Читать книгу Vom Wind geküsst - Lin Rina - Страница 14

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Die Zeit verging im immer gleichen Trott.

Marc hatte nach dem misslichen Zwischenfall mit der Tochter des Bürgermeisters nicht gerade einen Stein im Brett. Doch die Lage normalisierte sich schnell wieder und kaum fünf Tage danach lachte und witzelte er mit Dante und Mei wie zuvor.

Nur Kai behielt an den Abenden ein wachsames Auge auf ihn. Marc war sich dessen nur zu gut bewusst und verhielt sich allen hübschen Dorfjungfern gegenüber nett, aber reserviert.

Ich für meinen Teil legte mich frühzeitig schlafen. Auf keinen Fall wollte ich wissen, was Justus tat. Auch dem Wind schärfte ich ein, nichts zu erzählen. Selbst wenn es mir unter den Nägeln brannte, es zu erfahren.

Noch immer ging ich Justus aus dem Weg und wir hatten seit unserer Auseinandersetzung im Wald auch kein Wort mehr gewechselt. Ich wusste, dass das nicht ewig so weitergehen konnte, aber irgendwie schaffte ich es nicht, mich dazu zu überwinden, ihn einfach anzusprechen.

Wir hatten uns als Kinder nie viel gestritten und wenn doch, dann war damals alles so viel einfacher gewesen, weil unser größtes Problem darin bestand, dass ich mich weigerte, Schuhe zu tragen.

Schuhe trug ich immer noch nicht gern, aber alles andere hatte sich verändert. Wann hatten wir aufgehört, so zu sein wie früher?

Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Wahrscheinlich würde er erfahren wollen, was denn nun vorgefallen war. Aber es war mir unmöglich, ihm den wahren Grund zu nennen. Er durfte nicht wissen, wie sehr ich ihn mochte.

Da es nicht in seiner Natur lag, gegen meinen Willen auf mich zuzukommen, sagten wir weiterhin nichts.

Obwohl mir unser Schweigen sonst immer gefallen hatte, war diese Stille eine Qual. Es war eine andere Art von Schweigsamkeit. Eine, die uns nicht das Gefühl unserer eigenen kleinen Welt gab, sondern Distanz zwischen uns schaffte.

Und es tat weh.

Ich wusste nicht, wie er sich fühlte, aber mir ging es miserabel. Schließlich war ich nicht nur in ihn verliebt, er war auch mein bester Freund.

Sogar das Windspiel, sein Geschenk, musste ich in das weiche Tuch einwickeln und in meinem Fach verstauen, weil ich den Anblick nicht ertrug.

Auch den anderen fiel schnell auf, dass bei uns etwas nicht stimmte, da Justus und ich sonst so gut wie unzertrennlich gewesen waren. Fast wie Bruder und Schwester.

Mei sprach mich mehrere Male darauf an, doch ich wechselte immer das Thema, um nicht darüber reden zu müssen.

Es war der sechste Tag unserer Schweigsamkeit, als Justus auf die Idee kam, sich von Mei die Haare schneiden zu lassen. Es war ein ruhiger und sonniger Vormittag, an dem Hanna Perlenarbeiten knüpfte, Garan seiner fragwürdigen Leidenschaft fürs Kochen nachging und Fin auf der Suche nach Heilkräutern durch den Wald zog.

Mei hatte viele Talente, doch eine Schere zu handhaben war keines davon.

Justus hockte so unbeweglich wie möglich auf einem Baumstumpf, während Mei einige Strähnen kürzte.

Ich saß auf der Holztreppe vor meinem Wagen und sah heimlich zu, wobei ich vorgab, am Saum meines Kleides weiterzunähen.

Mei legte den Kopf schräg und fuhr ihrem Bruder mit der Hand durch das dichte Haar. Dann zog sie an mehreren Haarbüscheln und zupfte sie zurecht. Ab und zu schnitt sie etwas ab.

Ich stöhnte. Was das nur geben sollte?

Der Wind kicherte, zog ein paar Runden um mich herum und tanzte wieder davon.

Mei schnitt eine Stelle an der Seite etwas zu kurz und ich vergrub die Finger im Stoff meines Kleides, da ich am liebsten aufgesprungen wäre, um ihr die Schere aus der Hand zu reißen.

Sie setzte erneut an und Justus zuckte zurück.

»Willst du mir das Ohr abzuschneiden?«, rief er entrüstet und Mei zog die Schere schnell weg. Ihre Augenbrauen hatten sich zweifelnd zusammengezogen und nachdenkliche Falten bildeten sich auf ihrer Stirn.

Das war zu viel für mich. Schnell legte ich die Näharbeit wieder in den Korb, obwohl ich nicht mehr als ein paar Stiche geschafft hatte, erhob mich von der leise knarrenden Treppe und lief auf die beiden zu.

