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Das Erste oder das, in dem mein Onkel zu Besuch kam.

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Sie hat ihn blamiert, Charles! Schamlos öffnet sie den Mund und wirft mit altklugen Sätzen um sich«, jammerte meine Mutter meinem Vater vor und ich verdrehte die Augen. Sie musste auch immer alles so sehr dramatisieren.

»Jedes Mal, wenn ein junger Mann sie anspricht, macht sie alles kaputt. Wieso kann sie nicht wie alle anderen Mädchen sein, die einfach still sind?«, polterte sie weiter und ich konnte mir genau vorstellen, wie sie im Zimmer auf und ab lief, die eine Hand auf die Brust gelegt und mit der anderen sich Luft zufächelnd. »Julia Goodman, das ist ein stilles Mädchen und sie war schon mit siebzehn verlobt. Oder die älteste von den Bordley-Schwestern. Sie hat gewusst, in welchem Momenten es gut war zu schweigen, und sie war mit achtzehn sogar schon verheiratet!« Sie holte tief Luft. Zwar hörte ich es nicht, aber ich wusste es auch so.

Mein Vater dagegen, der wohl entweder am Kaminsims lehnte oder seine Schreibtischkante unter dem Gesäß hatte, hielt dann immer die Luft an und fragte sich genau wie ich, warum sie ständig von stillen Mädchen redete, aber niemals selbst still war.

»Aber deine missratene Tochter sitzt den ganzen Tag auf dem Dachboden in einem alten Sessel und verschlingt Bücher, anstatt zu lernen, wie man sich richtig zu verhalten hat!«, keifte sie nun und ich konnte förmlich vor mir sehen, wie sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen meines Vaters bildete.

»Ani weiß, wie man sich richtig zu verhalten hat, Darling!«, verteidigte er mich und ich lächelte.

Mein rechtes Bein wurde langsam taub und ich versuchte mich anders hinzusetzen, ohne das Ohr vom Lüftungsgitter des Kamins zu nehmen, das von der Küche durch Vaters Arbeitszimmer bis hinauf zum Dachboden reichte.

»Und warum tut sie’s dann nicht?«, rief meine Mutter aus und ich seufzte leise, weil ich genau wusste, was jetzt folgte. »Sie ist schon neunzehn, Charles! Neunzehn! Langsam habe ich den Eindruck, dass sie überhaupt kein richtiges Leben führen möchte. Immer nur Bücher, Bücher, Bücher. Und in ein paar Jahren wird sie eine alte Jungfer sein, die keiner mehr haben will, weil sie ihre blühenden Jahre auf einem alten, dreckigen Dachboden verplempert hat!« Meine Mutter begann zu schluchzen und mein Vater murmelte ein paar tröstende Worte.

Ich nahm den Kopf wieder hoch und ließ meinen Nacken knacken. Meine Mutter machte sich einfach nur unnötig Sorgen über Dinge, die mir völlig nebensächlich erschienen. Sie glaubte, dass heiraten und einen eigenen Haushalt zu führen das größte Glück einer jungen Frau sein müsste.

Doch meins war es eben nicht. Sollte ich doch ohne Mann enden, was machte das schon? Ich wurde vielleicht nicht reich, hätte keine eigene Kutsche und konnte mir nicht jedes halbe Jahr eine neue Garderobe zulegen, aber die öffentliche Bibliothek war kostenfrei und dort würde ich bestimmt glücklicher werden als mit einem stumpfsinnigen Mann in einem viel zu noblen Haus.

Ich klopfte mir den Staub vom Rock, zog meine Bluse zurecht und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus meiner Frisur gelöst hatte.

Fast sehnsüchtig sah ich zu meinem alten Sessel, dessen dunkelgrüner Samt an den Armlehnen etwas abgewetzt war und den meine Mutter schon vor Jahren aussortiert hatte, weil er ihr zu schäbig erschien.

Doch für mich war er ein Stück guter Erinnerungen und gehörte in mein Leben, genauso wie es die Bücher taten.

