Читать книгу Rising Skye (Bd. 2) - Lina Frisch - Страница 8

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Die Bohlen der Veranda knirschen, als ich meinen Fuß auf ihr altes Holz setze. Mit gemischten Gefühlen drücke ich die kupferfarbene Klingel. Es war nicht fair, damals einfach so von der Bildfläche zu verschwinden.

Neben mir holt Yana tief Luft. »Vielleicht solltest du noch wissen –«

Doch bevor sie ihren Satz beenden kann, öffnet sich die Tür quietschend und ein schlanker Mann tritt heraus. Sein Haar ist grau und auf den Knien seiner abgetragenen Jeans kleben Erdflecken. Manuel! Erinnerungen an die Sommer meiner Kindheit durchströmen mich. Yanas Großvater hat uns Hütten im Garten bauen und so lange fernsehen lassen, wie wir wollten, wenn unsere Eltern abends gemeinsam nach Greenhill gefahren sind, um auszugehen. Jedes Mal, wenn wir am Ende des Sommers zurück nach New York aufbrachen, hat Manuel uns dann versprechen lassen, dass wir im nächsten Jahr zurückkehren. Und das haben wir getan – bis ein Sommmer alles verändert hat.

»Hunter!« Manuels Lippen verziehen sich zu einem breiten Lächeln, das einen goldenen Eckzahn aufblitzen lässt. »Willkommen zu Hause, Junge.«

Seine dunklen Augen glänzen, als er zur Seite tritt und uns ins Haus winkt. Er deutet auf die Korbsessel, die im Wohnzimmer verteilt stehen. Gewebte Teppiche in allen möglichen Farben bedecken den Holzboden, an den Wänden hängen Strichzeichnungen der reichen Natur des Reservats. Alles sieht noch genauso aus wie vor fünf Jahren, als ich das Cottage zum letzten Mal betreten habe.

Eine prankenartige Hand legt sich auf meine Schulter. »Erst kommt meine Aiyana zurück aus der großen Stadt und dann du. Was für ein schöner Beginn des Sommers.«

Die Wärme in Manuels Blick beschämt mich, schließlich bin ich nicht seinetwegen zurückgekommen.

»Eistee? Wasser?«

»Wasser, bitte«, sage ich und setze mich zögernd in einen der Sessel, die ich als Kind zum Klettern benutzt habe. Der Boden ist Lava. Das war mein Lieblingsspiel. Die Erinnerung daran, wie Mum mich schimpfend von Möbeln herunterzerrt, legt sich wie ein Granitblock auf meine Brust.

Manuel kommt zurück aus der Küche, ein Tablett mit drei Gläsern in der Hand. Ich gebe mein Bestes, um sein Lächeln zu erwidern.

»Danke, Grandpa«, sagt Yana in dem warmen Ton, mit dem ich sie nur hier in Las Almas sprechen höre.

»Es ist so lange her.« Manuel lässt sich mit einem Ächzen in einen der Sessel sinken. »Ich hoffe, deiner Mutter geht es mittlerweile besser? Was sie schrieb, hat mich damals wirklich überrascht. Reka war geradezu schockiert! Niemand von uns hätte geglaubt, dass dein Vater euch so etwas antun könnte … Matteo und Sol waren doch immer ein glückliches Paar. Selbst als ihr im Sommer des großen Skandals ohne deinen Vater herkamt, habe ich mir nichts dabei gedacht.«

Ich senke den Blick. Wenigstens habe ich in dem Brief nicht gelogen, den ich mit Mums gefälschter Unterschrift nach Las Almas geschickt habe, um zu erklären, warum wir nicht mehr herkommen würden. Dad hat uns tatsächlich verlassen. Und Mum war wirklich am Boden zerstört. Ausgelassen habe ich einzig und allein das winzige Detail, dass Mum fast genau ein Jahr, nachdem mein Vater abgehauen ist, ermordet wurde. Dieses Täuschungsmanöver ist mir nicht leichtgefallen. Aber es war wichtig, Reka, Manuel und den anderen hier einen Grund dafür zu liefern, warum Mum in diesen Ferien nicht auftauchen würde und auch nicht in den nächsten. Es war wichtig, dass sie trotzdem glaubten, es ginge uns gut – denn sonst hätten sie versucht, mich zu sich zu holen. Sie hätten mir die Familie ersetzen wollen, die ich verloren hatte. Aber diese Option gab es für Beth nicht, denn ich hatte eine Schuld zu begleichen.

