Читать книгу Animant Crumbs Staubchronik - Lin Rina - Страница 14
Das Achte oder das, in dem ich eine tollkühne Tat plante.
ОглавлениеEs war nicht so einfach zu verstehen, wie die Karteikarten in die Maschine sortiert wurden, sodass sie auch korrekt wieder abgerufen werden konnten. Hinzu kam, dass Jamie Lennox zwar ein gesprächiger Bursche, aber ein miserabler Lehrer war. Und als ich das System endlich begriff, hatte ich unfreiwillig ebenfalls erfahren, dass Mr Lennox’ Familie aus Nordengland stammte, sie allesamt Uhrmacher waren, sein Vater die Maschine entworfen hatte und dass seine Mutter diese Arbeit mit den großen Teilen gar nicht schätzte.
Er war höflich und nett und aus irgendeinem Grund mochte ich ihn, ganz gleich, dass er viel zu viel redete. Er war nicht dumm, auch wenn er sich nicht so gewählt ausdrückte wie die feine Gesellschaft, und ich beantwortete ihm sogar seine Fragen zu meiner Person und wie es dazu gekommen war, dass ich jetzt hier arbeitete, obwohl es für gewöhnlich nicht meine Art war, fremden Männern so was auf die Nase zu binden. Er brachte mich dreimal zum Lachen und gegen Ende konnte ich mich des Eindrucks nicht mehr erwehren, dass er versuchte, mich mit seinem Charme für sich zu gewinnen.
Der Klang von Big Ben ließ ihn nach einer vergangenen Stunde jedoch zusammenschrecken, er entschuldigte sich eilig und packte sein Werkzeug zusammen.
»Sagen Sie Mr Reed, wenn er zurück ist, dass ich mich nächste Woche um die Stufe kümmere. Ich muss jetzt los«, teilte er mir mit und ich runzelte die Stirn.
»Wenn Mr Reed wieder zurück ist? Wo ist er denn hin?«, fragte ich nach und Mr Lennox zuckte nur mit den Schultern.
»Was weiß ich. Ich weiß nur, dass er jeden Mittwoch gegen Mittag spurlos verschwindet«, behauptete er.
Ich sah ihm hinterher, wie er die Stufen nach unten lief, Cody grüßte und dann durch den Haupteingang verschwand.
Mich ließ die Aussage nicht los, Mr Reed würde einfach verschwinden, und ich ging die paar Schritte bis zu seinem Büro, um dort unauffällig an der Tür zu lauschen. Schon der erste Eindruck war, dass sich niemand darin befand und nach einigen Sekunden wurde es mir bestätigt. Ich hatte genug Erfahrung im Lauschen, dass ich sehr schnell wusste, ob ein Raum verlassen war oder nicht.
Also ging ich den Rundgang entlang, sortierte ein paar Bücher, die mir gerade ins Auge sprangen, und hielt Ausschau. Er war weder im Lesesaal noch im Foyer. Ich stieg die Treppen nach unten und sah kurz in den Seitenflügeln nach. Doch Mr Reed blieb verschwunden.
Der einzige Ort, an dem ich nicht nachsah, war das Archiv. Falls er dort war, befand sich das außerhalb meines Interessenbereiches, denn ich würde nicht nach ihm suchen gehen.
Schlendernd ging ich zurück in meine Kammer, nietete Metallplättchen auf Buchrücken, bis mir vor Anstrengung die Arme zitterten, und ging dann zurück ins Foyer, um die Rückgaben zu sortieren.
Ein Blick auf die Uhr erinnerte mich daran, dass ich vergessen hatte, meine Mittagspause zu machen und ich ärgerte mich ein wenig über mich selbst.
»Cody, darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, sprach ich den Jungen an, der gerade zurückkam, um den nächsten Schwung Bücher bei mir abzuholen.
Er sah verstohlen auf seine Hände und nickte zaghaft. Ich war mir nicht sicher, ob er mir antworten würde, schließlich hatte er bisher in meiner Gegenwart keinen Ton rausgebracht.
Da ich ihn nicht in eine für ihn unangenehme Lage bringen wollte, entschied ich mich, meine Fragen so zu formulieren, dass er sie mit einer Kopfbewegung beantworten konnte.
»Verschwindet Mr Reed jeden Mittwochmittag?«, erkundigte ich mich und Cody nickte. Schon mal ein kleiner Erfolg für meine Taktik.