Am liebsten hätte ich mich wieder in seine ausgeleierten Sitzfedern gekuschelt, das Buch aufgeschlagen, das ich vorhin begonnen hatte, und einfach vergessen, dass dort draußen eine Welt mit Gesellschaften und heiratsvermittelnden Müttern existierte.

Aber Mary-Ann würde gleich zum Mittagessen klingeln und dann hatte ich unten zu sein.

Ich seufzte laut, klemmte mir einen schmalen Roman unter den Arm, raffte meine Röcke und kletterte die steilen Stufen nach unten in den ersten Stock.

Unser Haus war größer, als es sein müsste. Fand ich zumindest. Ich schätzte kleine Räume und Wände, die mir Sicherheit boten. Meine Mutter hingegen wollte alles weit haben und mochte es gar nicht, wenn irgendein Möbelstück an der falschen Stelle stand und so den Raum kleiner erscheinen ließ.

Ich schlich mich gerade lautlos am Arbeitszimmer meines Vaters vorbei, damit ich die beiden nicht störte und auch nicht von ihnen gehört wurde, als sich die Tür genau in diesem Moment öffnete.

»Ani!«, sprach Vater mich überrascht an und Mutter schob sich hastig an ihm vorbei, um sich zu mir auf den Flur zu drängen. Sie hakte sich bei mir unter, ein verschwörerisches Lächeln auf den Lippen, und ich war verwirrt über den plötzlichen Sinneswandel. Hatte sie nicht gerade noch geschluchzt und sich über mich geärgert?

»Du wirst nicht erraten, wer heute Morgen hier war, um vorzusprechen. Er gab vor, für deinen Vater etwas abgeben zu müssen, aber ich bin mir sicher, er war wegen dir hier«, säuselte meine Mutter und ich wusste ganz genau, wen sie meinte. George Michels. Mutters neuester Auserwählter, um mich erfolglos zu verkuppeln.

»Oh, wer kann das nur gewesen sein? Doch nicht etwa Mr Michels!«, rief ich übertrieben begeistert und Mutters Grinsen fiel in sich zusammen. Wenn sie in den Jahren mit mir als Tochter etwas gelernt hatte, dann war es, Ironie zu durchschauen.

»Animant! Ob du es glauben willst oder nicht, dieser Mann könnte deiner sein und du würdest ein gutes Leben in Wohlstand führen«, begann sie und ihre Augenbrauen zogen sich missbilligend zusammen.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut zu lachen, und biss mir auf die Unterlippe. Mr Michels war zwar ein netter Kerl, aber so geistreich wie ein Stück Brot und dabei auch noch außerordentlich tollpatschig, sodass er regelmäßig über seine eigenen Füße zu fallen pflegte.

»Er bohrt in der Nase, wenn er glaubt, dass niemand hinsieht«, sagte ich, während wir die ersten Stufen ins Erdgeschoss nach unten nahmen. Und das hatte ich nicht erfunden.

»Animant!«, empörte Mutter sich und hinter uns begann Vater zu prusten, nahm sich aber sofort zusammen, als Mutter auch ihm einen scharfen Blick zuwarf.

»Er sieht gut aus und er hat dreitausend Pfund im Jahr. Ihr solltet nicht so gehässig sein«, warf sie uns vor, entzog mir ihren Arm und ging die letzten Stufen allein, ehe sie im Salon verschwand. Die Spitze ihres Unterrocks raschelte übertrieben und unterstützte ihren wütenden Abgang, der uns zeigen sollte, wie unverständig wir in ihren Augen doch waren.

Ich zuckte nur mit den Schultern und Vater begann zu grinsen. Denn obwohl er nicht der Meinung war, dass es sich für eine junge Dame geziemte, allein zu bleiben, musste er sich hin und wieder doch über die fruchtlosen Versuche meiner Mutter amüsieren, die mit aller Macht versuchte, mich dazu zu bringen, der Männerwelt zugetan zu sein.

Er war davon überzeugt, dass es mich eines Tages genauso treffen würde wie alle anderen Mädchen in meinem Alter auch und dass mein Herz sich für einen der jungen Männer erwärmte, die meine Gesellschaft suchten.

