Читать книгу Rising Skye (Bd. 2) - Lina Frisch - Страница 7

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Skyes Augenlider flattern, als ich sie auf den Rücksitz des Cadillacs hebe. Das Schloss war ein Kinderspiel, wie immer bei alten Autos. Ich lächle, so aufmunternd ich kann, obwohl mir noch nie in meinem Leben so wenig danach zumute war. Behutsam streiche ich über ihren Arm, aus dem ich geistesgegenwärtig die Splitter gezogen habe. Sie müssen von dem Laptop stammen. Von der Bombe. Meine Kehle schnürt sich zu, als ich zurücksehe, die Straße hinunter, wo sich nun schwarze Rauchwolken über dem Wohnkomplex bilden. Das Diktiergerät ist zerstört, genau wie der Bericht von McCarty. Unsere Beweise für die Existenz von ReNatura – für immer fort. Aber darum werde ich mich später kümmern müssen. Die Kristallisierer sind bereit, uns zu töten. Wir müssen von hier verschwinden.

»Kannst du mich hören, Skye?«

»Mir ist schwindelig«, sagt sie gepresst. »Ich krieg keine Luft!«

»Alles wird gut«, behaupte ich lahm. Was tut man gegen eine Rauchvergiftung? Das Einzige, was mir einfällt, ist, die Fenster des Cadillacs herunterzukurbeln, damit Skye mehr Sauerstoff bekommt. »Ich habe einen Plan, okay? Aber du musst durchhalten.«

Skyes Hand liegt auf ihrer Brust, wandert zu ihrem Hals, als würde sie den Fehler suchen. »Warum … keine Luft …«

Ich beobachte besorgt den Rhythmus, in dem Skyes Brust sich viel zu schnell hebt und senkt.

»Du atmest. Es ist alles in Ordnung, hier ist kein Rauch mehr. Du wirst nicht ersticken, okay?«

Skyes Kopf sackt zur Seite weg, und mir wird klar, dass sie das Bewusstsein verloren hat. Beeil dich, Idiot!

Mit fahrigen Fingern schließe ich den Motor kurz und stoße einen erleichterten Laut aus, als das alte Ding aufbrummt. Ich lege den Gang ein und fahre los. Nervös schalte ich das Radio ein und suche einen Sender. Fahnden sie nach uns? Der Empfang wird klarer.

»Es sind nur noch knappe drei Wochen bis zum Kristallfest am ersten Juli und ganz New York trifft fieberhafte Vorbereitungen für die Parade. Schließlich haben die Gläsernen Nationen in diesem Jahr mehr zu feiern als je zuvor! Ich stehe gemeinsam mit Regierungssprecher Edward McCarty vor der Administration. Herr Regierungssprecher, welche Meilensteine hat die Kristall-Administration in diesem Jahr erreicht?«

»Seit Kurzem schießen die Kristallisierungsraten unter Erwachsenen in die Höhe. Wir reden bereits in drei Viertel aller Bezirke von Vollkristallisierung und erwarten dieses Ergebnis bald in den gesamten Nationen.«

Kein Wunder, wenn die Bereitschaft der Eltern, sich einem Trait zuzuordnen, die Bildungschancen ihrer Kinder bedingt, denke ich bitter.

»Der Kristall ist sehr bewegt von dieser Welle der Überzeugung, jährt sich doch neben dem Kristallfest auch der große Skandal in wenigen Tagen …«

Erleichtert schalte ich das Radio aus. Keine Meldung über zwei gesuchte Verräter. Stattdessen werden sie jetzt wieder den Tod der Studierenden breittreten, die schreckliche Schießerei und die impulsiven Befehle einer Ministerin, die für all das verantwortlich sind. Sie werden uns vorbeten, wie glücklich wir uns schätzen können, weil die neue Ordnung uns vor derartigen Katastrophen schützt. Und wieder einmal werden sie das Loblied anstimmen auf Chloe Cremonte, die Tochter eben jener unbeherrschten Ministerin. Chloe Cremonte, die uns die Traits geschenkt hat, die Einteilung der Menschen in Rationale und Emotionale … und noch so viel mehr. Aber davon wissen nur Skye und ich. Noch.