Ohne Vorwarnung nahm ich Mei die Schere aus der Hand. »Das ist ja nicht mit anzusehen!«, schimpfte ich empört.

Mei sprang erschrocken zur Seite, als ich mich hinter Justus drängte und anfing, ihm systematisch die Haare zu schneiden. Ich würde meine liebe Mühe haben, aus diesem Geschnipsel noch eine ordentliche Frisur zu machen.

»Na endlich.« Mei atmete sichtlich erleichtert auf.

Justus lachte. Er bedankte sich und wollte den Kopf zu mir drehen.

»Beweg dich nicht!«, befahl ich schroff und fuhr ihm mit einer Hand durch die seidig weichen Strähnen, um die Länge anzu­gleichen. Sein Haar fühlte sich wirklich wundervoll an.

Ich hatte ihn die letzten Tage so vermisst, dass ich von meinen Gefühlen geradezu überrollt wurde. Vor allem seine Stimme und seine Nähe.

Das war gar nicht gut. Ich musste damit aufhören.

»Ich hatte wirklich Angst, dass ich ein Ohr verliere«, brummte er und warf Mei einen Seitenblick zu.

Sie grinste und setzte sich neben uns ins Gras.

»Wieso fragst du auch Mei? Du bist selbst schuld, wenn du ihr eine Schere in die Hand drückst«, fuhr ich ihn an und Mei lachte verhalten. Das verwirrte mich.

Der Wind kehrte zu mir zurück und auch er kicherte wieder.

Abrupt hörte ich auf zu schneiden, sah erst zu Mei und dann zu Justus, der sich lächelnd zu mir drehte. »Fertig?« Seine Augen strahlten noch mehr als sein Lächeln.

Mein Herzschlag beschleunigte sich und mir wurde ganz flattrig im Bauch. Das fühlte sich so viel besser an als der harte Klumpen, der mir die letzten Tage Übelkeit bereitet hatte, und ich beschloss, dass alles besser war als Liebeskummer.

»Was geht hier vor?«, schaffte ich trotzdem misstrauisch zu fragen und stemmte sogar eine Hand in die Seiten.

»Was soll denn vorgehen?«, erwiderte Justus mit gespielter Unschuldsmiene und berührte seine Locken, die jetzt um einiges kürzer waren als zuvor. Obwohl er mir mit den Zotteln besser gefallen hatte, sah er auch jetzt verdammt gut aus.

Mei lachte noch lauter, was meine Vermutung bestätigte, dass die beiden irgendetwas ausgeheckt hatten.

Wahrscheinlich war es am Ende sogar, Meis Unvermögen mit der Schere zu nutzen, mich zu ärgern und von der Treppe zu ihnen zu locken. Zuzutrauen war ihnen alles.

»Dreh dich wieder um«, ordnete ich an und schüttelte den Kopf über Mei, die vor Lachen auf dem Boden lag, bis sie von Ayo gerufen wurde, um ihr bei den Ständen zu helfen. Die beiden tuschelten und kicherten.

Ich lächelte nur. Ob meine Vermutung nun stimmte oder nicht, war nicht wichtig. Justus und ich redeten wieder miteinander und das machte mich sehr glücklich. Leider.

Zügig schnitt ich die restlichen Haare und kontrollierte noch einmal, ob ich auch wirklich nichts vergessen hatte. Dann ließ ich einen kurzen kräftigen Windstoß die abgeschnittenen Reste wegpusten.

Um sie Mei nicht zurückzugeben, steckte ich die Schere in die Tasche meiner Rockschürze. Justus saß immer noch da und ich legte die Hände auf seine Schultern und senkte aus einem Impuls heraus die Stirn auf seinen Kopf.

Eigentlich sollte ich so etwas nicht tun, aber ich wollte ihm einfach nah sein nach all den Tagen, die ich es nicht gewesen war. »Fertig«, flüsterte ich.

»Danke«, sagte er und schob zu meiner Überraschung seine Hände über meine. Sie waren so warm. Mein Herz pochte wie verrückt. Ich hatte vergessen, dass Justus so warm war.

Er lachte und hob den Kopf. Ich wich ein Stück zurück, damit er zu mir aufsehen konnte. Seine Augen wirkten dunkler als sonst und glühend wie gebrannte Maronen. »Was hältst du davon, Wachteln jagen zu gehen?«, wollte er wissen.

»Hier im Wald gibt es Wachteln?«, entgegnete ich skeptisch und befreite unauffällig meine Hände. Justus bemerkte es nicht oder tat zumindest so.

»Klar. Ich habe heute früh eine Menge gesehen.« Er stand auf und marschierte los, um seinen Bogen und Pfeile zu holen.