Mir fehle bisher nur der Anreiz, hatte er einmal gegenüber meiner Mutter erwähnt und ich hatte oben am Ofenrohr nur mit dem Kopf geschüttelt. Ich konnte mir nicht vorstellen, was für ein Anreiz das sein sollte.

Geld war es nicht. Natürlich hatte ich nie erleben müssen, wie es war, wahrlich arm zu sein, aber selbst ohne Mann würde meine Erbschaft mich gut bis ins hohe Alter bringen. Vorausgesetzt, mich würde nicht schon vorher eine Lungenentzündung dahinraffen.

Sozialer Stand war es auch nicht. Ich machte mir nichts aus öffentlichen Veranstaltungen, Gesellschaften, Bällen und schon gar nicht aus dem edlen Getue des niederen Adels. Ich hatte kein Interesse an Titeln oder Ränkespielen der gehobenen Gesellschaft und fühlte mich dabei auch völlig fehl am Platz.

Das Einzige, was blieb und von dem ich sagen musste, dass es mir ein Rätsel war, war die Liebe. Ich hatte von ihr gelesen, war in Gedichten und Erzählungen den blumigen Ausschweifungen und pochenden Herzen gefolgt und hatte sie doch nicht begriffen. Wie war es möglich, dass man einen Menschen finden konnte, der ein Seelenverwandter war? Es gab Millionen Menschen auf diesem Planeten, wie hoch konnte da die Wahrscheinlichkeit sein, der Person zu begegnen, die für einen bestimmt war?

Mutter behauptete, dass man mit jedem Mann glücklich werden konnte, wenn man das nur wirklich wollte. Doch anscheinend wollte ich nicht wirklich, denn bisher hatte ich mir bei keinem ihrer Auserwählten vorstellen können, auch nur länger als eine Stunde so zu tun, als ob sie interessant wären.

Aber lag das wirklich an mir, oder vielleicht doch an den Männern, die mir bisher begegnet waren?

Stumm setzte ich mich zu meiner Mutter in den Salon und entschied, dass diese Art von Gedankenspiel mich nicht weiterbrachte und auch völlig unsinnig war.

Ich schlug den schmalen Roman auf, den ich für nur drei Penny im Buchladen in der Gardner Street erstanden hatte. Für seinen Preis war er recht umfangreich und erzählte die Geschichte von Jackson Throug während seiner Reise nach Indien und zurück. Ich war gerade an der Stelle, an der er genug Geld für die Überfahrt zusammengekratzt hatte und ein kleines Handelsschiff bestieg, dessen Captain mir doch sehr suspekt vorkam.

»Animant«, sprach Mutter mich an und ich blinzelte mich aus der Geschichte in die Wirklichkeit zurück. »Ich kann es einfach nicht verstehen. Was willst du denn?«, wollte sie von mir wissen und ich hob skeptisch die Augenbrauen.

»Ich will in Ruhe lesen, Mutter«, antwortete ich ihr, obwohl ich wusste, dass das nicht die Antwort auf ihre Frage war. Ihre Frage hatte sich auf meine Zukunft bezogen, auf den Typ Mann, den ich bevorzugen würde, und die Tätigkeit, die ich für mich ersann. Doch ich war es leid, diese Diskussion mit ihr zu führen, und wich ihrer Fragerei meistens aus, indem ich sie absichtlich missverstand.

Sie seufzte wieder laut auf und ich sah, wie ihre Stirn sich langsam rötlich färbte, während sie ihre Wut und Verzweiflung über mich zu unterdrücken versuchte. »Aber was ist mit morgen oder übermorgen?«, versuchte sie mich aus der Reserve zu locken. »Was ist nächstes Jahr oder in zwei Jahren?« Ihre Stimme klang noch sehr gefasst, aber trotzdem etwas gepresst. Ein bisschen tat sie mir leid, weil sie sich solche Mühe gab und mich doch nie verstehen würde.