»Er hat sich also endlich hergetraut!«

Ich blicke auf und sehe direkt in Amandas wache Augen, denen nie etwas entgeht. Ich lächle schwach, stehe auf und werde in eine feste Umarmung gezogen.

»Ich habe schon gedacht, Manuel und Reka wollten mir einen Bären aufbinden. Aber du bist tatsächlich hier!« Sie drückt mich zurück in den Sessel und setzt sich neben ihren Mann. »Erzähl, wie geht es Sol?«

»Sie … hat eine schwere Zeit durchgemacht«, sage ich. »Nachdem mein Vater uns verlassen hat, hat Mum den Kontakt zu vielen gemeinsamen Freunden abgebrochen. Aber sie vermisst Las Almas.«

Ich bin noch immer gut in dem alten Spiel, bloß spiele ich nun die Variante für Erwachsene: Die Wahrheit ist Lava.

Manuel nickt. In den Furchen seines von der Sonne gegerbten Gesichts steht so viel Mitgefühl, dass ich den Blick wieder abwenden muss.

»Wie geht es Sol?«, fragt Amanda. »Ich suche im Abspann von jedem CCN-Bericht ihren Namen. Deren Nachrichtenredaktion hat sie doch übernommen, als die Times damals geschlossen wurde, oder nicht?«

»Nein. Sie … sie arbeitet als freie Journalistin. Unter einem Pseudonym.«

Amanda nickt verständnisvoll, dabei habe ich in einem Satz gleich mehrmals gelogen. Als ob es in den Gläsernen Nationen noch freie Journalisten gäbe …

»Eine Schande, dass man sie nach der Neudefinierung der Medien nicht wieder eingestellt hat«, schimpft Manuel. »Der große Skandal war doch nicht Sols Schuld!«

»Nun, immerhin war sie die Chefredakteurin der Zeitung, deren Reporter das Land ins Chaos gestürzt hat«, erwidert Amanda. »Nichts gegen deine Mutter, Hunter. Sie ist unfassbar talentiert. Aber welchen Sinn hätte eine Neudefinierung mit altem Personal gehabt?«

Neudefinierung. Yanas Großeltern reden, als wüssten sie nicht, was damals wirklich passiert ist, als alle Nachrichtenstellen geschlossen und durch CrystalClear News ersetzt wurden. Der große Skandal im Jahr zuvor, bei dem ein Journalist der Times versucht hatte, die damalige Regierung zu erpressen, war der perfekte Vorwand.

»Gleichschaltung trifft es wohl eher«, rutscht es mir heraus.

Manuel räuspert sich. Eine Weile herrscht Schweigen. Dann erhebt er sich, geht zur Terrassentür und kommt wenig später mit einem Topf zurück, in dem eine Sonnenblume wächst. »Bring Sol die hier mit, wenn du zurückfährst. Sie arbeitet doch noch immer so gern im Garten?«

Früher hat Manuel Mum jedes Jahr so viele liebevoll angezogene Pflänzchen mitgegeben, wie neben mich auf den Rücksitz des Autos passten. Damit sie Las Almas in der Großstadt nicht vergisst, hat er immer gesagt. Schließlich reiche es manchmal nicht, die Sonne im Namen zu tragen.

Ich nicke Manuel stumm zu und nehme den Topf entgegen, während ich versuche, die Bilder von Mum in unserem kleinen Vorgarten aus meinem Kopf zu schieben.