»Ich habe noch keine gesehen«, rief ich verwundert und lief ihm nach.

»Da, wo du geschlafen hast, sind ja auch keine gewesen.« Seine Stimme klang gedämpft, als er seinen Wagen betrat.

Ich zog irritiert die Augenbrauen nach oben. »Woher weißt du denn, wo ich geschlafen habe?«, platzte es aus mir heraus, obwohl ich die Frage eigentlich nicht hatte stellen wollen.

Justus schwang sich aus der Tür und grinste. Ein Grinsen, das ich bisher nur an Marc gesehen hatte: das Wolfsgrinsen.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich nicht immer ein Auge darauf habe, wo du grade steckst?«, behauptete er und eine kleine Flamme sprang aus der Glut in meinem Herzen.

Wachteln sahen wir nur wenige, obwohl Justus steif und fest behauptete, am Morgen mindestens zwei Dutzend beobachtet zu haben.

Aber dafür lachten wir viel, alberten herum und zu meiner Erleichterung führte das Gespräch nie zu unserer Auseinandersetzung der letzten Woche.

Selbst das Feuerspektakel an diesem Abend machte mir mehr Spaß als die vorigen und auch Justus wirkte viel gelöster.

Seit meinem Ausraster hatte ich mich gehütet, zu genau auf ihn zu achten, doch bei den Feuerspielen war er mir trotzdem sehr zurückhaltend vorgekommen.

Nach dem großen Finale, als der Applaus langsam abebbte, servierten einige Dorfbewohner ihr kleines bescheidenes Gebäck.

Diesmal floh ich nicht in den angrenzenden Wald, um mich schlafen zu legen. Ich blieb und nahm mir ein einfach geformtes Zuckerbrötchen. Es war köstlich, noch viel besser als die Nussschnecke, die ich bei meinem letzten Fest gegessen hatte. Ich probierte gleich ein zweites, das mit rotem Kompott gefüllt war. Herrlich! Hefegebäck war einfach mein Lieblingsessen.

Justus stand mit Marc und drei jungen Männern aus dem Dorf zusammen. Sie plauderten über die diesjährige Ernte und den Weg, den wir mit den Wagen noch zurücklegen würden, bevor der Winter uns nach Hause rief.

»Achtet gut auf euch«, sagte der eine von ihnen. »Die Unruhen hier in den Grenzgebieten werden immer schlimmer.«

»Sind die Fürsten immer noch im Zwist? Haben die nicht langsam genug, sich gegenseitig Spione auf den Hals zu hetzen?«, schnaubte Marc laut und nippte an einem Becher.

»Weswegen streiten sie sich denn?«, erkundigte ich mich und die Männer sahen erstaunt auf. Sie hatten anscheinend gar nicht bemerkt, dass ich zu ihnen getreten war. Mir war es selbst kaum aufgefallen, doch plötzlich stand ich neben ihnen, um mich an dem Gespräch zu beteiligen.

Justus warf mir einen erschrockenen Blick zu und sah dann warnend zu den anderen. Fast hatte ich das Gefühl, er wollte, dass sie mir nicht antworteten.

»Sie streiten sich um Land«, sagte einer der Dörfler etwas verunsichert und sah von mir zu Justus und wieder zurück.

»Um welches? Ich dachte, die Grenze der Meeresgebiete wäre durch den Nordfluss klar abgesteckt?«

Justus seufzte tief.

»Cate, wie ist das Gebäck?«, fragte er mich unvermittelt und ich sah ihn an, als hätte er nicht mehr alle beisammen. Was sollte das denn für eine plumpe Art sein, das Thema zu wechseln? Wieso wollte er nicht, dass ich Antworten auf meine Fragen bekam?

»Sehr gut, besonders die Zuckerbrötchen sind die besten, die ich je gegessen habe.« Mit ausgestrecktem Finger zeigte ich auf die Platte, auf der ich sie gefunden hatte, wandte mich aber sofort wieder an den Dörfler und schaute ihn auffordernd an.

Er sah noch irritierter aus. Sicher wusste er nicht recht, was er von Justus’ Kommentar halten sollte. Ich wusste es ja auch nicht.

»Und?«, forderte ich ihn auf, damit er mir seine Aufmerksamkeit schenkte, und er blinzelte zu mir herunter.

»Sie kämpfen um die Landesspitze«, brachte er etwas unsicher heraus und schob die Hände in die Hosentaschen. »Die Windküste.«

Ich verschluckte mich beinahe an dem Bissen, den ich gerade im Mund hatte.

»Es liegt nicht auf eurer Route, aber es ist ein wunderschöner Landstreifen. Mein Vater und ich waren letzten Herbst einmal dort. Ich habe noch nie so einen wundervollen Strand gesehen«, fuhr er fort und ich vergaß zu atmen.