Ich gebe Gas, wütend auf die Show und die Menschen, die sich zu wohlfühlen, um irgendetwas zu hinterfragen. Laut der Uhr am Armaturenbrett ist schon mehr als eine Stunde vergangen. In den Seaview Hills werden die Bluthunde der Regierung Angelas Wohnung mittlerweile nach unseren Leichen durchsucht haben. Ich umklammere das Lenkrad fester. Die Kristallisierer werden nichts unversucht lassen, um uns zu finden. Und sie sind nicht die Einzigen, vor denen ich Skye beschützen muss.

Ich folge den Schildern und fahre auf den Highway. Es gibt einen Ort in den Gläsernen Nationen, über den die Kristallisierer keine Macht haben. Auf dem Rücksitz beginnt Skyes bewusstloser Körper, unkontrolliert nach Luft zu schnappen.

»Halt durch!« Der Motor heult auf, als ich das Gaspedal durchtrete. Die Reservate sind selbstverwaltete Gebiete, dort werden Cremontes Ordnungswahrer uns nicht finden. Ich muss Las Almas erreichen, bevor es zu spät ist.


Eine glühende Sonne brennt auf die Pinien am Straßenrand herab, als ich die Fahrertür des Cadillacs aufstoße und aus dem Wagen springe. Fast wünsche ich mir den stürmischen Wind der Küste zurück.

»Wir haben es bald geschafft«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als ich Skye vom Rücksitz hebe.

Ausgerechnet so kurz vor dem Ziel musste mir das verdammte Benzin ausgehen! Mit Skye in meinen Armen klettere ich über die Leitplanke auf einen verlassenen Feldweg. Ängstlich mustere ich Skyes gespenstisch blasse Wangen. Halt durch … Ich treibe mich zu einem schnelleren Tempo an. Links neben dem Pfad beginnt ein sumpfiges Gebiet, über das sich mächtige Mangrovenbäume erstrecken. Wie oft haben Yana und ich uns früher hier versteckt, wenn unsere Familien am Ende des Sommers zurück nach New York fahren wollten … Es wird nicht leicht werden, mein plötzliches Auftauchen zu erklären. Oder besser mein fünfjähriges Fernbleiben.

Skye stöhnt leise und jeder andere Gedanke verschwindet aus meinem Kopf. Bitte sei nur noch ein einziges Mal stark! Ich betrachte den sanften Schwung ihrer Lippen, die dunklen Wimpern, die ihre geschlossenen Augen umrahmen. Und dann kann ich nicht mehr an mich halten.

»Es tut mir so leid«, stürzt es aus mir heraus, während ich den Feldweg entlanghaste. »Ich hätte dir die Wahrheit sagen sollen … über Beth … deine Mum … was sie seit vier Jahren wirklich tut. Über den Ring. Über ihren Plan für euch beide.« Und jetzt habe ich vielleicht nie wieder die Chance dazu.

Erneute Krämpfe schütteln Skyes Körper, als die ersten Straßen des Reservats in Sicht kommen. Ich beschleunige nochmals mein Tempo, bis ich endlich das Haus der einzigen Person erreiche, die Skye vielleicht noch retten kann.


Heb ihren Kopf an.« Ich höre jemanden stöhnen. »Vorsicht! Pass auf die Verbrennungen auf.« Kühle Finger befestigen einen Schlauch unter meiner Nase. »Bis morgen früh komme ich nicht an ein vernünftiges Beatmungsgerät. Du hättest sie ins Krankenhaus bringen sollen, Hunter!« Jemand streicht meine Haare zurück. Ich öffne die Augen und erkenne das Gesicht einer Frau. Ihre Stirn liegt in Falten, der Blick, mit dem sie mich mustert, ist konzentriert. »Immerhin muss sie sich nicht erbrechen. Das ist ein gutes Zeichen.«

Wo bin ich? Doch bevor ich diese Worte über die Lippen bringen kann, wird wieder alles schwarz.