»Reka hat mir erzählt, dass es um deine Freundin nicht gut steht«, sagt Amanda in die Stille hinein. »Das tut mir leid. Obwohl Daniels Tod jetzt schon zwei Jahre her ist, erinnert sich jeder von uns daran, wie schwer es ist, einen geliebten Menschen leiden zu sehen.«

Im Sessel neben mir versteinert Yana. Ich strecke die Hand nach ihr aus, bevor mir einfällt, dass sie es nicht leiden kann, getröstet zu werden. Verlegen zupfe ich an dem Shirt, das Reka mir geliehen hat. Es muss Daniel gehört haben. Yanas verstorbenem Vater.

»Ich bin sehr dankbar für Rekas Hilfe«, wechsle ich schnell das Thema. Dabei bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob die erfahrene Ärztin Skye überhaupt helfen kann. Am Tag nach unserer Ankunft hat Reka es mit einhundertprozentigem Sauerstoff versucht. Doch als sie Skye die Maske nach den vorgeschriebenen neunzig Minuten Beatmung wieder abnahm, blieben ihre Augen geschlossen. »Skye wird jeden Moment aufwachen, mach dir keine Sorgen«, hieß es am Morgen darauf. Schließlich führt selbst eine schwere Rauchvergiftung nicht zu langfristiger Bewusstlosigkeit – und Skye war den giftigen Gasen kaum drei Minuten lang ausgesetzt. Aber diese hoffnungsvolle Prophezeihung ist mittlerweile sieben Tage her. Sieben Tage, in denen ich Skyes Zimmer kaum verlassen habe, bis Yana mich heute Morgen überredet hat, sie endlich zum Cottage ihrer Großeltern zu begleiten. Ich blicke auf und sehe in drei besorgte Gesichter.

»Inzwischen schließt Reka eine Rauchvergiftung aus. Sie hat alle möglichen Tests durchgeführt, aber anders als bei einer Vergiftung konnten keinerlei Schadstoffrückstände in Skyes Blut nachgewiesen werden. Aus medizinischer Sicht gibt es keinen Grund dafür, dass Skye noch immer Anzeichen von Atemnot zeigt, obwohl sie ausreichend Sauerstoff bekommt, und –« Meine Stimme stockt. »Und auch keinen dafür, dass sie nicht wieder aufwacht.«

Ich stütze die Ellenbogen auf die Knie und überlege zum tausendsten Mal, was Skye in Angelas Wohnung noch passiert sein könnte. Denn wenn die Folgen des Rauchs ihr nicht das Bewusstsein rauben – was dann?

Amanda mustert mich. Ihrem Blick standzuhalten ist nicht einfach, aber ich bin an die irritierende Wirkung des hellen Kreises gewöhnt, der sich um ihre fast schwarze Iris legt. Als Kinder haben Yana und ich so getan, als sei Amanda eine Hexe. Oder eine Seherin. Letzteres erscheint mir manchmal gar nicht so unwahrscheinlich.

»Warum erlaubst du Reka nicht, deine Freundin ins Krankenhaus nach Greenhill zu bringen? Sie könnte dort weitaus besser behandelt werden.«

Ich setze mich aufrecht hin. Es ist wohl an der Zeit, Manuel und Amanda einen Teil der Wahrheit zu sagen.

»Nach Skye und mir wird gesucht«, beginne ich zögernd.

Manuels Augenbrauen heben sich überrascht. »Du bist auf der Flucht?« Das entspannte Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. »Was ist denn passiert? Bist du in Schwierigkeiten?«

»Wer von uns ist das nicht.« Meine Verbitterung ist nicht zu überhören.

»Du solltest eins wissen, bevor du weitersprichst.« Amandas Stimme bekommt einen warnenden Unterton. »Das Gesetz der Kristallisierer ist auch unseres. Es ist eine gute Regierung.«

Die Worte treffen mich wie ein Schlag. Das Reservat war immer neutraler Boden! Insgeheim habe ich sogar damit gerechnet, dass Amanda und Manuel Kristallisierungsgegner sind. Trotz der Mittagshitze ist mir, als würde auf einmal ein kalter Windhauch durch das Cottage ziehen.

