Читать книгу Vom Wind geküsst - Lin Rina - Страница 8

Prolog

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Ich saß auf der Treppe vor meinem Wohnwagen und starrte in den langsam heller werdenden Himmel. Er war klar und wolkenlos.

Ein paar Vögel segelten im stetigen Wind, der sanft über mich wehte. Ich sah ihnen zu, wie sie sich von ihm treiben ließen, absanken und wieder aufstiegen, sich gegenseitig jagten und mich mit einem Gefühl der Sehnsucht am Boden zurückließen.

Der Wind kreiste um mich, fuhr mir in die Haare und streichelte mir die Wange. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen, weil er mich aufzumuntern versuchte. Er schlich weiter um mich herum, zog spielerisch an meinen Kleidern und flüsterte mir Dinge ins Ohr. Erzählte von der Weite des Himmels, vom endlosen Blau des Meeres und von der Freiheit. Die Freiheit, die ich nur haben könnte, wenn ich mit ihm käme. Wie so oft lockte er mich und ich seufzte.

So lange hatte ich das Meer nicht gesehen. Und es würden noch sicher zwei Monate vergehen, bevor ich wieder dort sein konnte. Ich vermisste es, in die Endlosigkeit zu starren und mir vorzustellen, sie mit dem Wind zu erkunden. Mich einfach vom Boden aufheben zu lassen und wegzutreiben, hinaus über die weißen Schaumkämme der Wellen, zu den kleinen Inseln vor der Küste. Von oben die Schatten der großen und kleinen Meereslebewesen beobachten, mit den Vögeln spielen, versuchen, den Sonnenuntergang zu erreichen.

»Cate!«, drang eine bekannte Stimme an mein Ohr und ich schrak aus meinen Gedanken auf.

Augenblicklich krachte ich schmerzhaft auf die Holztreppe unter mir und schnappte bestürzt nach Luft.

Der Wind löste sich von mir, pfiff Justus heftig um den Kopf und kehrte empört zu den Vögeln zurück.

Ich hob den Blick, blinzelte irritiert zu dem großen Mann hoch. Es war mir gar nicht aufgefallen, dass er herangetreten war.

Stumm stand er da, die eine Hand fest um seinen Bogen geschlossen. In der anderen hielt er etwa ein halbes Dutzend Rebhühner, die er mit einem Stück Zwirn an den Füßen zusammengebunden hatte.

Aus dunklen Augen sah er vorwurfsvoll auf mich herab.

Er musste nichts sagen, ich wusste auch so, wie seine Worte aus­fallen würden. Ich hatte sie bereits hundertmal gehört. Um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, wandte ich den Blick ab. Meine Wangen glühten.

Du passt nicht auf, Cate! Du bringst uns alle in Gefahr mit deinem Leichtsinn. Was, wenn jemand gesehen hätte, wie du fliegst!

Ich versuchte mühsam, den Kloß runterzuschlucken, der mir im Hals steckte. Wieso konnte ich mich nicht einmal zusammenreißen? Warum fiel mir das so schwer?

Es war früh am Morgen und daher mehr als unwahrscheinlich, dass mich ein Fremder gesehen hatte. Doch mit dieser Argumentation würde ich bei Justus nicht weit kommen.

»Es tut mir leid«, murmelte ich nur und sah wieder zu ihm auf. Hinter ihm am Himmel segelten noch immer die Vögel in ihren ruhigen Bahnen. Wie elegant sie waren … und wie frei.

Er folgte meinem Blick und als er sich erneut zu mir umdrehte, war kein Vorwurf mehr in seinem Gesicht zu sehen. Stattdessen kam er zu mir und ich machte ihm Platz, damit er sich zu mir auf die Stufe setzen konnte.

Das Holz knarrte heftig, als er sein Gewicht darauf absetzte. Freundschaftlich legte er mir den Arm um die Schultern und drückte mich sanft. »Mir auch«, sagte er und ich lehnte meinen Kopf bei ihm an. Beschützend zog er mich noch ein Stück näher an sich. Sein Körper war warm, viel wärmer, als ein Körper sein durfte, und mir wurde augenblicklich flau im Magen.

In letzter Zeit passierte das häufiger und es lag immer an Justus, dass mir so komisch wurde.

Früher war das nicht passiert, da war ich mir ganz sicher. Wir waren seit Jahren die besten Freunde, ja fast wie Geschwister, und so etwas Derartiges hatte ich da noch nicht gefühlt.

Ich wusste auch gar nicht genau, wann das angefangen hatte. Egal wie lange ich darüber nachdachte, ich konnte mich nicht erinnern, wann es zum ersten Mal passiert war.

Nur eins war klar: Dieses Gefühl war jetzt da und ging nicht mehr weg.

Ich war … nein. Nein. Wahrscheinlich war ich nur krank. Ganz sicher. Das sollte ich mal von Fin untersuchen lassen.

Wir saßen eine Weile da und sahen zu, wie die Sonne langsam über den Baumwipfeln aufging und die Schatten der Nacht sich in den Wald zurückzogen. Keiner sagte etwas. Wir blieben einfach nur hier und genossen die Stille.