Beißender Rauch dringt unaufhaltsam in meine Lunge. Ein scharfer Schmerz. Splitter. Das Krachen wütender Flammen in den Ohren, taste ich über den Teppich. Wo ist das Diktiergerät? Ich muss es fallen gelassen haben, kurz nachdem die eisblauen Buchstaben über den Computerbildschirm liefen und die Hölle auf Erden begann.

Man muss wissen, wann man verloren hat.

Der Rauch wird dichter, ich kann kaum noch etwas sehen. Das Diktiergerät! Meine Hand tastet verzweifelt über den Boden. Auf dem unscheinbaren Apparat sind die Worte gespeichert, die das Kartenhaus aus Lügen, in dem ich seit fünf Jahren lebe, zum Einsturz bringen können. Es darf nicht verbrennen! Meine Hand entzieht sich meiner Kontrolle. Ich spüre wieder, wie Tonyas Finger meinen entgleiten. Sehe sie fallen, sehe den Transporter mit den getönten Scheiben, der die Mädchen fortschafft. Mädchen, die ihre eigene Stimme behalten wollten und für die es in den Gläsernen Nationen bald keinen Platz mehr geben wird. Mädchen wie mich.

»Skye!«

Seine Stimme treibt meinen Herzschlag in die Höhe, als würde sich mein Körper noch einmal aufbäumen, um ihn nicht in diesem Chaos zurückzulassen.

»Hunter«, flüstere ich, aber ich bekomme keine Antwort. Ich will mich aufraffen, will zu ihm, aber ich kann mich nicht bewegen, während das erstickende Feuer immer näher kommt. Lass mich nicht allein!

Ich spüre Hunters Lippen auf meinen, unseren ersten Kuss in der kühlen Luft des Parks am Abend unserer Flucht aus dem Zentrum. Meine Finger streichen über sein Gesicht. Ich presse ihn an mich und atme durch den rauen Stoff seines Shirts den vertrauten Duft nach Pfefferminze ein.

»Wir müssen sie aufhalten«, flüstere ich, bevor ein tiefes schwarzes Loch die Angst und Wut und Liebe, die mich zu erdrücken drohen, endlich verschwinden lässt.


»Skye!«

Meine Augenlider flattern, hin- und hergerissen zwischen zwei Welten. Ich spüre ein feuchtes Tuch auf meinem Gesicht.

»Wir dürfen …« Meine Stimme ist rau wie zersplittertes Glas. »Wir dürfen nicht länger warten!« Als ich versuche zu schlucken, schüttelt mich ein heftiger Hustenanfall. Meine Brust zieht sich zusammen, und ich schnappe nach Luft, ohne atmen zu können.

»Was passiert mit ihr?« Hunters Stimme klingt fern. »Warum geht es ihr immer schlechter? Verdammt, das kann doch nicht normal sein!« Der Raum verschwimmt vor meinen Augen – aber ich muss bei Bewusstsein bleiben.

»Das Diktiergerät!« Meine Worte sind kaum mehr als ein Keuchen, doch das Aufleuchten in Hunters grünen Augen verrät mir, dass er mich verstanden hat. Er muss meine Aufnahme aus dem geheimen Konferenzraum veröffentlichen, die Welt muss von ReNatura erfahren – jetzt! Ich versuche, meine Hand nach ihm auszustrecken, und wieder entfährt mir ein Stöhnen.

»Bring Hunter hier raus!«, befiehlt die strenge Frau. Eine jüngere Version von ihr taucht neben Hunter auf und fasst ihn sanft am Arm.

»Ich gehe nirgendwohin!«, protestiert er.

Ich will nicht, dass er geht. Ich will, dass er bei mir bleibt. Eine Nadel schiebt sich in meinen Handrücken. Meine Finger erschlaffen und geben den Stoff frei, den sie umklammert haben, während die Ränder des kleinen Zimmers wieder schwarz werden.