Ich wusste, dass die Fürsten von Albahr und Mari seit Jahren in einem Konflikt standen. Doch ich hatte mich nie viel für Politik interessiert. Doch zu hören, dass sie um die Windküste stritten, versetzte mir einen Schlag.

Meine Heimat, schoss es mir durch den Kopf. Ich kannte den Strand und die seichten Wellen, die um die nackten Knöchel schäumten und sich sanft wieder zurückzogen. Die Sonnenuntergänge, die hellen Laubwälder, die flachen Steppenländer, durchzogen von Flussläufen. Oft träumte ich davon, sehnte mich danach, wusste, dass mir dieser Ort ins Herz geschrieben war.

Es war die Heimat meines Volkes gewesen, bevor die Menschen es ausgerottet hatten. Jetzt, da es kein Windvolk mehr gab, gehörte es niemandem.

Außer vielleicht mir. Aber ich konnte schlecht einen Anspruch geltend machen, ohne mich zu verraten. Und das würde mich in Lebensgefahr bringen.

Justus nahm sanft meine Hand und holte mich aus meinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück.

Ich schluckte umständlich und sah in die Gesichter der Anwesenden, die alle ein wenig verwundert dreinblickten. Die Dörfler glaubten sicher, ich wäre ein wenig verrückt.

»Ich hole mir noch ein Zuckerbrötchen«, stammelte ich, obwohl ich noch ein halbes in Händen hielt, und wandte mich schnell ab.

Justus drückte ein letztes Mal meine Finger und ließ mich dann widerwillig gehen.

Ohne wirklich darauf zu achten, lief ich zu den Platten und stand ratlos davor. Der Appetit war mir vergangen.

Laila trat lächelnd neben mich und stupste mich mit der Schulter an. »Na, alles in Ordnung?«, fragte sie leichthin und nahm sich ein Gebäck.

Ich nickte und schaffte es sogar, ihr ebenfalls ein Lächeln zu schenken. Doch es gefror mir im Gesicht, als ich hinter ihr einen jungen Mann entdeckte, der mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Er war schlank, etwas schlaksig und beobachtete mich. Seine blonden Locken tanzten in einem leichten Lüftchen.

Bei allen Winden, es war wieder der Kerl aus der Stadt, in der wir die Briefe am Haus des Stadtrates abgegeben hatten.

Er war mir gänzlich entfallen nach der Sache mit Justus und diesem Mädchen.

Warum war er hier? War es Zufall? Es musste Zufall sein.

Oder hatte Mei am Ende recht gehabt? Er hatte sich Hals über Kopf in mich verliebt und folgte uns nun von Dorf zu Dorf.

Blödsinn! So etwas passierte nur in Geschichten und nicht in der Wirklichkeit. Und vor allem nicht mir.

Der junge Mann fing kurz meinen Blick auf, lächelte wieder dieses besondere Lächeln und verschwand dann mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.

Ich fröstelte, obwohl es nicht wirklich kalt war, und fühlte mich einen Moment lang so schrecklich einsam, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt.

Heute Nacht wollte ich auf keinen Fall allein sein. Ich war von einer Nervosität befallen, die sich nicht abschütteln ließ. Besonders, weil der Wind schon wieder verschwunden war.

Keine Ahnung, was zurzeit mit ihm los war, aber es trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Im Gegenteil.

Ich floh zwischen den Dörflern hindurch zu meinem Wagen. Immer noch spürte ich die Beklemmung in meiner Brust, rief den Wind noch einmal und hängte schnell das Windspiel wieder auf. Nur zur Sicherheit. Schließlich hatte ich den Wind die Male zuvor immer wieder dort vorgefunden. Doch diesmal blieb er weiterhin fern.

Doch obwohl der Fremde verschwunden war, hielt ich mich den restlichen Abend in der Nähe der anderen, um zu keinem Zeitpunkt ganz allein zu sein.

Es war noch nicht sehr spät, als die letzte Gruppe Dörfler den Weg nach Hause antrat. Das gefiel mir an den kleinen Dörfern. Es war alles viel familiärer, nicht so große Menschenmassen, und man kam früher ins Bett.

Als ich wieder zu meinem Wagen lief, fand ich dort auch endlich den Wind in gleichmäßigen Bahnen um die Muscheln kreisen. Er summte wieder dieses Lied, unterstützt von den leisen Klängen der silbernen Röhren.

Was ist nur los mit dir?, fragte ich ihn wie jedes Mal besorgt.

Erneut trug er mir nichts als tiefe Erschöpfung entgegen. Keine Erklärung. Doch zumindest war er da.

Liebevoll berührte ich ihn und er schmiegte sich müde an meine Hand.

