Читать книгу Rising Skye (Bd. 2) - Lina Frisch - Страница 11

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Ein lautes Rumpeln reißt mich aus dem Schlaf. Ich stehe auf und öffne meine Zimmertür, aber es ist nur Chief, der ein Paar Schuhe vom Regal geworfen hat und mich jetzt schuldbewusst ansieht.

»Subtiler Hinweis«, gähne ich. »Kannst du nicht dein Frauchen bitten, mit dir spazieren zu gehen?« Doch ein Blick ins Wohnzimmer verrät mir, dass Yana nicht da ist. Ich ignoriere Chiefs Hundeblick und gehe ins Bad, wo ich mir kaltes Wasser über die Hände laufen lasse.

Meine Nacht war kürzer als gedacht, es ist gerade einmal halb zehn. Ich ziehe den Schlafanzug aus und löse vorsichtig den Verband von meinen Verbrennungen. Die lilafarbenen Brandblasen sind kein schöner Anblick, aber wenigstens schmerzen sie nicht mehr so stark. Während ich mich vorsichtig wasche, wandern meine Gedanken zurück zu gestern Nacht. Wie kann dieses Gift, von dem Reka gesprochen hat, in meinen Körper gelangt sein, wenn es schon seit Jahren nicht mehr hergestellt wird? Ich wünschte, Hunter hätte mich mit dieser Frage nicht allein gelassen. Aber etwas hat ihn aus dem Konzept gebracht. Etwas, das nichts mit Luce oder mit dem Erythrozynol zu tun hatte … Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder den Gesichtsausdruck, mit dem er Reka angestarrt hat. Als wäre ihm auf einmal etwas klar geworden. Wütend flechte ich meine Haare zu einem Zopf. Was auch immer es ist – wenn er mich weiter ausschließen will, muss er damit selbst zurechtkommen. Aber in seinen mysteriösen neuen Plan zur Enthüllung von ReNatura wird er mich einweihen. Gestern Nacht war ich zu müde und zu ausgelaugt, um darauf zu bestehen, aber heute werde ich eine Erklärung verlangen. Und ihn anschließend davon überzeugen, dass Abwarten keine Option ist. Wir müssen die Kristallisierer so bald wie möglich stürzen, das sind wir Luce schuldig.

Zurück im Schlafzimmer ziehe ich die oberste Schublade von Yanas Kommode auf. Obwohl es ihr mit Sicherheit nicht gefallen wird, dass ich mich an ihren Sachen bediene, nehme ich eine Jeans heraus – schließlich kann ich nicht im Schlafanzug auf die Straße gehen. Auf der Suche nach einem Oberteil öffne ich auch die nächste Schublade. Und da liegen sie, die Sachen, in denen ich aus dem Zentrum geflohen bin: Der weiße Faltenrock, die weiße Bluse und die Kniestrümpfe. Alles gewaschen und ordentlich zusammengelegt. Nur die Jacke fehlt, wahrscheinlich war zu viel Stoff verbrannt, um noch von Nutzen zu sein. Mit spitzen Fingern schiebe ich den Stapel Wäsche zur Seite. Darunter kommt Hunters silbernes Taschenmesser zum Vorschein, das in meiner Jackentasche gesteckt hat. Ich streiche über das kühle Metall und stecke es in die Tasche meiner Jeans. Es hat mich schon zwei Mal gerettet, erst im Labyrinth und dann in der Nacht der Flucht. Vielleicht werde ich es auch noch ein drittes Mal brauchen können. Das Diktiergerät finde ich nicht, aber das ist auch kein Wunder. Hunter muss es an sich genommen haben. Aber wo ist … Mein Magen knurrt. Ich gehe in die Küche und bestreiche zwei Toasts mit Erdnussbutter und Himbeermarmelade, dann durchsuche ich die Schublade in Yanas Zimmer ein zweites Mal. Doch das Lederband mit der orangefarbenen Glasscherbe ist nicht da.

»Seltsam«, murmele ich. Wahrscheinlich hat Hunter auch die Kette mitgenommen, schließlich weiß er, wie viel sie mir bedeutet. Ich ziehe ein Top von Yana an und schlüpfe im Flur in ein Paar ihrer Sandalen. Chief sieht mich mit schief gelegtem Kopf an und winselt.