Ich will nicht schlafen.


Die Uhr über dem Herd zeigt eins, als das Geräusch von Schritten die nächtliche Stille durchbricht. Ich springe auf.

»Reka, wie geht es –«, beginne ich, doch es ist nicht die frühere beste Freundin meiner Mutter, die die Küche betreten hat.

»Keine Sorge. Die Verbrennungen sind versorgt. Ma ist jetzt mit der Blutprobe auf dem Weg ins Krankenhaus.«

Ich nicke erschöpft. Das Auto habe ich nicht wegfahren hören, ich muss also doch eingeschlafen sein. »Warum bist du nicht im Hauptquartier?«, frage ich. »Hat Beth dir endlich Urlaub gegeben?«

Yana legt den Kopf schief. »Unwichtig. Sag mal, täusche ich mich, oder liegt gerade genau das Mädchen bewusstlos in meinem Bett, für das Beth dich ins Zentrum geschickt hat?« Ihr dichtes Haar fällt seitlich über ihre Schulter, wo der Flügel eines Vogels unter ihrem Shirt hervorblitzt. Die Natives halten den Vogel für den Herrscher der Erde. Yana Faray hält ihn für ein Protestsymbol gegen diejenigen, die sich benehmen, als wären sie diese Herrscher. »Will Beth die Kleine auf einmal nicht mehr haben?«

Bei dem Gedanken an meinen Auftrag läuft ein Schauer über meinen Rücken. Ich sollte dafür sorgen, dass Skye das Zentrum als Rationale verlässt, nicht als Untreue. Wenn die Kristallisierer eine öffentliche Fahndung nach uns herausgeben und Beth das Gesicht ihrer Tochter in den Nachrichten sieht, wird sie sofort wissen, dass etwas nicht stimmt. Und dann …

»Erde an Hunter?« Yana schnipst mit den Fingern vor meinem Gesicht herum.

»Beth darf nicht erfahren, dass wir hier sind.« Ich bemühe mich, gefasst und ruhig zu klingen.

»Was ist passiert?«

»Es ist … kompliziert«, stammele ich.

Yana stellt eine dampfende Tasse vor mir ab und setzt sich neben mich auf die Küchenbank. »Wenn du verlangst, dass ich meine Chefin hintergehe, solltest du mir besser einen guten Grund dafür liefern.«

Yana vergöttert Beth, seit diese sie vor zwei Jahren beim Ring aufgenommen hat. Ich rühre in meinem Kaffee herum, schwarz, ohne Zucker. Beth würde mich umbringen, wenn sie wüsste, dass ich es Yana erzähle. Aber Beth wird mich sowieso umbringen … Müde fahre ich mir durch die Haare.

»Skye ist nicht irgendein Auftrag. Sie ist Beths Tochter.«

»Beth hat eine Tochter?«

Yana reißt erstaunt die Augen auf. Ich kann es ihr nicht verdenken. Beth ist alles andere als ein mütterlicher Typ. Oder vielleicht ist dieser Teil von ihr auch einfach nur verschwunden in den vier Jahren, die sie nun schon damit verbringt, die Leben anderer Menschen aufs Spiel zu setzen, um Skye zurückzubekommen. Wie immer meldet sich ein nagendes Schuldgefühl in mir, als ich an die Nacht ihrer Flucht denke. Ich hätte bei Skye bleiben müssen, hätte sie aus dem Kofferraum befreien müssen. Dann wäre ihr Vater nicht mit ihr abgehauen. Dann hätte sie nicht vier Jahre lang geglaubt, von ihrer Mutter verlassen worden zu sein – und Beth hätte nicht vier Jahre lang Zeit gehabt, einen stummen Hass auf mich zu entwickeln, weil ich ihr geblieben bin statt Skye.

In der Küche herrscht vollkommene Stille, die nur durch das Ticken der Uhr unterbrochen wird.