»Keine Sorge, Mutter«, begann ich lieblich und wandte meine Augen wieder dem Buch zu, dessen papierner Einband sich glatt und kühl an meinen Fingern anfühlte. »Mir werden die Bücher schon nicht ausgehen«, sagte ich beschwichtigend und wartete auf den Seufzer, der unweigerlich folgen musste.

Er war lauter als erwartet und wurde noch nicht mal von Mary-Ann übertönt, die zum Essen läutete.

Das Essen begann still. Vater sprach das Tischgebet und häufte sich dann den Teller mit Kartoffeln und Kürbisgemüse voll. Mutter schmollte, aß demonstrativ wenig, um zu betonen, wie sehr ihre Nerven unter meinem Betragen litten und ich las ein wenig über die miserablen Zustände der Kajüte, in der Jackson Throug die nächsten Wochen zu verbringen hatte.

»Musst du denn sogar beim Essen lesen?«, tadelte mich Mutter streng und ich klappte das Buch sofort zu.

»Verzeih, Mutter. Ich hab mich durch meine Neugierde auf den Verlauf der Handlung hinreißen lassen«, behauptete ich und streckte den Rücken durch. Ich hatte sie heute genug gereizt, da war ein wenig Demut vor ihren Augen sicher nicht unangebracht.

Sie grummelte nur, schob dann den Teller von sich, als wäre schon der Anblick von Essen zu viel, und ich seufzte lautlos, während ich mir ein Stück Lamm in den Mund schob.

Es war so ein Moment, in dem die Welt im Ticken einer Uhr zu versinken drohte und jeder Kopf im Zimmer sich überlegte, was er sagen konnte, um der drückenden Stille ein Ende zu setzen.

Und dann erlöste uns die Türglocke.

»Wer kann das nur sein?«, rief Mutter sofort, die Miene erhellt, und hob den Kopf, um durch die halb geschlossene Tür in den Flur zu spähen. »Erwartest du jemanden?«, wandte sie sich dann an Vater und gab es auf, sich den Hals zu verrenken, da sie von ihrem Platz aus sowieso niemals bis zur Tür hätte sehen können.

»Nicht dass ich wüsste«, gab Vater zurück, nachdem er geschluckt hatte, und wischte sich mit einer Servierte das Öl vom Schnauzbart.

Als hätte jemand eine Kerze entzündet, fingen Mutters Augen plötzlich an zu leuchten und ihr Blick wanderte zu mir. »Und du?«, erkundigte sie sich in erwartungsvollen Ton und ich rollte nur mit den Augen.

»Mutter!«, ermahnte ich sie. »Vielleicht ist es ein Brief oder Mr Smith, weil Dolly sich schon wieder die Fessel verstaucht hat«, begann ich das Licht in ihren Augen durch belanglose Vermutungen zu löschen und Mutter zog beleidigt eine Schnute.

»Das wäre aber sehr ungünstig. Ich hatte einen Ausflug an die Seen geplant und ich brauche Dolly vorne an meinem Einspanner, weil ihr Fell so schön zu meinem Nachmittagskleid passt«, fing sie sofort an, obwohl ich nur wild spekuliert hatte. Draußen im Flur wurde Mary-Anns Stimme lauter.

»Sir, der Mantel. Ich bitte Sie, die Herrschaften …«, versuchte sie auf jemanden einzureden und hatte offenbar wenig Erfolg. Denn nur einen Moment später wurde die Tür schon schwungvoll aufgerissen und ein großer, bäriger Mann mit nassem Ulster und einem Zylinder auf dem Kopf stürmte ins Zimmer. Sein blau karierter Flanellschal flatterte im Windzug der Tür und er breitete die Arme aus.

»Überraschung!«, rief er mit seiner angenehmen Stimme und ich sprang so hastig auf, dass hinter mir beinahe der Stuhl umfiel.

