in Zukunft die Karteikarten in die Schienen einhängen können.« Er nahm seine Brille von ihrem Platz an seiner Weste und setzte sie sich auf die Nase. »Aber passen Sie auf die vierte Stufe auf. Die ist locker«, sagte er, ließ die Uhr wieder in der Tasche verschwinden und ging.

Verwundert sah ich ihm nach, wie er in seinem Büro verschwand, und wusste nicht, was ich davon zu halten hatte. Wer war dieser Mann? Ein verklemmter, verstaubter Bibliothekar oder ein fortschrittsliebender Visionär? Und wie ließen sich diese zwei Seiten, die er mir bisher gezeigt hatte, in einer Person vereinbaren?

Wirklich kompliziert.

Animant Crumbs Staubchronik

Подняться наверх