»Und warum schließt Manuel dann so schnell, dass jemand vor einer so guten Regierung auf der Flucht ist?«, frage ich frustriert.

Amanda tut so, als hätte sie mich nicht gehört. »Unter Chloe Cremonte hat sich die Lage der Natives im ganzen Land verbessert. Die Kristallisierer sind die Ersten, die sich ernsthaft für unsere Rechte einsetzen.«

»Indem sie euch ihre Ordnung aufzwingen?« Meine Stimme wird laut. Das kann nicht wahr sein. Das Reservat sollte uns in Sicherheit bringen – sollte Skye in Sicherheit bringen!

Ich werfe Yana einen Blick zu, den sie zerknirscht erwidert. Das war es also, was sie mir sagen wollte, kurz bevor ich geklingelt habe.

»Die Gläsernen Nationen schützen die Unabhängigkeit des Reservats und lassen uns mit ihren Traits in Frieden – im Tausch gegen unser Wort, der Kristallisierung außerhalb des Reservats nicht im Wege zu stehen«, unterbricht Amanda meine Gedanken.

»Dann ist es wohl doch keine so tolle Bewegung, wenn ihr die Traits selber nicht haben wollt!«, erwidere ich wütend. »Und soweit ich weiß, gab es hier noch vor zwei Jahren einen Riesenzirkus um Yanas E!« Ich deute anklagend auf ihr Handgelenk mit dem falschen Traitmark. Yana hat mir erzählt, dass für ihre Großeltern eine Welt zusammenbrach, als sie damals als angeblich frisch Kristallisierte aus New York zu Besuch kam.

»Die Welt ist nicht so einfach, wie du sie dir machst, Hunter«, erklärt Manuel ruhig. »Uns wurde im Zuge der Anti-Rassismus-Erklärung ein Pakt angeboten. Die Kristallisierer wollen für die Fehler der Geschichte geradestehen.«

»Und wie?«

Manuel erhebt sich. Schwerfälliger als früher geht er zu einem der Regale. »Reka hat uns damals geraten zuzustimmen«, sagt er und legt mir ein Stück Papier in den Schoß.

Ich überfliege das Gerede über die großartige Gerechtigkeit der Gläsernen Nationen und die Hilfspläne zur Senkung regierungsgemachter Probleme in den Reservaten. Am letzten Satz bleibe ich hängen.

Das Land der Stämme, die dem Pakt zur Aufarbeitung historischer Schuld zustimmen, untersteht weiterhin einer eigenen Verwaltung, ist von der Ordnung der Gläsernen Nationen befreit und erhält alle oben aufgeführten Hilfen, sofern diese Verwaltung sich bereiterklärt, mit dem Justizsystem der Kristall-Administration zu kooperieren.

Ich lasse die Urkunde sinken und schließe die Augen. Mir hätte klar sein müssen, dass Chloe Cremonte die Reservate nicht ohne Grund vor der Kristallisierung verschont. Mit dem Justizsystem der Kristall-Administration kooperieren. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, als mir klar wird, wie falsch ich lag. Dies ist ein Auslieferungspakt. Manuel und Amanda müssen uns der Administration melden, wenn sie erfahren, dass wir Untreue sind! Ich betrachte ihre unversehrten Handgelenke. Niemand in Las Almas muss sein Leben von einem weißen Buchstaben bestimmen lassen. Aber dieser Frieden hat seinen Preis – und Amandas entschlossener Blick verrät mir, dass sie bereit ist, ihn zu zahlen. Übelkeit steigt in mir auf. Anstatt uns in Sicherheit zu bringen, habe ich Skye und mich geradewegs in eine Falle geführt.