»Also gut. Aber nur, wenn du mir den Weg zu diesem Cottage zeigst, wo Hunter übernachtet!« Ich kann mir trotz meiner Sorgen ein Grinsen nicht verkneifen. »Weißt du, ich habe Leute, die mit ihren Haustieren reden, bisher immer für verrückt erklärt.« Ich greife nach der Leine, die neben der Haustür hängt, und befestige den Karabinerhaken an Chiefs Halsband. Er wedelt enthusiastisch mit dem Schwanz. »Wenigstens bekomme ich von dir Antworten, anders als von den meisten Menschen«, murmele ich und öffne die Haustür.


Auf der Main Road brummt ein Lastwagen an mir vorbei. Ich schaue auf den Zettel mit der Adresse von Yanas Großeltern, die ich aus Rekas Adressbuch abgeschrieben habe. Jetzt muss ich nur noch jemanden finden, der mir den Weg zu ihrer Straße erklärt. Während ich mich umsehe, wird mir klar, warum Dad immer darüber schimpft, dass meine Generation sich so sehr auf Smartphones verlässt – ohne die Hilfe des Internets ist mein Orientierungssinn komplett aufgeschmissen. Mangels einer besseren Alternative lasse ich mich von Chief weiterziehen. Die Sonne strahlt warm vom Himmel und es weht ein leichter Wind. Perfektes Laufwetter, denke ich sehnsüchtig. Wenn das hier ein ganz normaler Tag wäre, würde ich jetzt meine Turnschuhe anziehen und das Adrenalin genießen, das durch meine Adern fließt, wenn ich zu joggen beginne. Aber es ist kein normaler Tag. Statt Rekordzeiten beschäftigt mich die Frage, was mit meinem Land passieren wird, wenn Hunter und ich es erst einmal ins Chaos gestürzt haben. Wer wird nach Chloe Cremonte und dem Präsidenten an die Macht kommen? Welches System wird das der Traits ersetzen?

Chief zieht ruckartig an der Leine. Ich verliere das Gleichgewicht und stolpere dem Hund hinterher in eine Querstraße. »Stopp!« Doch gegen fünfzig Kilo pure Willenskraft bin ich machtlos. »Chief, halt!« Zu meiner Überraschung bleibt der große Mischlingsrüde augenblicklich stehen. »Guter Junge«, keuche ich.

Als ich meine Hand aus der Leine gewickelt habe, bemerke ich jedoch, dass er mit aufgestellten Ohren starr geradeaus blickt und leise knurrt. Ich folge seinem Blick. Nicht weit von uns entfernt stemmt eine junge Frau ärgerlich die Hände in die Hüften. Ist das etwa … Sie hat uns den Rücken zugedreht, um ihr Gegenüber anzusehen, aber diese entschiedene Haltung würde ich überall erkennen.

»Woher weißt du, dass ich hier bin?«, faucht Yana.

Reflexartig ziehe ich den Hund hinter ein paar Mülltonnen am Straßenrand und ducke mich.

»Uns entgeht nichts, das solltest du doch wissen. Es tut mir leid, was in Arizona passiert ist. Aber das ist genau der Grund, aus dem ich –«

»Wenn du gekommen bist, um mich zu bitten, bei Beth ein gutes Wort für dich einzulegen, dann hast du dich geschnitten. Ich bin froh, dass sie dich aus New York hierher versetzt hat. Dann habe ich zumindest im Hauptquartier demnächst meine Ruhe.«

Vorsichtig spähe ich hinter den Mülltonnen hervor und sehe, wie Yana die Arme verschränkt. Ihr Körper versperrt den Blick auf denjenigen, mit dem sie spricht.

»Es geht um mehr als den Ring«, sagt der Typ jetzt. »Ich weiß, dass du so bist wie ich. Du willst etwas verändern –«

»Keine Chance«, fährt sie erneut dazwischen. »Ich werde nicht alles riskieren, was ich habe.«

»Und was genau hast du? Die Position als Handlanger von Beths Handlanger?«

Yana hebt warnend die Hand. »Wage es nie wieder, meine Arbeit zu beleidigen«, zischt sie. »Hunter ist vielleicht schon länger dabei, aber ich habe in den letzten beiden Jahren mehr geleistet als er in vier!«

Der Typ lacht. »Ich weiß. Und deshalb steht mein Angebot.«

»Und meine Antwort bleibt Nein. Beth vertraut mir. Wenn du mich noch einmal fragst, werde ich dafür sorgen, dass sie dich endgültig rauswirft!« Mit diesen Worten dreht sie sich um und lässt ihn stehen.