»Onkel Alfred!«, quiekte ich recht undamenhaft und war drauf und dran, mich wie ein kleines Kind in seine Arme zu werfen. Da drängte sich Mary-Ann hinter ihm durch die Tür und stellte sich mir so ungeschickt in den Weg, dass der Moment der spontanen Reaktion verstrich und ich mir bewusst wurde, dass ich kein Kind mehr war und dass Mutter mich umbringen würde, wenn Regenflecken auf die Seide meiner Bluse kamen.

»Alfred!«, rief auch Vater. »Welch angenehme Überraschung. Was führt dich hier raus zu uns?«

Onkel Alfred zog sich den Schal vom Hals und reichte ihn der wartenden Mary-Ann. »Ach, nur ein paar Besorgungen. Nichts wirklich Wichtiges«, erklärte er und knöpfte den schweren Mantel auf, der mir zeigte, dass es in London kälter war als hier bei uns auf dem Land.

Wir wohnten natürlich nicht wirklich auf dem Land. Doch wenn man unsere kleine Stadt mit einer wie London verglich, dann konnte man es schon als recht ländliche Gegend bezeichnen.

Onkel Alfred reichte den Mantel der armen Mary-Ann, die unter der schieren Masse an Stoff beinahe unterging und sich vorsichtig rückwärts aus dem Zimmer schob.

»Setz dich. Iss was. Mary-Ann wird dir ein Gedeck bringen«, bot Mutter ihm an und lächelte, obwohl wir alle sehen konnten, dass sie verstimmt war. Was nicht an Onkel Alfred lag, sondern nur an ihren zu hohen Erwartungen an einen Besuch, der am besten nicht zur Familie gehörte und im heiratsfähigen Alter war.

Doch Onkel Alfred war viel zu gut gelaunt, um die verkniffenen Falten in ihren Mundwinkeln zu sehen, und zog sich den Stuhl neben meinem Vater raus. Als er sein massiges Gewicht auf das filigrane Mahagonimöbelstück fallen ließ, knarrte es gefährlich und Mutter krallte ihre Finger unauffällig in ihrem Schoß zusammen. Still schien sie zu beten, dass das Gewicht meines Onkels ihren geliebten Stühlen nichts anhaben würde.

Man konnte nicht behaupten, dass Onkel Alfred wirklich dick war. Doch er war groß, genau wie Vater auch, und hatte von Natur aus das breite Kreuz eines Hafenarbeiters. Dann kamen da noch ein paar Wohlstandspfunde dazu und schon hatte man einen Mann von gewaltiger Statur. Vater wirkte dagegen eher schmal. Ihm war es beschert, nach seiner Mutter zu kommen, während sein Bruder die Eigenschaften ihres Vaters geerbt hatte.

Und ich liebte Onkel Alfred. Er war witzig und geistreich, weltgewandt und würde sich fantastisch in einem Roman machen. Als Kind hatte ich mit großen Augen an seinen Lippen gehangen und jedes Wort, jede Geschichte in mich aufgesaugt. Er hatte von fremden Ländern geredet, von Städten und Bauten, von Menschen und Kulturen. All das, von dem ich nur träumen und lesen konnte.

Mittlerweile war zwar auch er sesshaft geworden, hatte sich eine Frau gesucht und bestritt einen hohen Posten im Personalwesen der Royal University of London, doch an Scharfsinn und Witz hatte er nicht eingebüßt.

»Animant«, sprach er mich an, nachdem er mit meiner Mutter die üblichen Nichtigkeiten über das Befinden und die Familie ausgetauscht und Mary-Ann ihm ein Gedeck gebracht hatte. »Und, Mädchen, was liest du zurzeit?«, wollte er wissen und bediente sich aus den Schüsseln mit Gemüse, Fleisch und Kartoffeln.

Ich ließ ein schüchternes Lächeln sehen. Alle Welt wusste, dass ich gerne las, dass ich eigentlich nichts anderes tat, doch die wenigsten fragten mich nach meiner aktuellen Lektüre. Selbst mein Vater hatte irgendwann aufgegeben, mich nach den Titeln zu fragen, die so schnell wechselten wie die Tageszeiten.