Als ich wieder hinausging, folgte er mir und zog träge an meinem losen Haar.

Die Dörfler waren gegangen und viele von uns schon in ihren Betten verschwunden.

Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. Unmöglich konnte ich heute Nacht in einem stickigen Wagen schlafen, in dem Ayo schnarchte und Mei im Traum redete. Allein im Wald wollte ich allerdings genauso wenig sein.

Zum ersten Mal wünschte ich mir, dass Marc ein Mädchen mitgenommen hätte, damit Justus gezwungen wäre, bei mir zu sein.

Ich konnte ihn ja kaum darum bitten, bei mir zu bleiben. Oder etwa doch? Früher hätte ich es einfach gemacht, doch seit unserem Streit und all den Gefühlen, die in mir tobten, fühlte ich mich unsicher, fahrig und unwürdig.

Leise, damit ich die anderen nicht störte, holte ich mein Schlafbündel aus dem Wagen und trat wieder raus in die Dunkelheit der Nacht. Der Himmel war klar, der Mond warf Schatten auf die Lichtung und die Sterne funkelten wie Millionen Glühwürmchen.

Nicht weit entfernt hörte ich eins der Kappa muhen.

»Du bist noch wach?«, fragte Justus überrascht und ich schreckte zusammen. Er kam die Stufen seines Wagens hinunter und auf mich zu. »Ich dachte, du wärst schon schlafen gegangen. Ich wollte grade schauen, wo du dich in den Wald geschlagen hast.« Er gähnte und ließ die muskulösen Schultern kreisen, um sie zu lockern.

Ich seufzte still und wünschte mir, er würde mich auf der Stelle in die Arme schließen, mir übers Haar streichen und sagen, dass alles in Ordnung war. »Justus?«

Er sah mich fragend an.

Ich öffnete den Mund und stockte. Es war so schwer, mich zu überwinden und meine Gedanken in Worte zu fassen.

Obwohl ich all meinen Mut zusammennahm, schaffte ich es trotzdem nicht, ihm in die Augen zu sehen. »Kannst du … ich möchte nicht … wäre es möglich, dass du …«, stammelte ich, krallte die Finger in das Schlafbündel und versuchte schnell noch einmal darüber nachzudenken, wie ich es am besten formulierte.

»Was ist los? Du bist ja blass wie ein Gespenst«, sagte er und Sorge trat an die Stelle der Müdigkeit, die vorher seine Züge gezeichnet hatte.

»Ich bin doch immer blass«, wollte ich mich rausreden, doch Justus streckte seine große, warme Hand nach mir aus und berührte meine Wange.

»Aber nicht so blass. Wenn du so vor dich hin stotterst, bist du normalerweise so leuchtend rot wie ein Signalfeuer.«

Er machte sich immer so viele Gedanken um mich. Der beste große Bruder der Welt, wenn ich ihn nur länger als solchen betrachten könnte.

»Es ist nichts. Vergiss es lieber.« Ich wand mich aus seiner beschützenden Hand, drückte mein Schlafbündel fester an die Brust und wandte mich dem Wald zu.

»Cate?«

Ich blieb stehen, drehte mich aber nicht um. Wenn ich es tat, würde ich nur schwach werden.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass du mir so davonkommst.« Justus war mit wenigen Schritten bei mir, packte mich an den Schultern und drehte mich zu sich.

Ich bemühte mich, im Dunkeln meine Zehen zu erkennen.

»Ich verspreche, ich sage nichts zu deinem Verhalten der letzten Tage. Aber wenn es dir nicht gut geht oder etwas ist, bei dem ich dir helfen kann, dann lass mich dir helfen.« Seine Stimme war dunkel und weich wie die Nacht selbst.

Wenn du nur wüsstest, dachte ich bei mir, und wie ich es mir selbst prophezeit hatte, brannte meine Gegenwehr nieder wie ein Haus aus Stroh.

Ich gab dem übermächtigen Drang nach, lehnte mich vor und drückte meine Stirn gegen Justus’ breite Brust. Er strahlte in der kühlen Nachtluft eine unglaubliche Wärme aus. Wärme, die ich jetzt wirklich gut gebrauchen konnte.

Justus seufzte tief und strich mir übers Haar, genau wie ich es mir kurz zuvor ausgemalt hatte.

Doch es fühlte sich anders an. Ich hatte geglaubt, es müsse wunder­schön sein. Aber zu wissen, dass er in mir eine kleine Schwester sah, die es zu beschützen galt, vergiftete den Moment mit einer Bitterkeit. Außerdem würde ich ihn, egal wie, niemals für mich gewinnen können.