»Also willst du einfach geduldig darauf warten, dass sie deine Leistungen irgendwann anerkennt?« Was auch immer er will – der Typ gibt nicht so schnell auf.

»Nein«, ruft Yana über die Schulter. »Ich werde mir Beths Anerkennung verdienen

Chief springt schwanzwedelnd auf, als Yana an unserem Versteck vorbeistürmt, doch ich halte ihn am Halsband fest und lege meine Hand sacht auf seine Schnauze. Mit klopfendem Herzen presse ich mich gegen die Mülltonnen und warte, bis Yana um die Ecke gebogen ist. Dann richte ich mich auf. Die Straße ist leer, der Typ ist verschwunden. Yanas letzter Satz hallt durch meinen Kopf. Ich werde mir Beths Anerkennung verdienen. Das kann nur eins bedeuten … So schnell ich kann, laufe ich Yana hinterher in Richtung der Main Road. Ich muss Hunter finden. Ich muss ihm sagen, dass er der Falschen vertraut … Yana verehrt meine Mutter. Und im Augenblick gibt es einen sehr einfachen Weg, sich Mums Anerkennung zu verdienen und gleichzeitig in der Leitungsriege des Rings zu landen. Ich weiche einem Pärchen aus, das mir entgegenkommt. Yana könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn obwohl sie Hunter in der Nacht unserer Ankunft versprochen hat, uns nicht zu verraten, spüre ich, dass sie mich liebend gern an der Seite meiner Mutter in ein Flugzeug steigen sehen würde. Ohne Ticket zurück.

»Skye?«

Ich beschleunige meine Schritte.

»Hey, Skye! Warum rennst du so?« Ocean winkt mir aus der Tür eines Cafés zu. Das muss der Laden sein, wo Hunter die Doughnuts geholt hat. Monas Café.

»Bloß … ein Morgenspaziergang«, rufe ich ihm zu. Doch die Ablenkung hat mich Tempo gekostet. Seufzend sehe ich Yana hinterher, die gerade um eine Ecke verschwindet. Früher hätte ich sie problemlos eingeholt, aber meine Kondition ist nach mehr als einer Woche Bettruhe nicht mehr dieselbe. Vielleicht brauche ich Yana allerdings gar nicht, um Hunter zu finden. Mein Blick wandert zurück zu Ocean, der mir winkend bedeutet, ins Café zu kommen. Ocean kann mich ebenso gut zum Cottage seiner Großeltern führen. Ich binde Chief im Schatten vor Monas Café an.

»Nur eine Sekunde, versprochen«, sage ich und schiebe ihm den Wassernapf hin, der auf dem Gehweg steht.

Ich öffne die Glastür und dränge mich an den Tischen vorbei, an denen Leute die Zeitung lesen, ein frühes Mittagessen oder ein spätes Frühstück zu sich nehmen.

»Solltest du nicht in der Schule sein?«, frage ich, als ich zu Ocean an den Tresen trete.

»Chemieklausur.« Er grinst. »Lohnt sich nicht.« Er deutet auf einen Barhocker.

»Ich kann nicht bleiben«, sage ich abwehrend. »Hör zu, Ocean, ich muss dringend mit Hunter sprechen.« Ich erwische mich dabei, wie ich nervös mit den Fingern auf den Tresen trommle. »Kannst du mir erklären, wie ich zum Cottage deiner Großeltern komme?«

Ocean nickt. »Ich bring dich gleich hin, okay? Ich warte nur noch auf meine Pancakes.« Er sieht mich an. »Ich habe über deine Freundin nachgedacht. Wenn du wirklich herausfinden willst, wo sie ist, gibt es vielleicht eine Möglichkeit.«

Ich setze mich auf den Hocker. »Welche?«

Ocean hält mir das Display seines in die Jahre gekommenen Handys entgegen, von dem mir eine Anzeige entgegenstrahlt.