»Einen Diskurs über moderne Mathematik und ihren Einfluss auf unsere Sicht der physikalischen Gesetze, einen Bericht über die Gründung der Börse in Amerika 1792 und einen Roman über Jackson Throug’s Reise nach Indien«, zählte ich die Titel auf und Onkel Alfred brach in schallendes Gelächter aus.

Vater lachte mit, einfach weil es ihm guttat, die ausgelassene Stimmung seines Bruders zu teilen, und Mutter sah mich an, als ob ich gerade behauptet hätte, die Cholera heilen zu können. Ich lächelte nur eisern weiter, wusste nicht, was es zu bedeuten hatte; fühlte mich fremd bei dem Gedanken, nicht diejenige zu sein, die den Weitblick über die Situation hatte, und zog unauffällig das Buch neben meinem Teller vom Tischrand und auf meinen Schoß, damit meine Finger sich daran klammern konnten.

»Du bist wirklich unglaublich, Ani«, prustete mein Onkel und ich nahm an, dass es sich dabei um ein Kompliment handelte. »Ich kenne nur wenige Leute, die so viel lesen wie du«, fügte er hinzu und diesmal konnte ich den anerkennenden Ton deutlich heraushören. Verlegen zuckte ich mit den Schultern, weil ich mit der unerwarteten Ehre nicht umgehen konnte, und war bemüht, mich zusammenzunehmen, damit mir die Röte nicht ins Gesicht stieg.

»Mich wundert, dass du überhaupt Menschen kennst, die so viel lesen«, warf meine Mutter ruppig ein, der nicht mal im Traum einfallen würde, mich dafür auch noch zu loben. Hätte sie es mal gemacht, vielleicht hätte ich mich dann dazu erbarmt, netter zu ihren auserwählten Schwiegersöhnen zu sein.

»Oh, da gab es einen Mann in Neuseeland, der hat einfach alles gelesen, was er zwischen die Finger bekommen hat, und als es nicht genug war, hat er selbst angefangen zu schreiben«, begann Onkel Alfred ausschweifend zu erzählen und schob sich eine Gabel voll Essen in den Mund. »Und dann gibt es in London diesen Bibliothekar, der …«, nuschelte er zwischen Fleisch und Kartoffeln und seine Augen, die erst so glänzend und in Erzähllaune geleuchtet hatten, verdunkelten sich schlagartig und wurden durch seine buschigen Brauen überschattet. »Oh, dieser Kerl!«, knurrte er verbissen und seine Zähne zermahlten das Fleisch mit einem Knirschen. Doch er atmete tief durch, schüttelte seine plötzliche Wut wieder ab und versuchte sich an einem neutralen Gesichtsausdruck.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte Vater sich, während er sein drittes Stück Fleisch zerteilte und Onkel Alfred verkniffen nickte.

»Ach«, wehrte er ab und drei Augenpaare sahen ihn erwartungsvoll an. Er hatte unsere Neugierde geweckt. Er sah von Vater zu Mutter und zu mir und dann wieder zurück. »Es sind nur ein paar Personalprobleme«, erklärte er trocken und seine großen Hände schlossen sich fester um das Besteck. »Die mich allerdings in den Wahnsinn treiben!«, fügte er recht energisch hinzu und ich machte mir ein wenig Sorgen. Mein Onkel war für gewöhnlich ein heiterer Geselle, Sorgen standen ihm nicht.

»Iss, Animant«, ermahnte Mutter mich flüsternd und ich ließ die Finger vom Buch auf meinem Schoß und nahm das Besteck zur Hand, ohne den Blick von meinem Onkel abzuwenden.

»Macht er dir Ärger?«, wollte Vater gerade wissen und Onkel Alfred schnaubte, begann allerdings wieder zu essen, was schon mal ein gutes Zeichen war.