»Beth hat den Ring nicht aus Großherzigkeit gegründet«, sage ich schließlich. »Was sie tut, dient nur einem Ziel, und zwar sich selbst und Skye die Flucht zu ermöglichen.«

»Deshalb musstest du dafür sorgen, dass sie eine Rationale wird?«, fragt Yana. »Damit Beth mit ihr problemlos die Grenze überqueren kann, ohne –«

»Ohne eins ihrer eigenen falschen Traitmarks nutzen zu müssen«, beende ich ihren Satz. Die Bitterkeit in meiner Stimme lässt sich nicht verbergen. Yana legt ihre Hand auf meinen Arm.

»Die Lösungen des Rings sind nicht ideal, aber immerhin tut Beth etwas, anstatt wie die Leute im Reservat bloß stillzuhalten und zu hoffen, dass die Kristallisierer von allein wieder verschwinden! Die Traits nehmen uns unsere Freiheit. Wir geben sie den Menschen zurück.«

Ich zucke zusammen. »Die Traits nehmen uns unsere Freiheit.« Das ist es, was Abigail zu mir gesagt hat, als ich ihr das falsche R stach. Ich hatte keine Ahnung, ob es sie in Sicherheit bringen würde. Mit aller Macht versuche ich, Abigails Gesicht aus meinen Gedanken zu verbannen, aber wie üblich funktioniert es nicht. Wann werde ich dich endlich vergessen können?

»Was auch immer Beth den anderen einredet«, sage ich und befreie meinen Arm aus Yanas Hand. »Was auch immer sie dir eingeredet hat, damit du glaubst, deine Arbeit für den Ring sei ein Dienst an der Menschheit: Vergiss es. Beth ist kein wohltätiger Engel. Sie weiß nur zu gut, dass unsere Traitmarks nichts als Tinte sind, die ohne Datentransmitter keinem Scan standhalten.« Hasserfüllt betrachte ich das R auf meinem eigenen Handgelenk. Eine nur fast perfekte Täuschung …

»Aber das sagt sie den Kunden doch auch offen und ehrlich! Es ist die freie Entscheidung jedes einzelnen, das Risiko einzugehen.«

»Du meinst die freie Entscheidung der Leute, die keine andere Chance mehr haben als uns?« Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf. »Beth kann den Ring als Fluchthilfeorganisation bezeichnen, so viel sie will – aber wir sind Schlepper, nichts anderes. Wir lassen uns ein bisschen Tinte und eine Fahrt zur Grenze mit einem Vermögen bezahlen, das wir nicht nehmen müssten, wenn Beth –«

Wenn Beth es nicht für Skyes und ihren Neuanfang brauchen würde … Mein Mund wird trocken. Noch drei Wochen. Wir haben noch drei Wochen, bevor die Testung offiziell endet und Beth uns in der alten Bibliothek erwartet. Ich muss so schnell wie möglich an neues Beweismaterial für ReNatura kommen. Wenn wir die Pläne der Regierung enthüllt haben, braucht Beth nicht mehr zu fliehen. Dann wird sie mir Skye nicht wegnehmen …

»Und warum machst du dann mit?« Yanas dunkle Augen glänzen. »Wenn alles, was wir machen, so aussichtslos ist, warum hast du dich Beth dann überhaupt angeschlossen? Und warum hast du mich zu euch geholt?«

Ich habe mich Beth nicht angeschlossen, ich hatte keine andere Wahl! Aber das kann ich nicht sagen, nicht einmal Yana. Ich kann nicht aussprechen, was mit Mum passiert ist. Nicht hier, bei den letzten Freunden meiner Eltern, die glauben, Sol Riviera sei noch am Leben. Ich kann sie kein zweites Mal sterben sehen.