»Neueste Technologie, neuestes System, bester Komfort?«, lese ich stirnrunzelnd. Das Bild unter dem Text ist zu verpixelt, um mehr als ein graues Rechteck in der Hand einer lachenden Frau zu erkennen.

»Die Teile sind der Wahnsinn. Erst gestern rausgekommen und trotzdem schon überall ausverkauft, sogar in den Onlineshops.« Er deutet auf eine Zeile in einer Sprechblase: So weißt du immer, wo deine Freunde sich gerade befinden! »Das hier meine ich. Eine Art Radiusangabe soll dir anzeigen, wer in der Nähe ist. Auf den Farmen werden bestimmt ab und an Ausflüge in die Stadt angeboten. Wenn Luce sich so eins besorgt, könntest du sie garantiert ausfindig machen.«

Ich betrachte Oceans unbekümmertes Gesicht. Er glaubt tatsächlich, die Radarfunktion von irgendeinem neuen Handy würde meine Probleme lösen.

»Dich findet man im Zweifel wohl immer in einem TechMania-Laden, nicht wahr?«, sage ich.

»Erwischt.« Ocean grinst.

Ich versuche, meine Enttäuschung zu verbergen. Vielleicht ist es gut, dass Ocean trotz meines Ausbruchs gestern Abend glaubt, Luce und Reilly seien auf der »Farm« in Sicherheit und hätten die Möglichkeit, sich das neuste Smartphone zu besorgen.

»Na, was kann ich dir bringen? Omelette, French Toast oder vielleicht einen Milchshake?«, reißt mich eine warme Stimme aus meinen Gedanken. Das Schild auf der karierten Bluse der Frau verrät, dass Mona sowohl der Name des Cafés als auch der seiner Besitzerin ist. Sie stellt einen Teller Pancakes vor Ocean ab und lächelt mich fragend an.

»Nichts, ich bin eigentlich auf dem Sprung«, sage ich, als Chiefs Bellen neue Besucher ankündigt. Eine Frau mit zwei Kindern, Zwillingen, wie es scheint, setzt sich an einen runden Tisch nicht weit entfernt von unseren Hockern.

»Mummy versucht mal, Daddy anzurufen«, erklärt sie. »Wollt ihr Daddy erzählen, dass wir bei echten Indianern gelandet sind?«

Oceans Lächeln verschwindet.

»Wir würden es vorziehen, als Native Americans bezeichnet zu werden, wenn Sie den Namen unseres Stammes schon nicht wissen«, sagt Mona freundlich, als sie der Frau die Speisekarte reicht. »Und übrigens: Es gibt über 500 indigene Stämme allein auf dem Gebiet der ehemaligen USA. Sie alle einfach als Indianer zu bezeichnen, obwohl sich unsere Sprache, Religion und Kultur grundsätzlich voneinander unterscheiden, ist nicht nur falsch, sondern auch ziemlich unsensibel.«

Die Frau starrt Mona mit offenem Mund hinterher.

»Eine Gläserne Nation ohne Rassismus, dass ich nicht lache.« Mona schüttelt den Kopf, als sie an uns vorbei hinter den Tresen geht. »Unglaublich, oder?«

Ich erwidere nichts. Im Sonnenlicht, das durch das Fester fällt, blitzt ein silbernes Armband auf, das sich unauffällig wie eine Uhr um das Handgelenk der Frau legt. Auf einmal spüre ich wieder die Kühle des Metalls, als Hunter mir den Check an meinem ersten Abend im Zentrum umlegte. Fühle es förmlich brennen bei dem Gedanken daran, dass sich in dem harmlos wirkenden Gerät Kameras und Mikrofone verbergen, die nur darauf warten, jeden untreuen, regierungsfeindlichen Atemzug zu verraten.

»Wow!«, sagt Ocean zwischen zwei Bissen. »Es sieht in echt noch viel beeindruckender aus.«

Ich beobachte, wie die Frau das Metallarmband mit einer Streichbewegung ihres Zeigefingers dazu bringt, sich bis zur Mitte ihres Unterarms auszubreiten. Mit gerunzelter Stirn tippt sie auf dem Display herum.