Auf einmal fühle ich mich, als säße ich wieder am Testungscomputer im Zentrum und würde einem Avatar dabei zusehen, welche Entscheidungen er trifft. Rational oder emotional? Das hier ist nichts weiter als ein kompliziertes Szenario. Es gibt eine Lösung – ich muss sie bloß finden!

Yana holt tief Luft. »Wenn du ihnen nicht sagen willst, weshalb ihr gesucht werdet, dann muss ich es eben tun.«

Panisch sehe ich zu ihr hinüber. Was zur Hölle hat sie vor? Meine Gedanken rasen. Yana hat keine Ahnung von dem Diktiergerät, auch nicht von der Bombe. Aber sie weiß, dass wir aus dem Zentrum geflohen sind. Sie weiß genug, um Manuel und Amanda zu zwingen, die Ordnungswahrer zu rufen. »Yana, ich …«

»Hunter und Skye sind ein Paar«, erklärt sie gelassen. Ich schließe verdattert den Mund. »Aber Skyes Mutter ist gegen die Beziehung und macht den beiden das Leben schwer. Also sind sie abgehauen. Sie brauchen einen Unterschlupf, zumindest für eine Weile.« Der Blick aus Yanas dunklen Augen trifft meinen.

»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt!« Erleichtert lehnt Manuel sich in seinem Sessel zurück. »Wenn das so ist, könnt ihr selbstverständlich erst einmal hierbleiben.«

»Vielen Dank, wirklich.«

Ich sehe Yana an, während ich spreche, doch ihr Lächeln verschwindet. Ich habe dich gedeckt, sagt ihr fordernder Blick. Jetzt schuldest du mir die Wahrheit.

»Auch ich bin beruhigt.« Trotz ihrer freundlichen Worte ist Amandas Stimme schneidend wie ein Messer. »Vor allem darüber, dass wir Skye nun ja sofort ins Krankenhaus bringen können. Es war leichtsinnig von dir, Hunter, das Leben deiner Freundin für so eine Nichtigkeit wie einen Streit mit ihrer Mutter zu riskieren. Reka kann Skye nicht länger in einer unsterilen Umgebung ohne richtige Ausrüstung behandeln, das ist eine Farce! Ihr Fall muss vernünftig registriert werden.«

»Nein!« Ich springe auf. »Nein, Amanda, das geht nicht. Wenn –«

Wenn Skyes Patientendaten in irgendwelchen Krankenhausakten auftauchen, dann werden die Kristallisierer uns finden. Oder Beth wird uns finden …

Yana legt den Kopf schief. Was verschweigst du mir?, bedeutet das. Wir erzählen uns alles. Wir kennen einander seit dem Tag unserer Geburt, als unsere Mütter nebeneinander im Krankenhaus lagen. Wir lügen einander nicht an.

Manuel erhebt sich und stellt sich neben mich. »Ich verstehe, dass Skye und du nicht gefunden werden wollt, Junge. Aber ihre Gesundheit muss jetzt an erster Stelle stehen. Natürlich könnt ihr bleiben, aber denk zumindest über das Krankenhaus nach.« Er zwinkert mir zu. »Und glaub mir, wenn du sie ernsthaft liebst, werdet ihr in fünfzig Jahren zusammen auf eurer Veranda sitzen und die Probleme eurer Jugend belächeln.«

Amanda wirft ihrem Mann einen tadelnden Blick zu. »Die Lage ist zu ernst, um lange nachzudenken! Nach allem, was ich gehört habe, ist Skye sehr schwach, Hunter.«

Eine schrille Version von Nirvanas Smells like Teen Spirit unterbricht Amandas Vorhaltungen. Yana zieht ihr Handy aus der Hosentasche und nimmt den Anruf entgegen. »Ja?«

Ich muss Zeit schinden. Ich brauche irgendeinen plausiblen Grund, warum Skye das Reservat nicht verlassen kann …

»Wirklich? Das ist großartig, Ma!«

Ich schaue auf. Reka ist am Telefon? »Warte, ich stelle dich auf Lautsprecher.« Yana nimmt ihr Handy vom Ohr.