»Ärger ist das falsche Wort, Charles«, erwiderte er zwischen zwei Bissen und wedelte mit der Gabel in der Luft herum. »Ein kleinkarierter Bürokratenarsch ist er, dieser Bibliothekar!«, schimpfte er los und meine Mutter zuckte bei der derben Wortwahl zusammen, was mich zum Grinsen brachte und auch Onkel Alfreds Gesicht hellte sich immer weiter auf. »Ihr müsstet ihn sehen«, meinte er und das Lachen kehrte in seine Stimme zurück. »Mit seiner albernen Lesebrille, den gebügelten Hemden und dem Stock im Hintern. Er ist der Bibliothekar der Royal University Library und er hat so viel zu tun, dass er einen Assistenten benötigt. Doch alle Literatur-Absolventen, die sich zu diesem Job bereit erklären, kündigen manchmal schon nach wenigen Tagen oder werden von ihm zum Teufel gejagt. Niemand wird seinen Ansprüchen gerecht, keiner kann seinen Anforderungen genügen und ich bin bald so weit, irgendwen doppelt zu bezahlen, nur damit er den Job behält.«

»Ist er denn sehr herrisch?«, erkundigte sich Mutter vorsichtig und mein Onkel lachte auf.

»Nein, nur verschroben und zu allem bereit. Wenn ich nicht wüsste, dass die Haushälterin im Personaltrakt ständig über seine Unordnung fluchen würde, hätte ich behauptet, er schläft sogar zwischen seinen Büchern.« Onkel Alfred wischte mit einer Kartoffel das Öl aus dem Kürbisgemüse auf und schob sie sich dann in den Mund. Öl tropfte in seinen Bart und er sah aus wie ein wilder Straßenarbeiter.

Ich versuchte nicht daran zu denken, wie es in meinem Zimmer aussah, und nahm ein wenig Kürbis auf die Gabel. All die Bücher, die schon aus meinen Regalen quollen und sich unter meinem Bett stapelten. Wenn man es genau nahm, schlief ich schon seit Langem zwischen meinen Büchern.

Doch es ging hier ja nicht um mich. Schließlich war ich eine junge Frau mit Wissensdurst und kein kauziger, verstaubter, alter Bibliothekar.

»Wenn mir nicht die Universitätsleitung im Nacken sitzen würde, wäre das auch alles nicht der Rede wert. Wir würden uns in Ruhe zusammensetzen und ich würde dem Jungspund die Leviten lesen«, sagte mein Onkel belustigt und ich stolperte über das Wort Jungspund, weil es sich nicht mit dem Bild in meinem Kopf vereinen ließ, das ich mir von dem Bibliothekar gemacht hatte. In meiner Vorstellung waren Bibliothekare alt und nicht jung.

»Wie kann ich dir helfen?«, bot Vater an, so wie er nun mal war, denn seine Hilfsbereitschaft zählte zu seinen größten Stärken. Wenn es allerdings nach meiner Mutter ging, würde man es als Schwäche betrachten, denn seine Hilfsdienste ließen ihn oft lange ausgehen und meine Mutter langweilte sich dann zu Tode oder begann, ihre Träume über meine baldige Hochzeit bis ins kleinste Detail weiter auszuspinnen, um sich den Tag zu versüßen.

»Macht euch in dieser Sache bloß keine Gedanken«, erwiderte Onkel Alfred. »Ich werde schon jemanden finden, der genauso in Bücher verliebt ist wie dieser verrückte Bibliothekar«, rief er lachend und wischte sich mit einer Serviette den Bart sauber.

»Animant zum Beispiel«, zischte Mutter mir zu und ich tat, als ob ich es nicht gehört hätte, weil sie mir damit nur einen Seitenhieb verpassen wollte.

Doch Vater hatte es ganz genau gehört. Er holte tief Luft, seine Augen weiteten sich, als ihm eine Idee kam, und dann wandte er sich an seinen Bruder. »Wieso eigentlich nicht?«, fragte er und Onkel Alfred sah ihn zweifelnd an, in der Erwartung, dass Vater einen Scherz mit ihm machte.

Aber es war kein Scherz. Nichts in seinem Gesicht wies darauf hin, dass Vater es nicht völlig ernst meinte und die Idee zweifelsohne auch noch gut fand. Mir blieb für einen Moment das Herz stehen, weil ich so erschrocken darüber war, und ich biss aus Versehen auf ein Pfefferkorn, das sich im Gemüse versteckt hatte. Alles in meinem Mund zog sich zusammen und ich war bemüht, äußerlich die Fassung zu bewahren.