»Kommt er denn wieder?«, fragte ich weiter und Cody schüttelte den Kopf.
Das war wirklich äußerst seltsam. Mr Reed ging zu Mittag und nahm sich den Nachmittag einfach frei? Das war schon wieder etwas, das zu seinem Wesen überhaupt nicht zu passen schien. Ich schätzte ihn als einen Mann ein, der eher länger blieb, als früher zu gehen, und er hatte mir bereits selbst gesagt, dass er seine Arbeit sehr ernst nahm.
Was gab es also, das wichtiger war als seine geliebte Bibliothek?
»Wissen Sie denn, wo er hingeht?«, erkundigte ich mich und Cody schüttelte wieder den Kopf, während er Bücher von dem Ständer vor mir auf einen Bücherwagen umlud.
Einerseits irritierte es mich, dass ich nun allein und ohne Aufsicht von Mr Reed in diesen Räumen war, andererseits ließ es mich in einer gewissen Weise aufatmen. Sein unsichtbarer Blick, der immer schwer auf mir gelastet hatte, war verschwunden und ich fühlte mich weit weniger beobachtet, auch wenn mir die skeptischen Blicke der Studenten immer noch überallhin folgten.
Eine arbeitende Frau war keinem von ihnen geheuer und oft flüsterten sie über mich. Doch solche Anfeindungen war ich gewöhnt. Zu Hause in unserem Städtchen sahen mich die meisten so an, Männer wie Frauen, und sie tuschelten über das seltsame Mädchen, das sich immer hinter seinen Büchern versteckte.
Sollten sie doch reden. Was wussten sie schon?
Ich ging und holte mir einen Tee und ein Stück Plundergebäck in der Cafeteria. Da Mr Reed ja nicht da war, hatte ich auch kein schlechtes Gewissen, einfach außerhalb meiner Pausenzeiten zu verschwinden, schließlich hatte ich meine Mittagspause heute ausgelassen.
Während ich meine Tasse über den Hof und den unebenen Weg bis zur Bibliothek balancierte und stark darauf achten musste, mir dabei nicht den Handrücken zu verbrennen, dachte ich darüber nach, wie ich es anstellen könnte, mir meinen Tee künftig in der Bibliothek zuzubereiten, denn die gegenwärtige Methode war doch reichlich unzweckmäßig.
Als ich in dem Zimmerchen angekommen war, durch das man in das Innenleben der Maschine gelangte, setzte ich mich dort an den Tisch und packte mein Plundergebäck aus. Es war nicht im Geringsten gemütlich hier drinnen und ich nahm mir vor, die ganze hintere Wand von dem Gerümpel zu befreien, sobald ich Zeit dafür fand.
Meine Gedanken sprangen weiter und wieder zurück zu dem Bibliothekar. Was tat er gerade wohl?, stellte sich mir die Frage und ich sinnierte darüber, während ich einen Schluck Tee trank. Jetzt war er kalt.
Der Donnerstag begann wie der Tag davor. Ich war wieder ein paar Minuten vor Mr Reed an der Bibliothek und sein morgendlicher Gruß fiel erneut ein wenig freundlicher aus als am Tag zuvor. Ich sortierte die Zeitung, bezahlte Phillip Tams, brachte den Gang ins Archiv mit dem gleichen Schreck in den Gliedern hinter mich und verschwand dann in meiner Kammer, um die Karteikarten für die Maschine zu bedrucken.
Ich hatte gerade mal die Hälfte der neuen Bücher aus den Kisten geholt, in den Katalog aufgenommen, beschriftet, genietet und die Schlagwörter überflogen, aber es fühlte sich trotzdem nach unglaublich viel an, was ich in den vergangenen drei Tagen geschafft hatte. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass Mr Reed jemals stolz auf mich sein würde, aber ich war es und ich würde mir das sicher nicht nehmen lassen.
Höchstpersönlich lud ich die neuen Bücher auf einen Wagen und brachte sie an die Stellen, an denen sie in Zukunft stehen würden.
»Entschuldigen Sie, Miss, Sie haben hier nichts verloren«, hörte ich plötzlich ein paar Regalreihen vor mir Oscars Stimme, die ein wenig zu laut klang für die Stille, die in der Bibliothek vorherrschte.
»Ich muss nur ganz schnell was nachschlagen«, antwortete ihm eine weibliche Stimme, deren kratziger Nachhall mir sofort bekannt vorkam.