»Hunter?« Reka klingt ernst, wie immer, aber der sorgenvolle Ton der letzten Tage ist verschwunden.

Ich reiße Yana das Handy aus der Hand. »Ja! Ja, ich höre dich!« Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

»Skye ist wach. Es geht ihr gut. Sie zeigt keine Anzeichen von mangelnder Sauerstoffversorgung mehr. Keine Kopfschmerzen, kein Gefühl von Atemnot.«

Skye ist wach. Es dauert einen Moment, bis die Worte bei mir ankommen. Dann lache ich vor Erleichterung laut auf. All die Angst und die Anspannung der letzten Tage fallen von mir ab. Sie ist wach! Jetzt wird alles gut.

»Reka? Ich mache mich auf den Weg. Richte Skye aus, dass ich in zehn Minuten da bin!«

Reka sagt etwas über eine Transfusion und darüber, dass Skye Ruhe braucht, aber ich höre nicht mehr richtig zu.

»Bei allem Respekt, Amanda.« Ich deute auf das Handy in meiner Hand. »Skye für schwach zu halten, ist ein gefährlicher Irrglaube.«

Damit drehe ich mich um und verlasse das Cottage so schnell, wie meine Beine mich tragen.


»Ich bin nicht blöd, weißt du?«, keucht Yana, als sie mich auf Höhe von Monas Café einholt. »Ihr seid doch nicht aus dem Zentrum abgehauen, um vor Beth zu fliehen! Was ist hier los, Hunter? Woher stammen Skyes Verbrennungen wirklich?«

»Nicht mitten auf der Straße«, zische ich, als uns eine Horde Jugendlicher entgegenkommt, die auf das Café zusteuert.

Yana verdreht die Augen. »Du tust so, als würdest du Staatsgeheimnisse hüten! Und was sollte deine oscarreife Darstellung des besorgten Sohnes vorhin? Wenn die Trennung von deinem Dad Sol so hart getroffen hat, warum hast du dir dann in den zwei Jahren, die ich beim Ring bin, kein einziges Mal Urlaub genommen, um nach Hause zu gehen und sie zu besuchen? Weiß Sol überhaupt noch, wie du aussiehst?«

Wie angewurzelt bleibe ich stehen. »Ich habe kein Zuhause!«, platzt es aus mir heraus. Die Gruppe Jugendlicher sieht zu uns herüber und ich senke die Stimme. »Ich habe kein Zuhause mehr, seitdem meine Mutter vor vier Jahren erschossen wurde. Deshalb bin ich beim Ring. Deshalb konnte ich nicht hierher zurückkehren.«

Yana lässt die Zigarette fallen, die sie gerade aus der Schachtel gezogen hatte. »Sol ist tot?«, flüstert sie ungläubig.

Ich nicke.

»Dann war ihr Brief an Manuel –«

»Eine Fälschung.«

»Was sie geschrieben hat … dass sie Abstand zu uns brauchte, weil Las Almas sie nach der Trennung zu sehr an Matteo erinnert, das –«

»Das habe ich geschrieben.«

»Und als wir Sol letzten Winter nicht besuchen konnten, weil sie im Urlaub war?«

»Habe ich gelogen. Und auch, als sie Grippe hatte.«

Yana geht stumm neben mir her.

»Wenn du sagst, dass sie erschossen wurde«, beginnt sie dann zögerlich. »Heißt das –«

»Dass du es niemandem erzählen darfst. Nicht deiner Mutter, nicht Manuel und auf keinen Fall Amanda.«

»Aber weshalb?«

Weil sie sich fragen würden, warum meine Mutter zum Schweigen gebracht wurde. Weil sie herausfinden würden, dass wir auf verschiedenen Seiten stehen.

Wir biegen in die Straße ein, in der Rekas Bungalow liegt. Für einen Moment werde ich von einem gleißenden Sonnenstrahl geblendet. Im nächsten traue ich meinen Augen kaum.

Skye.