Das hatten wir gemeinsam. Eine Eigenschaft, die in Justus’ Familie eher eine Seltenheit war. Doch wir beide konnten stundenlang zusammensitzen, ohne diese Stille stören zu müssen.

Das wäre den anderen nie passiert. Sie waren allesamt laute, temperamentvolle Menschen, die gern lachten, überall mitredeten und sich leidenschaftlich stritten. Aber sie waren auch gutmütig und warmherzig, und sie liebten einander so, wie es nur wenige Familien taten.

Als der erste Sonnenstrahl die Treppe berührte, schwang beim Wagen neben uns die Tür auf und zerriss damit unsere wohlbehütete Stille, als sie außen gegen die blau bemalte Holzwand krachte.

Marc stand im Türrahmen, war nur mit einer Leinenhose bekleidet, die ihm schief auf der Hüfte saß, und gähnte ebenso herzhaft wie unüberhörbar. Er streckte seine muskulösen Arme über den Kopf, sodass ich seine bläuliche Feuerclantätowierung deutlich erkennen konnte, und kratzte sich dann an Nacken und Bauch.

Justus ließ mich sofort los, zog ruckartig den Arm zurück und brachte so unauffällig wie möglich Platz zwischen uns.

Ich spürte einen Stich, der mich unerwartet im Herz traf. Trotzdem bemühte ich mich um ein einfaches Lächeln, tat, als wäre es ohne Bedeutung, dass er so plötzlich Abstand genommen hatte. Warum tat es mir so weh? Es war doch nichts Ungewöhnliches.

Justus zuckte nur mit den Schultern und erhob sich von den Stufen, die wieder herzerweichend knarrten.

»Guten Morgen, ihr Bagage!«, rief Marc uns zu, der uns gleich entdeckte, und grinste schief.

Und damit war es vorbei mit der Ruhe. Innerhalb der nächsten Minuten kam Leben in die Wagenkolonne. Die bunten Farben, in denen die Wagen bemalt waren, strahlten im Morgenlicht noch deutlicher, sodass man jede Unebenheit und jedes bereits abgeblätterte Muster erkennen konnte.

Justus nickte mir noch mal zu, hob die erlegten Rebhühner auf und ging damit zum lilafarbenen Wagen. Dort öffnete gerade Tanja, seine Mutter, die Fensterläden und kam anschließend heraus, um ihm die Hühner zum Rupfen abzunehmen. Hoffentlich würde sie daraus ihre Rosmarinsuppe zubereiten. Die liebte ich sehr.

Marc, der inzwischen ein Hemd und eine anständige Hose trug, scheuchte Dante lautstark vor sich her, damit sie anfangen konnten, die Stände aufzubauen. Van und Tai hatten schon den ersten aufgestellt und stritten sich über irgendetwas. Hanna, Mei und Ayo trugen die Waren fröhlich schwatzend zusammen, um sie fein säuberlich ausbreiten zu können. Garan und Elia kämpften mit Stöcken gegeneinander. Bree kämmte der strampelnden Sally die Haare. Tanja rief zum Essen.

Ich beobachtete sie alle. Jeder hatte seine Aufgabe und jeder Morgen lief auf dieselbe Art und Weise ab. Sie schwatzten, lachten und stritten. Siebenundzwanzig Menschen, die mit mir zusammen in den Wagen lebten. Sie waren eine große Familie.

Bis auf mich.

Ich war nicht wie sie und konnte es auch nie werden. Ich wusste das, und ich wusste auch, dass sie es wussten.

Nicht dass sie nicht versuchten, mich ständig und überall miteinzubeziehen. Die Wagenleute bemühten sich wirklich. Doch egal wie sehr, ich war nun mal keine von ihnen.

Langsam stand ich von den Stufen meines Wagens auf, verscheuchte die trüben Gedanken und ging zu den anderen, um mir etwas zu essen zu holen.

Es gab Haferbrei mit Honig, Obst und das Gebäck vom gestrigen Abend.

Justus saß bei Marc und Dante im Gras, lachte über etwas, das Marc gesagt hatte, und boxte ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

Sein Lachen war ansteckend und ich musste unwillkürlich lächeln.

Er sah gut aus. Sowohl wenn er lachte als auch wenn er nachdenklich war. Selbst rasend vor Wut, was durchaus vorkam, fand ich ihn noch immer faszinierend. Zumindest solange er nicht auf mich wütend war.

Er war ein großer Mann, selbst in einer Familie, in der alle ziemlich groß waren. Mit dunklem Haar, das in der Sonne glänzte und ein wenig zu lang war, sodass ihm einige Strähnen in die Stirn fielen. Sein Gesicht war schmal und kantig, das Kinn immer von groben Bartstoppeln bedeckt, was ihm etwas Verwegenes und Geheimnisvolles gab. Etwas, das einen unweigerlich anzog.

Vor allem die Mädchen aus den Dörfern.