»Nein, Miss. Diese Bibliothek ist ausschließlich den Studenten der Royal University und ihren Gönnern vorbehalten. Sie …«, redete Oscar auf sie ein und wurde unterbrochen.
»Die alle männlich sind! Schon verstanden. Aber ich pfeif drauf!«, warf die Frau ihm an den Kopf und nun war ich mir sicher.
Es war Elisa Hemmilton.
Ich legte das Buch, das ich gerade einsortieren wollte, wieder zurück auf den Wagen und ging mit schnellen Schritten in ihre Richtung.
»Miss, geben Sie das Buch her!«, fauchte Oscar recht ungehalten und ich sah, wie er sich an das eine Ende eines dicken Wälzers klammerte. Elisa kam in mein Blickfeld, das Gesicht angestrengt verzogen, die Finger um den ledernen Einband geschlossen, an dem sie verzweifelt zog.
Ich stellte mich neben die Streithähne, die so komisch wirkten, dass man eigentlich über sie hätte lachen müssen. Elisa war einen halben Kopf größer als Oscar, doch er war sicher doppelt so breit wie ihre schmale Statur. Ihre Münder waren wutverzerrt und sie wirkten wie Karikaturen ihrer selbst.
Geräuschvoll räusperte ich mich.
Sie zuckten beide so erschrocken zusammen, als hätte ich sie geohrfeigt. Oscars Hände rutschen vom Buch ab. Elisa taumelte einen Schritt zurück.
»Geben Sie mir das Buch«, sagte ich streng und streckte fordernd die Hand danach aus. Elisa sah mich erst überrascht an, während ich ihren Blick erwiderte, als wäre sie eine Fremde, und dann musterte sie mich misstrauisch mit zusammengekniffenen Augen. Das Buch reichte sie mir widerstandslos.
Es war schwer und ich konnte mir den Titel nicht ansehen, da ich keinen aus den Augen verlieren wollte, um nicht an Autorität einzubüßen.
»Miss Crumb«, begann Oscar zu einer Erklärung anzusetzen, doch ich schnitt ihm das Wort ab.
»Ich kümmere mich darum«, gab ich mit fester Stimme zurück. »Danke, Oscar. Sie können jetzt gehen.« Mein Gesicht regte sich keinen Millimeter aus seiner erhabenen Starre.
Oscar sah mich mit großen Augen an, während ihm die Röte ins Gesicht schoss, nickte schließlich und nahm Reißaus.
Ich wartete ab, bis seine Schritte weit genug weg waren, und ließ das Lächeln auf meine Lippen gleiten, das dort schon die ganze Zeit über lauerte.
»Was machst du denn hier?«, wollte ich wissen und Elisa atmete erleichtert auf.
»Verdammt, hast du mir einen Schreck eingejagt«, flüsterte sie und wedelte sich mit einem dunkelroten Handschuh Luft zu. »Dasselbe könnte ich dich fragen. Warum in Teufels Namen hört dieser engstirnige Laufbursche auf dich?«
»Ich arbeite hier«, gestand ich und reichte ihr das Buch zurück. Es war ein Manifest über die Bürgerrechte der Rassen in Amerika. »Ich bin die neue Bibliothekarsassistentin.«
Es schien beinahe, als müssten Elisa jeden Moment die Augen aus dem Kopf fallen, so schockiert starrte sie mich an.
»Ach du meine Güte«, entfuhr es ihr und ich beschloss, dass es für uns wahrscheinlich besser wäre, uns an einem Ort zu unterhalten, an dem uns nicht jeder sehen konnte.
»Komm mit«, bedeutete ich ihr, ging ans Ende des Regals und sah den Gang nach unten. Es war niemand auf dem langen Flur und die Studenten im Lesesaal, die uns möglicherweise hätten sehen können, waren vertieft in ihre Lektüren.
Wir überquerten den Flur und ich öffnete Elisa die Tür zu der Kammer, in der es immer noch viel zu viel zu tun gab.
»Das ist doch unvorstellbar!«, platzte es aus Elisa heraus, sobald ich die Tür hinter uns geschlossen hatte. Amüsiert schüttelte ich den Kopf über ihr überschwängliches Gemüt. »Wenn ich das mal gewusst hätte! Unvorstellbar!«, wiederholte sie sich und begann, hin und her zu laufen.
»Du hast nicht gefragt«, erwiderte ich nüchtern und sie hielt kurz inne, legte das Buch ab und schritt dann weiter.