Tränen quollen aus meinen Augen und liefen über. Ich konnte nicht mehr. Die Gefühle für Justus raubten mir Appetit, Kraft und Verstand. Der Blick dieses blonden Fremden jagte mir plötzlich noch mehr Angst ein. Und der Wind war, aus mir unerfindlichen Gründen, krank geworden.

»Es ist alles zu viel«, schluchzte ich und begann zu zittern. Wie armselig ich aussehen musste. Das war der Tiefpunkt.

Ich schalt mich selbst für mein feiges Selbstmitleid und versuchte, mich schnell wieder zusammenzureißen. Der Wind, dem es besser zu gehen schien, strich mir an den Händen entlang und flüsterte Ermutigungen.

Justus legte die Arme um mich, zog mich ganz nah an sich und ich wurde von einer Geborgenheit überwältigt, die mir den Atem raubte. Es kam mir vor, als wurde Justus immer wärmer.

Angestrengt versuchte ich das Schluchzen zu unterdrücken. Denn der nun erreichte Tiefstand gab mir neuen Mut. Oder war es Verzweiflung?

»Ich möchte nicht allein im Wald schlafen«, brachte ich atemlos heraus und spürte, wie Justus nickte.

Vorsichtig ließ er mich los und gebot mir mit einer Geste, kurz auf ihn zu warten. Er ging zu seinem Wagen und zog aus dem Fach unter dem Kutschbock sein Schlafbündel hervor.

Keine Fragen, kein Zögern. Justus kam meiner Bitte nach.

Schweigend machten wir uns auf, meine Hand in seiner, um ein geeignetes Baumpaar zu suchen. Er half mir, die Hängematte zwischen die beiden Stämme zu spannen, und blickte mich dabei immer wieder an.

»Danke«, sagte ich leise und schaffte es sogar, ein wenig zu lächeln.

»Willst du mir nicht sagen, was los ist?«, fragte er unvermittelt und nahm wieder meine Hand.

Ich mochte es, wenn wir uns berührten. Es war eine so gewohnte Geste und doch begann ich ihr mehr Wert beizumessen, als ich es früher getan hatte.

Langsam schüttelte ich den Kopf. Dass ich in ihn verliebt war, konnte ich ihm nicht sagen. Es würde alles zwischen uns kaputt­machen. Denn ich war mir ziemlich sicher, dass er meine Gefühle nicht erwiderte. Die Gesetze des Feuervolkes waren sehr eindeutig.

Irgendwas würde ich aber sagen müssen, um Justus’ Sorge zu zerstreuen. Also konnte ich ihm wenigstens die anderen Dinge berichten.

Ich seufzte zum bestimmt hundertsten Mal.

»Erinnerst du dich an den Mann im Haus des Ratssekretärs. Der, der uns die Tür aufgehalten hat?«, fragte ich vorsichtig.

Justus nickte.

Ich hob leicht vom Boden ab, setzte mich in die Hängematte und zupfte Justus am Ärmel, damit er sich neben mir niederließ.

»Der, von dem Mei behauptet hat, er habe ein Auge auf dich geworfen?«, brummte er und setzte sich umständlich zu mir.

Wir lehnten uns nach hinten und ich konnte zwischen den Blättern der Bäume sogar ein paar Sterne ausmachen. Justus war ganz nah bei mir, schenkte mir Sicherheit.

»Er hat mich so seltsam angesehen«, murmelte ich und erinnerte mich an das Lächeln, das er mir vorhin zugeworfen hatte. Mir wurde übel, wenn ich daran dachte.

»Sag mir bitte nicht, dass du dich in ihn verguckt hast«, sagte Justus plötzlich streng und ich schrak bei seinem harten Tonfall zusammen. Was war denn das?

»Nein!« Ich boxte ihm gegen das Knie. »Er war an dem Abend beim Fest und hat mich beobachtet.« Mir fuhr ein unangenehmer Schauder über den Rücken. »Und heute war er wieder da.«

»Was? Kann das Zufall sein?« Justus schien kurz zu überlegen. »Hast du ihn die letzten Abende auch gesehen?«

Ich schüttelte den Kopf, zuckte aber gleichzeitig ratlos mit den Schultern. »Ich bin nach dem Feuerspektakel gleich schlafen gegangen.« Es gefiel mir nicht, das zuzugeben, denn es könnte zu weiteren Fragen führen.

Doch Justus blieb einfach still und starrte in die Dunkelheit.

»Er macht mir Angst«, gab ich zu und drückte mich enger an ihn. »Sein Blick und dieses seltsame Lächeln. Es fühlt sich komisch an. Als ob er irgendwas über mich wüsste.« Erst nachdem ich es ausge­sprochen hatte, wurde mir bewusst, was ich da eigentlich gesagt hatte.