»Hallo!« Die Frau winkt in Richtung des Tresens. »Funktioniert Ihr Internet nicht?«

Als Mona sie nicht beachtet, steht die Frau auf und stellt sich neben uns an die Theke. »Ich kann meinen Mann nicht erreichen, weder über Nachrichtenfunktionen noch über Mobilfunk. Und an meinem Check liegt das wohl nicht, der ist brandneu!« Anklagend streckt sie Mona ihren rechten Arm entgegen.

Hitze schießt in mein Gesicht und ich springe auf. Ocean, der bewundernd auf den Check der Frau gestarrt hat, protestiert, als ich ihn mit mir aus dem Café schleife und ihm stumm bedeute, die Klappe zu halten. Wenn er meinen Namen ausspricht, ist alles vorbei …

»Was sollte das?«, fragt er, als wir auf der Straße stehen.

Ich lasse ihn los und beiße mir auf die Lippe. Wie kann es sein, dass die Checks auf einmal frei verkäuflich sind? Im Zentrum hieß es doch, sie seien noch in der Testphase! Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder die Tonspuren im Kontrollraum. Den winzigen Mikrofonen des Checks entgeht kein kritisches Wort, kein Lachen über den falschen Witz. Wenn erwachsene Untreue bis jetzt in Sicherheit waren – nun sind sie es nicht mehr. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Die Checks werden ein geeintes Land schaffen. Ein Land, in dem es keinen offenen Widerspruch gegen die Kristallisierer mehr gibt. Ein Land ohne Regierungsgegner. Zumindest ohne hörbare.

Jemand rempelt mich an, und plötzlich wird mir bewusst, wie viele Menschen den Bürgersteig entlangeilen oder Monas Café betreten. Wer von ihnen trägt schon einen Check? Mein Herz hämmert in meiner Brust, als ich mir vorstelle, wie die winzigen versteckten Kameralinsen mein Gesicht einfangen. Ich muss von hier verschwinden.

»Hey!« Ocean zieht einen hechelnden Chief hinter sich her, der mich fröhlich begrüßt, als ob ich ihn nicht beinahe an einer Straßenlaterne vergessen hätte. »Meinst du nicht, du schuldest mir so langsam mal eine Erklärung?«

Ich versuche, die aufwallende Hitze in mir zu ignorieren. Panik hilft mir jetzt auch nicht weiter. »Bring mich zum Cottage. Ich muss mit Hunter sprechen, und zwar jetzt gleich.«

Ocean sieht mich an. Dann deutet er nach links, ohne eine weitere Frage zu stellen.


Ich werfe meine Jacke über den alten Hutständer in der Ecke der Garage, dann lasse ich mich neben Yana auf die Couch fallen. Der Schmuckanhänger. Ich habe kaum geschlafen, weil ich an nichts anderes denken konnte als an den Anhänger, der gestern Nacht unter dem Ärmel von Rekas Kittel hervorblitzte, als sie die Arme über den Kopf hob und sich streckte. Es ist derselbe, dessen bin ich mir sicher. Silber, gegossen in die Form eines winzigen Buches, verziert mit einem smaragdgrünen Stein. Dad hat ihn bei einem Juwelier in Manhattan anfertigen lassen und ihn Mum geschenkt, als sie die Stelle als Chefredakteurin bei der Times bekam.

Ich schließe die Augen und sehe wieder vor mir, wie Reka am Tag nach unserer Ankunft in Las Almas eine neue Schicht Salbe auf Skyes Schulter aufträgt. Die Sonne ließ das Silber ihres Armbands schimmern, und eine Sekunde lang glaubte ich da schon, den Anhänger wiederzuerkennen. Doch ich hielt es für unmöglich, schließlich war das Schmuckstück eine Sonderanfertigung – für immer verloren, genau wie seine Trägerin. Aber seit der vergangenen Nacht besteht kein Zweifel mehr. Ich denke daran, wie der Smaragd das Licht der Deckenlampe einfing. Einen Moment lang habe ich geglaubt, Mum wieder in die Augen zu sehen …

»Willst du eine?« Ertappt sehe ich auf. Yana hält mir eine Dose Cola entgegen. »Sieht aus, als startet unsere Suche nach neuen Beweisen wieder bei null.« Sie öffnet ihre Dose und flucht, als Schaum auf ihre Hand und auf das Polster der Couch spritzt. »Was für ein Scheißtag!« Sie knallt die Dose auf den Tisch, was eine noch größere Sauerei veranstaltet.