»Du wolltest zum Ring, vergiss das nicht«, sage ich kühl. »Ich habe versucht, dich nach Las Almas zurückzuschicken. Aber du wolltest die Gefahr, du wolltest nicht gehen, weil –« Ich stoppe mich gerade noch rechtzeitig. Es wäre unfair, Yana vorzuwerfen, dass sie raus aus dem Reservat wollte. Dass sie nicht zusehen konnte, wie ihre Mutter sich immer mehr abschottete, während ihr Vater gegen den Krebs verlor. Und ausgerechnet ich darf mir wohl kein Urteil über ungesunde Bewältigungsstrategien erlauben.

»Ich wollte nicht gehen, weil du mich ebenso sehr gebraucht hast wie ich dich!«, ruft Yana.

Ich senke den Blick. Vielleicht habe ich das.

»Also ist dann alles vorbei?«, fragt sie schließlich. »Wenn du sie zu Beth bringst, hauen die beiden ab und der Ring ist Geschichte?«

»Keine Ahnung. Vielleicht bestimmt sie einen Nachfolger.«

Yana sieht mich forschend an. »Aber du wirst Skye nicht zu Beth bringen, richtig?«

»Nicht, solange Skye das nicht will.«

»Du bist in sie verliebt.« Yana lacht trocken. »Mein Gott, Hunter! Als ich die Tür aufmachte und dich sah, habe ich gedacht, dass deine Tarnung als Testleiter aufgeflogen ist. Nicht, dass du mit deinem Schützling getürmt bist und jetzt vorhast, dich gegen Beth Anderson zu stellen.« Yana mustert mich mit verschränkten Armen. Einen Moment lang bin ich unsicher, auf wessen Seite sie sich stellen wird. »Von mir erfährt Beth nichts«, sagt sie schließlich und ich atme erleichtert aus. »Aber wenn es stimmt, was du sagst, wird sie alles tun, um an Skye heranzukommen, ob mit oder ohne R. Und ihre Chancen stehen nicht schlecht.«

»Ich weiß«, erwidere ich und denke an die Karte der Gläsernen Nationen im Hauptquartier, auf der blinkende Punkte die Kontakte des Rings markieren. Sie leuchtet so hell wie der Weihnachtsbaum vor dem Rockefeller Center. »Ich weiß …«


Die Stimmen hinter der Wand verstummen. Ich lasse meinen Kopf zurück ins Kissen sinken. Was für ein Medikament auch immer die strenge Frau mir gespritzt hat, es muss im Laufe der Nacht seine Wirkung verloren haben. Leider. Ich schließe die Augen in der Hoffnung, so den pochenden Schmerz hinter meinen Schläfen zu beruhigen.

Es war also nicht die ganze Wahrheit, was Hunter mir über Mum erzählt hat. Dass sie mit mir fliehen will. Dass sie meine Testung abgewartet hat, damit ich als Rationale ohne Antrag das Land verlassen kann. Wir sind Schlepper, nichts anderes. Auf einmal ergibt Hunters Verschlossenheit, wenn es um seine Arbeit geht, einen Sinn.

Ich schließe die Augen und denke an die Abende, an denen Mum mir beigebracht hat, Fotografien zu entwickeln. An ihr Lächeln und ihre Wärme, in der ich mich zu Hause gefühlt habe. Beth ist kein wohltätiger Engel. Ich schüttle den Kopf und stöhne, als unter dem Verband eine Feuerzunge über meine Schulter leckt. Aber der brennende Schmerz ist nichts gegen das seltsame Ziehen in meiner Brust, das mir weismachen will, keine Luft zu bekommen, obwohl ich atme. Ist das normal bei einer Rauchvergiftung? Meine Hände fahren zu dem Schlauch unter meiner Nase und ich konzentriere mich auf den Rhythmus meines Herzschlags. Ich kann atmen. Keine Panik. Alles wird gut. Tränen laufen über meine Wangen, während ich dieses Mantra wiederhole und versuche, damit zu übertönen, was ich durch die Wand gehört habe.