»Sie hat zwar nicht studiert, aber mit Büchern kennt sie sich allemal aus«, begann Vater seine Idee zu formulieren und Mutter schnitt ihm sofort das Wort ab.

»Bist du verrückt geworden? Sie ist eine junge Dame höherer Gesellschaft und du schlägst vor, dass sie arbeiten geht?«, keifte sie los und die Empörung trieb ihr die Röte auf die Stirn. »Das wäre ein Skandal!«

»Wäre es nicht, Darling«, versuchte Vater sie zu beschwichtigen. »Sie würde mal rauskommen und wäre gezwungen, ihren schlauen Kopf auch zu benutzen.«

»Aber sie müsste allein nach London«, redete Mutter bereits weiter und nun war es Onkel Alfred, der sie unterbrach.

»Sie wäre doch nicht allein, Charlotte«, widersprach er ihr und zog ein skeptisches Gesicht. »Sie würde bei Lillian und mir wohnen.«

Vater wandte seinem Bruder erstaunt den Blick zu. »Du unterstützt meine Idee?«, fragte er überrascht und mir schwirrte langsam der Kopf.

War gerade ernsthaft im Gespräch, mich nach London zu schicken, damit ich dort in einer Bibliothek arbeitete? Und war mir das überhaupt recht?

Der Gedanke, den Tag mit stupiden Arbeiten zu verbringen, anstatt einfach bequem in meinem Sessel zu sitzen und zu lesen, war mir nicht unbedingt willkommen. Aber wenn es bedeuten würde, nach London zu gehen, Neues zu lernen und wenigstens für eine gewisse Zeit der Hochzeitsplanung meiner Mutter zu entkommen, klang der Vorschlag tatsächlich verlockend.

»Deine Tochter ist schlau und sie lässt sich nicht so schnell unterkriegen. Sie wäre die perfekte Alternative zu meiner bisherigen Strategie. Und wenn es doch nichts werden sollte, dann hab ich diesen Besserwisser von einem Bibliothekar wenigstens ein bisschen geärgert«, senkte Onkel Alfred verschwörerisch die Stimme und Vater lachte.

»Niemand wird hier geärgert! Schon gar nicht ich!«, ging Mutter sofort wieder dazwischen. »Sie wird hierbleiben! Bei ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen. Sie ist doch kein Versuchsobjekt, das ihr nach London zerren und zum Arbeiten zwingen könnt, nur um zu sehen, was daraus werden könnte!« Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und ich wartete nur darauf, dass sie damit auf den Tisch schlug wie ein Auktionator mit seinem Hämmerchen.

Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten. Verkauft. Animant Crumb, für dreitausend Pfund im Jahr an den jungen Herrn mit dem blonden Schnauzer und der hässlichen fliederfarbenen Weste.

Ich blinzelte meine unsinnigen Gedanken weg, die mir eine unangenehme Gänsehaut bescherten, und ließ das Besteck wieder auf meinen Teller sinken.

Ganz sicher würde ich nicht hier herumsitzen und darauf warten, dass Mutter mich so weit zermürbte, dass ich irgendwann ihrem Drängen nachgab und einen Mann heiratete, den ich nicht wollte, nur damit sie Ruhe gab. Diese Vorstellung behagte mir gar nicht, und ich wäre sogar bereit, ein wenig zu arbeiten, nur um ihr für eine Weile zu entkommen.

»Es muss ja nicht für lange sein«, behauptete Onkel Alfred und verzog grimmig den Mund über die Starrköpfigkeit seiner Schwägerin. »Ein Monat wäre schon ziemlich lang bei diesem Mann.«

»Nein!«, rief Mutter und stand demonstrativ von ihrem Stuhl auf, der quietschend über die Bodenvertäfelung kratzte. »Sie wird nicht nach London fahren! Und das ist mein letztes Wort!«

Animant Crumbs Staubchronik

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