Justus war sofort alarmiert. »Du glaubst, er weiß, wer du bist?«, fragte er scharf. Ich spürte seinen bohrenden Blick, auch wenn ich im Schatten der Bäume sein Gesicht kaum erkennen konnte, und atmete tief durch.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich wahrheitsgemäß und rieb mir die Augen. »Es gibt aber noch mehr.«

»Mehr was?«

»Probleme«, erklärte ich und spürte den Windhauch, der uns umschwebte. Jetzt, wo ich einmal angefangen hatte zu erzählen, fiel es mir auch viel leichter. »Es geht um den Wind.«

Justus sagte nichts, wartete darauf, dass ich weitersprach. Der Wind kam zu mir, wie als Bestätigung, dass er nicht schon wieder verschwunden war.

»Es ist, als ob er in letzter Zeit ab und zu krank wäre. Er …« Ich stockte wieder und bedachte meine Worte noch einmal. »Er verschwindet für eine Weile, und jedes Mal, wenn ich ihn dann suche, finde ich ihn bei dem Windspiel, das du mir gekauft hast.« Kurz hatte ich überlegen müssen, wie ich es ihm beschreiben sollte, ohne ihm zu sagen, dass der Wind mir nicht antwortete, wenn ich ihn rief.

»Und das passiert, seit du das Windspiel hast?« Justus bewegte sich und die Hängematte geriet ins Schaukeln. Verhalten zischend hielt er sich am Rand fest. Er mochte es nicht, wenn die Seile schwangen. Dabei waren wir vielleicht gerade mal einen Meter vom Boden entfernt.

»Ja, schon dreimal, zuletzt vorhin beim Fest. Er dreht sich dann immer in den gleichen Schleifen um diese silbernen Stäbe.« Ich machte die Bewegung mit den Fingern nach, um zu zeigen, was ich meinte.

Er schwieg.

»Justus?«, fragte ich, nur um sicherzugehen, dass er nicht eingeschlafen war.

»Mach das bitte noch mal«, bat er mich plötzlich und klang, als wäre ihm etwas eingefallen. Vorsichtig setzte er sich auf und zog mich ebenfalls hoch.

Ich beeilte mich, die Geste zu wiederholen. Drei in sich geschwungene Kreise.

Justus erzeugte eine kleine Feuerkugel auf seiner Handfläche und hielt sie zwischen uns. Erst folgte sein Blick meinem Finger, dann sah er mich an.

»Du bist nicht mehr so blass«, sagte er und lächelte.

Ich spürte die Röte in mein Gesicht steigen, wusste aber nicht recht, warum es mir peinlich war. Mir ging es viel besser, nachdem wir etwas geredet hatten. Und seine Wärme tat das ihre dazu.

»Und was ist jetzt mit den Kreisen? Oder findest du es nur hübsch, wie sich meine Hand durch die Luft bewegt?«, fragte ich schnippisch, um meine Unsicherheit zu überspielen.

Er lachte kurz auf und löschte die Flamme. »Nein. Aber ich habe so was schon mal gesehen. Das Feuer verhält sich manchmal auch seltsam; und es summt dabei.«

Das Lied. »Ja, der Wind fängt an zu singen!«

»Dann wird es so sein«, murmelte Justus und lehnte sich wieder in die Hängematte. Langsam, damit sie nicht anfing zu schaukeln. »Hast du mal von den Artefakten des Feuers gehört?«, erkundigte er sich und ich verneinte.

Justus räusperte sich und fuhr sich mit den Händen durchs kurze Haar. »Die Artefakte des Feuers sind eine Reihe an Edelsteinen. Oft werden sie in Schmuckstücke eingearbeitet und von den Würdenträgern getragen. In den Steinen werden überschüssige Feuerkräfte gespeichert.«

»Wie können Feuerkräfte überschüssig sein?«, unterbrach ich ihn und machte große Augen.

»Leg dich hin. Ich erkläre es dir. Du darfst aber nicht einschlafen«, mahnte er mich und ich lehnte mich an ihn.

»Keine Sorge«, flüsterte ich und spürte trotz all der Sorgen, die mich belasteten, die Schmetterlinge in meinem Bauch.

»Die Feuermagie ist eine Kraft, die sich gleichmäßig auf uns alle im Volk verteilt. Doch jeder von uns entwickelt diese Macht für sich weiter, lebt mit ihr und bereichert sie.

Würde ich beispielsweise sterben, würde die Kraft, die ich als Sechzehnjähriger erhalten habe, zurück an alle anderen gehen. Aber alles, was ich selbst dazu beigetragen habe, bleibt zwar für ein paar Generationen in der Feuermagie erhalten, kann von den anderen aber nicht genutzt werden. Es sind überschüssige Feuerkräfte.