»Du hast absolut recht. Ich dachte, es wäre nicht so wichtig, und nun stellt sich heraus, dass du an der Quelle sitzt. Es war arrogant von mir, nicht nachzufragen. Ich hätte mir erspart, mir die Strümpfe an den Rosenbüschen kaputtzureißen, als ich zum Fenster eingestiegen bin«, faselte sie und ich bedachte sie mit einem zweifelnden Blick. Sie hatte einen Hang zur Übertreibung und sicher auch einen zur Theatralik.
»Elisa, wieso steigst du in eine Bibliothek ein?«, stoppte ich ihren unsinnigen Redefluss und sie sah mich erstaunt an.
»Weil ich die Bücher brauche!«, sagte sie, als sei es selbstverständlich. »Unsere Bibliothek ist ein Witz gegen diese hier. Wir haben Hunderte Bücher über Haushaltsführung und Kunst. Aber Rechtswesen, Politik, Philosophie sind immer verliehen, weil es so wenige sind, oder sie fehlen gänzlich«, beschwerte Elisa sich und ich setzte mich auf einen Stuhl. Ich zog noch einen heran, den ich schräg neben mir postierte in der Hoffnung, Elisa würde ihren Lauf aufgeben und sich zu mir setzen.
Doch sie schien zu aufgebracht zu sein, um dieser stillen Aufforderung nachkommen zu wollen. »Sie werfen uns das Wissen häppchenweise hin, als ob wir zu dumm wären, mehr zu begreifen. Ich könnte mir die Haare raufen, aber dann würde meine Gönnerin mich wieder rügen, dass ich rumliefe wie eine Hübschlerin.«
Es war nicht zum Lachen und trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen. Diese originelle Art, mit der sie Wichtiges und Unwichtiges in einem Satz vereinte, war es, die sie in diesem Moment so witzig machte.
»Ach, lach doch nicht, Animant«, warf sie mir vor und hatte selbst schon das Lachen halb in der Stimme.
»Es tut mir leid«, versuchte ich mich zu entschuldigen und riss mich etwas zusammen. »Du bist also hier eingebrochen, um ein Buch zu lesen«, hielt ich fest und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Ich war verrückt nach Büchern und trotzdem wäre mir nicht im Traum eingefallen, dafür durch das Fenster eines Gebäudes zu steigen, in das mir der Einlass verwehrt wurde.
Endlich ließ Elisa sich auf den Stuhl fallen, den ich ihr zurechtgeschoben hatte, und seufzte laut. Das Hin-und-her-Gelaufe hatte mich auch sehr irritiert.
»Ja, das bin ich«, gestand sie und sah sehnsüchtig zu dem Wälzer, der auf der Tischkante lag. »Ich wollte ein paar kleine Absätze lesen, obwohl ich eigentlich das ganze Buch brauchen könnte. Und dann hat mich dieser Kerl dabei erwischt«, schimpfte sie und obwohl sie sich gefasst gab, konnte ich sehen, wie verzweifelt sie hinter der ruhigen Fassade war. Es musste auch wirklich frustrierend sein, nicht das lesen zu können, was man wollte oder brauchte.
Und in mir entstand der Wunsch, ihr zu helfen. Es war so ungerecht, dass man ihr den Zutritt verwehrte, dass ich es einfach nicht zulassen konnte.
»Ich verleih es dir«, sagte ich und Elisas Blick schoss in meine Richtung.
»Das darfst du nicht«, erwiderte sie harsch und doch mit Hoffnung in den Augen.
»Na und. Wer soll es schon erfahren? Ich gebe es dir für eine Woche und dann gibst du es mir zurück«, schlug ich vor und Elisa blieb nicht lange bei ihrer Widerrede.
»Und was, wenn sie merken, dass es fehlt?«, fragte sie und ich zuckte mit den Schultern. Nichts leichter als das.
»Ich schreib es als entliehen auf eine Karte, dann wird es niemand suchen«, erklärte ich ihr, doch sie schien noch nicht ganz überzeugt.
»Und unter welchem Namen willst du es verbuchen?«, wollte sie wissen und streckte sich bereits nach dem Buch aus, um es wieder an sich zu nehmen.
»Du kannst dir ja einen ausdenken«, schlug ich vor und fragte mich, ob meine Tollkühnheit, die mir in diesem Moment ein Hochgefühl bescherte, mich nicht zu Fall bringen würde.