Justus hob den Kopf, als er bemerkte, dass ich ihn ansah, lächelte er und winkte mich heran. Mein Herz schlug schneller und mir wurde augenblicklich wieder flau im Magen. Warum war ich in letzter Zeit so leicht aus der Ruhe zu bringen?

Ich setzte mich zwischen ihn und Dante ins Gras. Dante nickte mir nur mit vollem Mund zu und wandte sich dann wieder an die anderen.

Marc redete und aß gleichzeitig. Er sah Justus kaum ähnlich, obwohl sie Brüder waren. Sie hatten nur das gleiche dunkle Haar, doch die Gesichtszüge waren völlig unterschiedlich. Marc hatte einen breiten Kiefer, einen vorwitzigen Zug um den Mund und eine laute Stimme, die er möglichst oft benutzte.

Er hatte wohl gerade irgendeinen anzüglichen Witz erzählt, denn in Dantes Ohren pulsierte das Blut und er verschluckte sich vor Lachen so sehr, dass ich ihm auf den Rücken klopfen musste.

Ich mochte die Jungs. Sie waren einfacher als die Mädchen. Sie sagten wenigstens, was sie meinten.

Natürlich war ich auch mit den Mädchen befreundet. Am besten verstand ich mich wohl mit Justus’ jüngster Schwester Mei. Hanna war herzlich, aber wir konnten meist nicht so viel miteinander anfangen. Ayo war sehr nett, jedoch auch schnell eingeschnappt. Und von Bree wollte ich erst gar nicht anfangen. Allem Anschein nach hasste sie mich.

Wir hatten gestern unweit eines Dorfes auf einer Lichtung im Wald haltgemacht. Ab dem späten Vormittag kamen die Bürger herbei, um sich unsere Ware anzusehen, nach unserer Reiseroute zu fragen, um uns Briefe und dergleichen mitzugeben und sich nach dem Feuer­spektakel heute Abend zu erkundigen.

Ich saß an einem der Stände und sah einem untersetzten Mann mit einem raffinierten Schnurrbart zu, wie er einige Perlenbroschen beäugte, die Hanna mit ihren geschickten Händen und endloser Geduld fertigte. Lachend redete er mit Ayo, die gerade dort verkaufte, und sie kicherte über seine Witze.

Er trug farbenfrohe Kleider aus teurem Tuch und eine weiße Schärpe spannte sich über den Wohlstandsbauch.

Der Wind war nah bei mir und spielte sanft mit einigen losen Haarsträhnen, die er aus meinem Zopf gezupft hatte. Leise wisperte er mir zu und erzählte von einem fliederfarbenen Haus in der Mitte des nahen Dorfes; groß, mit einem Stall voller Pferde.

Der Mann entschied sich für eine hellblaue Brosche und hielt sie zufrieden ins Licht. »Die ist für meine Frau«, teilte er uns begeistert mit.

Ich lächelte, weil ich nicht anders konnte.

Er betrügt sie, flüsterte der Wind neben mir. Er schläft mit dem Dienstmädchen und verprasst sein Geld mit Kartenspielen und leichten Mädchen.

Schockiert schüttelte ich den Kopf und scheuchte ihn mit einer unauffälligen Geste fort.

Auch wenn ich solche Dinge über die Menschen nicht wissen wollte, flüsterte der Wind sie mir trotzdem viel zu oft zu. Sobald ich jemandem zu lange meine Aufmerksamkeit schenkte, tat er es, weil er es konnte. Er wusste alles, war in jedem Land, in jeder Stadt und jedem Dorf, auf jedem Feld und in jedem Wald. Er war in jedem Zimmer mit offenem Fenster und erhaschte jeden Moment im Haus, wenn er durch den Kamin blies.

Und er gab sein Wissen an mich weiter.

Ich hatte schon vor Jahren aufgehört, es wissen zu wollen. Schnell hatte ich erkannt, dass die Menschen allesamt verdorben waren. Da machte ich mir keine Illusionen.

Aber manchmal wollte ich einfach glauben, dass ein Mann seiner Frau eine Brosche kaufte, weil es ihm Freude bereitete. Und nicht aus einem schlechten Gewissen heraus, weil er ein Spieler war und sie mit anderen Frauen betrog.

Als Ayo dem teuer gekleideten Herrn das kleine Broschen­täschchen aus gefärbtem Leinen reichte und sich lächelnd bedankte, musste ich meinen Blick abwenden. Plötzlich fand ich das Lachen des Mannes gar nicht mehr so ansteckend und sympathisch.

Unauffällig stand ich auf und ging. Niemand hielt mich auf. Ich hatte sowieso keine Arbeit zu erledigen. Manchmal half ich beim Verkaufen. Doch ich war nicht gut darin, mit Fremden zu sprechen.

Jeder hatte seinen Platz. Auch ich. Allerdings anders als die anderen.

Ich gehörte nicht zu ihrer Familie, ihrem Volk. Ich war kein Kind des Feuers.

Ich war eine vom Windvolk. Das Mädchen, das der Wind geküsst hatte.

Vom Wind geküsst

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