Ich stehe auf und reiche ihr einen Lappen. »Alles okay bei dir?«

Sie nickt unwirsch. »Kaum geschlafen, das ist alles.« Sie atmet tief durch. »Außerdem hasse ich es, wenn ein Plan nicht funktioniert. Jetzt, da das Mädchen aus dem Krankenhaus als Zeugin wegfällt, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen. Etwas deutlich Riskanteres, als eine Patientin aus Greenhill zu entführen.«

Ich trinke einen Schluck. Die süße Kälte macht es mir leichter, nicht weiter über Mums Anhänger nachzugrübeln und mich stattdessen auf die Frage zu konzentrieren, die jetzt wichtiger ist: Wo finden wir einen neuen Beweis für ReNatura? Es gibt nur eine Antwort. In New York. Ich denke an die Wachen rund um den Regierungssitz, das neue Weiße Haus, und daran, was Skye jetzt sagen würde. Da reinzukommen ist unmöglich.

Ich seufze. Gestern Nacht war ich kurz davor, Skye die Wahrheit zu sagen. Sie würde mir meine Lüge verzeihen, dessen bin ich mir sicher. Aber sie würde sich trotz all ihrer Zweifel nicht davon abhalten lassen, mich nach New York zu begleiten. Wo die Kristallisierer höchstwahrscheinlich nur darauf warten zu beenden, was in Angelas Wohnung begann. Nein, ich kann Skye nicht sagen, dass das Diktiergerät verbrannt ist. Ihr Leben ist ein zu hoher Preis für Ehrlichkeit.

Ich greife in meine Tasche und hole Luces Kette heraus. »Es wäre so einfach gewesen«, murmele ich, doch bevor ich weitersprechen kann, reißt Yana mir das Lederband mit der geschliffenen Glasscherbe aus der Hand.

»Wem gehört das?«

»Luce«, erwidere ich, verwundert über die Schärfe in ihrer Stimme. »Skye hat die Kette seit Luces Festnahme getragen. Ich habe sie ihr nur abgenommen, damit Reka die Verbrennungen behandeln konnte, und wollte sie ihr eigentlich schon längst zurückgeben, aber –«

Yana schnaubt. »Das lässt du besser bleiben. Außer, Skye ist scharf darauf, für eine Terroristin gehalten zu werden.« Sie wirft mir die Kette zu. »Hier, ich will das Zeichen der Sonne nicht.«

Das Zeichen der Sonne? Ich betrachte die Scherbe, diesmal mit anderen Augen. »Du meinst –«, stammle ich.

»Wenn diese Luce sie getragen hat, dann ist sie eine von Yaels Leuten. Und wir hätten einen verdammt großen Fehler damit begangen, sie zu befreien und ihr von ReNatura zu erzählen.«

Ich denke an Luces strahlendes Lachen, ihre Selbstlosigkeit und die Art, mit der sie zu Skye stand, als niemand anders es tat. Wie sie den Gang durch das Labyrinth auf sich genommen hat, um Skye zu schützen. Das ist das Mädchen, das ich kennengelernt habe. Aber allem Anschein nach hat Luce Vaillant noch eine ganz andere Seite. Ich will mir nicht vorstellen, was unsere Informationen in der Hand der gefährlichen Untergrundorganisation angerichtet hätten.

Yana schnalzt mit der Zunge. »Schon erstaunlich, was eine kleine Kette, ein winziges Detail, in Sekundenschnelle zerstören kann. Vertrauen, Freundschaften …« Sie sieht mich mit schief gelegtem Kopf an. »So ein Bruch ist hart, aber nötig.«

»Ich weiß nicht, ob es klug wäre, Skye die Wahrheit über die Sonne zu sagen. Sie vertraut Luce. Im Zweifel vielleicht sogar mehr als mir.« Ich spüre, wie sich meine Brust zusammenzieht, als ich den Gedanken weiterführe. Wenn Skye herausfindet, dass das Diktiergerät verbrannt ist, bin ich in ihren Augen ein Lügner. Was läge da näher, als sich der gleichen Organisation anzuschließen wie ihre beste Freundin, die ihr noch nie Anlass gegeben hat, ihr zu misstrauen?