Meine Mutter hat sich nach ihrer gescheiterten Flucht nicht bloß versteckt und darauf gewartet, dass Hunter mich zu ihr bringt. Sie hat unsere Flucht vorbereitet, indem sie sich von verzweifelten Kristallisierungsgegnern für falsche Traitmarks bezahlen ließ, von denen sie wusste, dass sie einem Scan nicht standhalten würden. Sie hat Hunter gezwungen, als Schlepper zu arbeiten. Einen damals fünfzehnjährigen Jungen! Und mein Vater … mein Vater hat Sol Riviera erschossen. Ich beginne wieder, nach Luft zu schnappen. Das sind nicht die Eltern, die mich aufgezogen haben. Die nur das Beste für mich wollten und die mich geliebt haben. Das sind nicht die Menschen, die ich kenne.

Als sich die Matratze unter mir zur Seite neigt, zucke ich zusammen. »Jetzt habe ich ihr auch noch wehgetan.«

Ich öffne die Augen und sehe, wie Hunter aufspringt und sich durch die aschblonden Locken fährt. Ich habe ihn nicht hereinkommen hören.

»Solange du keine Bombe unter meinem Bett zündest, kann ich so gut wie alles ertragen«, erwidere ich krächzend.

Hunter lächelt erleichtert, als ihm klar wird, dass ich aus eigener Kraft aufgewacht bin. Doch dann mustert er mich besorgt. »Wie geht es dir? Sind die Schmerzen stark? Reka hat ein Medikament dagelassen, für den Fall –«

»Hunter«, unterbreche ich ihn sanft.

Die letzte Spur seines Lächelns verschwindet, als er mir in die Augen sieht. »Du hast uns gehört.« Er weicht von meinem Bett zurück, als wollte er sich in Sicherheit bringen.

Ich strecke die Hand nach ihm aus. »Hör auf, dir selbst Vorwürfe zu machen!« Es kostet mich Kraft zu sprechen. »Im Zentrum hattest du die Wahl. Und du hast dich entschieden, das Richtige zu tun. Im Gegensatz zu ihr.«

Ich schließe die Augen, nur ganz kurz. Als ich sie wieder öffne, kniet Hunter neben meinem Bett. Er seufzt, als würde ihm das, was er mir jetzt sagen will, nicht leicht über die Lippen kommen. »Beth hat dich damals verloren und tut seitdem alles, um dich wiederzubekommen. Sie liebt dich, Skye. Wenn es eine Entschuldigung für ihre Entscheidungen gibt, dann, dass sie jede einzelne aus Liebe getroffen hat.« Ich beobachte, wie sich die Muskeln seines Kiefers verkrampfen. »Ich hatte Angst, dass du schlecht von mir denkst, wenn du erfährst, was ich getan habe. Deswegen habe ich dir nichts vom Ring erzählt. Aber vielleicht wollte ich dir auch einfach nicht zeigen, wie sehr deine Mutter dich liebt.« Seine grünen Augen schimmern, als er mich endlich ansieht. »Wenn du deine Meinung änderst, wenn du zu ihr willst, dann bringe ich dich nach New York.«

»Nein«, sage ich leise, aber bestimmt. Hunter öffnet den Mund, doch ich lege meine Hand an seine Wange und sehe ihm fest in die Augen. »Mum hat einen Jungen, der gerade seine Mutter verloren hatte, benutzt. Sie hat Menschenleben für meine Flucht riskiert. Liebe ist keine Entschuldigung für eine solche Grausamkeit.« Meine Augenlider werden schwer. »Am wichtigsten ist jetzt«, bringe ich heraus, »dass wir ReNatura so schnell wie möglich veröffentlichen. Bevor Mum uns in die Quere kommt oder die Kristallisierer uns aufhalten können.« Schatten legen sich über Hunters Blick. »Wir haben das Diktiergerät«, mache ich ihm Mut. »Damit sind wir beinahe unbesiegbar.« Ich lächle ihn an. Vielleicht hat das alles auch etwas Gutes, denke ich noch, bevor mich die Erschöpfung zurück in einen traumlosen Schlaf zieht. Endlich steht nichts mehr zwischen uns.

Rising Skye (Bd. 2)

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