Damit sie aber nicht verloren gehen, werden sie alle fünfundzwanzig Jahre bei einem großen Fest vom Oberhaupt des Feuer­volkes in einen Edelstein gebannt. Und nebenbei ein neues Oberhaupt erwählt.« Er sah mich an, versicherte sich, dass ich verstand.

Ich nickte zögerlich und versuchte mir nicht vorzustellen, dass Justus sterben könnte.

»Gut, dann kommt jetzt die relevante Information«, kündigte er an und ich lachte leise.

»War das bisher nicht relevant?«, fragte ich und er drehte sich zu mir.

»Nicht so sehr. Mir ist nur aufgefallen, dass ich dir wirklich selten von uns erzähle. Ich glaube immer, du müsstest das alles schon wissen.«

Sein Gesicht war meinem ganz nah und ich musste mich daran erinnern, ihm zuzuhören.

»Also. Legt man eines der Artefakte ins Feuer oder kommt ihm damit nahe, beginnen die Flammen in Schleifen um die Edelsteine zu ziehen und die Steine summen dazu ein geheimes Lied der Macht.«

Ein geheimes Lied der Macht, echote es in meinen Gedanken. Ich war seit zwölf Jahren mit ihnen unterwegs, hatte bereits elf Winter in ihrer Stadt verbracht und keiner hatte je auch nur eine Silbe davon erwähnt.

Na ja, warum hätte ich, als Außenseiterin, es auch wissen sollen? Es war eines der Geheimnisse des Feuervolkes, und allein schon, dass sie mich in die Feuerstadt ließen, war eine sehr großmütige Geste.

Aber was bedeutete das alles jetzt für mich?

Ich hatte bisher nur selten nach Parallelen zwischen den Völkern gesucht. Die Art, wie ich mit dem Wind umging und sie mit dem Feuer, war so grundverschieden, dass ich immer geglaubt hatte, es müsse in allen anderen Bereichen ebenso sein.

Sie hatten keinen persönlichen Bezug zu ihrem Element, wie ich ihn zu meinem hatte, und behandelten ihre Kräfte wie Werkzeuge, die sie zu Hilfe nahmen und dann wieder löschten. Bei mir war der Wind ein Teil meiner Seele, bestimmte meine Wünsche und Sehnsüchte. Ich beherrschte ihn nicht einfach, sondern arbeitete mit ihm zusammen wie mit einem Freund.

Doch das Kreisen des Windes um das Windspiel war wirklich eigenartig und auch das Singen gab mir einen guten Grund, es mit den Artefakten des Feuers zu vergleichen.

War es ein Artefakt des Windes?

Der Wind war so still gewesen, dass ich für einen Augenblick befürchtete, er wäre schon wieder verschwunden. Doch als ich ihm meine Aufmerksamkeit schenkte, tanzte er sofort um die Hängematte herum.

Ist das wahr?, fragte ich ihn. Ist das Windspiel ein Artefakt?

Zum Schutz und zur Ermutigung, gab er zurück. Die Wind­artefakte, so besonders, so geachtet und trotzdem hat es alles nichts genützt.

Es war kein klares Ja, aber es reichte als Bestätigung.

Der Wind stob davon und rauschte kraftvoll durch die Baum­kronen über uns. Junge Bäume und lange Äste ächzten, jammerten. Es klang, als würde der Wind weinen und sein verlorenes Volk betrauern.

Ich konnte ihn gut verstehen, denn auch ich vermisste es, zu einer Familie zu gehören, Teil eines Volkes zu sein.

»Ein Windartefakt, was?«, sagte ich müde zu Justus. Meine Augenlider waren mittlerweile schwer und mein Geist wirr. Es musste sehr spät sein.

Er rieb sich die Augen und nickte. »Wenn es so ist, Cate, und es tatsächlich ein Artefakt ist, so wie es das bei uns gibt, dann sollten sich dir zwei Fragen stellen«, sagte er und schob sich vorsichtig aus der Hängematte. »Erstens, ob es noch mehr von ihnen gibt und wie du sie so schnell wie möglich in deinen Besitz bringst. Und zweitens …« Er stockte und zündete mit der einen Hand eine winzige tanzende Feuerkugel an, um mir in die Augen sehen zu können. Müde, aber todernst kamen die nächsten Worte über seine Lippen. »… musst du dir bewusstwerden, dass du im Moment allein die gesamte Kraft deines Volkes besitzt. Nur weil alle weg sind, ist sie ja nicht verloren. Sie sammelt sich. Und zwar in dir. Wie mächtig bist du also wirklich?«

Ich schluckte gegen meinen trockenen Hals an. So viele Gedanken, so viel, über das ich nachdenken musste.

In dieser Nacht blieb mir der Schlaf trotz Müdigkeit fern.

Vom Wind geküsst

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