»Zumindest vorerst sollte Skye nichts von der Sonne wissen«, sage ich und schiebe die Kette zurück in meine Tasche. »Es ist sicherer für sie.«

»Oder bequemer für dich?«

»Wir haben gerade wirklich einen Haufen anderer Probleme, Yana. Und Skye auch.«

Kopfschüttelnd klappt Yana ihren Laptop auf. »Ich schlage vor, wir durchkämmen erst einmal das Internet«, sagt sie kurz angebunden. »Selbst wenn ReNatura absoluter Geheimhaltung untersteht – irgendeine Spur findet sich immer, und wenn es nur ein Name ist.«

Sie beginnt zu tippen, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Schon erstaunlich, was ein winziges Detail in Sekundenschnelle zerstören kann. Wenn Yana wüsste, wie wahr ihre Worte sind … Wieder sehe ich Rekas Handgelenk vor mir. Wieder ist es ein kleines Schmuckstück, das mir das Vertrauen in jemanden raubt, den ich zu kennen geglaubt habe. Denn der Anhänger verrät mir, dass ich in Las Almas nicht der Einzige bin, der von Mums Tod weiß.

»Hunter? Ich rede mit dir.«

»Sorry.«

Ich beuge mich vor, um pflichtschuldig die Ergebnisse von Yanas Recherche zu begutachten, doch sie klappt den Laptop zu. Forschend sieht sie mich an. »Was ist?«

Ich lasse die Schultern sinken. »Nichts … Ich habe nur das Gefühl, niemand steht noch auf unserer Seite. Erst Amanda und Manuel, die einen Pakt mit den Kristallisierern geschlossen haben. Dann Luce, die zu einer Terrorgruppe gehört. Und –«

Und Reka. Die beste Freundin meiner Mutter, die vor den anderen so tut, als sei Mum noch am Leben, obwohl sie die Wahrheit kennt. Ich habe wenigstens einen guten Grund für meine Lüge. Wie lautet ihrer?

»Mit dir und mir ist unsere Seite stark genug«, sagt Yana entschieden, bevor ihre Gesichtszüge sanfter werden. »Und meine Großeltern würden dich niemals ausliefern, Hunter.«

»Ach, glaubst du das?«

»Ja, das glaube ich!« Yana klingt verletzt. »Sie waren immer für dich da. Sie heißen dich nach Jahren der Funkstille willkommen wie einen verlorenen Sohn. Sie machen keine Anstalten, Sol zu erreichen und ihr zu petzen, dass du mit einem Mädchen durchgebrannt bist, weil sie deinen Freiraum respektieren.« Yana kneift die Augen zusammen. »Das ist es, worüber du dir Sorgen machst, oder nicht? Dass sie rauskriegen könnten, dass der Brief damals von dir war und Sol …?«

»Lass uns bitte einfach mit der Suche weitermachen.« Ich klappe den Laptop wieder auf. Wir werden weder im Internet noch im Darknet irgendetwas über ReNatura finden, aber der Versuch wird Yana hoffentlich für eine Weile beschäftigen, damit ich nachdenken kann.

Doch sie beachtet mein schwaches Ablenkungsmanöver nicht. »Denkst du, meine Mutter wird versuchen, deine anzurufen? Jetzt, wo du hier aufgetaucht bist?«

Ich fixiere eins der Löcher im Wellblechtor, durch das ein schmaler Lichtstrahl in die Garage fällt. Der Gedanke, der mir seit Stunden keine Ruhe lässt, kreist wieder und wieder in meinem Kopf. Im Juni vor vier Jahren ist Mum erschossen worden. Wenige Tage später ließ Reka ihren Job und ihre Freunde zurück und zog quasi über Nacht zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter zurück nach Las Almas. Ich habe den spontanen Umzug, den auch Yana mir damals nicht erklären konnte, für einen Zufall gehalten – bis ich den Anhänger an Rekas Armband entdeckte. Denselben Anhänger, den Mum bei ihrer Flucht getragen hat. Den ich zusammen mit ihrer Leiche zurückließ, als Beth mich panisch wegzerrte.

»Nein«, beantworte ich Yanas Frage. »Ich glaube nicht, dass deine Mutter versuchen wird, meine anzurufen.«

Denn Tote gehen nicht ans Telefon – das weiß auch Reka.

Rising Skye (Bd. 2)

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