»Bitte tu es einfach«, sage ich, ohne meinen Blick von dem Mädchen abzuwenden, das ich mehr liebe als mein Leben. »Ich erkläre es dir später.«

Skye hält sich am Türrahmen fest. Mit wenigen Schritten bin ich bei ihr. Sie streckt mir lächelnd die Hand entgegen, ich presse ihre Finger an meine Lippen. Und für einen Moment glaube ich an Manuels Worte: Wenn ich Skye nur genug liebe, dann kann alles gut werden. Ihre Hand fühlt sich warm an, nicht mehr eiskalt, und zum ersten Mal seit Tagen kann ich wieder lächeln.

»Du bist wach«, stottere ich, während Yana sich diskret an uns vorbei ins Haus schiebt.

»Ich hatte die Nase voll von Albträumen«, sagt Skye, und ich bin so unendlich dankbar für den Klang ihrer Stimme, weil ich Angst hatte, sie nie wieder zu hören. »Bewusstlosigkeit ist nicht so friedlich, wie sie vermutlich aussieht.«

Ich will einen Witz machen, aber meine Stimme bricht im ersten Satz. »Es tut mir leid, es ist nur –« Ich wende den Kopf ab. Verdammt, soll Skye mich nach allem, was sie durchgemacht hat, jetzt auch noch weinen sehen?

Ihre Lippen berühren meine Wange, bevor sie nah an meinem Ohr flüstern: »Du bist mein Freund, Hunter. Das bedeutet nicht, dass du gleichzeitig immer der taffe Superheld sein musst.«

Ich warte einen Moment, bis das Kribbeln hinter meinen Augen nachlässt. »Aber die Klamotten würden mir stehen.«

Skye boxt mir gegen den Arm. Die rasche Bewegung lässt sie zurücktaumeln, als sei ihr schwindelig. Unter dem Kragen ihres Schlafanzugs ziehen sich ihre Verbrennungen wie rote Blüten bis in ihren Nacken, doch ihre blauen Augen funkeln voller Leben. Die Farbe auf ihren Wangen, die vor zwei Stunden noch totenblass gewesen sind, erscheint mir wie das größte Wunder unserer Zeit.

»Alles in Ordnung? Du hättest besser liegen bleiben sollen.« Ich lege meinen Arm stützend um ihre Taille, nur um einen erneuten, wenn auch sanfteren Schlag zu kassieren.

»Wegen des kleinen Komas bin ich noch lange nicht zur adligen Lady mutiert, die alle zwei Sekunden mit Riechsalz wiederbelebt werden muss.«

Ich grinse. »Also weder Superman noch Mr. Darcy. Weitere Regieanweisungen für die Rolle als Skye Andersons offizieller Freund?«

»Nein.« Sie lächelt. »Bisher machst du deinen Job erstaunlich gut.« Dann legt sie ihre Hand in meinen Nacken und küsst mich. Du lebst, pocht es bei jedem ihrer kostbaren, stetigen Herzschläge durch mich hindurch. Gott sei Dank, du lebst.


Also, wo ist das Diktiergerät?«, frage ich leise, nachdem ich den schönsten Kuss meines Lebens widerwillig beendet habe. Ein Teil von mir will Hunter nie mehr loslassen, aber neben Skye, dem harmlosen Teenager, gibt es inzwischen eben auch Skye, die Rebellin. Und bis wir ReNatura aufgehalten haben, muss ich Letzterer den Vortritt lassen. »Hast du die Aufnahmen schon hochgeladen?«, schiebe ich ungläubig nach, als Hunter mir nicht antwortet. Finden mittlerweile in den Großstädten Proteste gegen die Entrechtung der Frau statt? Sind die Verfahren gegen Chloe Cremonte und den Präsidenten schon eingeleitet? Nein, Hunters zerknirschter Gesichtsausdruck verrät mir, dass nichts davon der Fall ist. »Du hättest es tun müssen, Hunter!« Ich merke selbst, wie verstimmt ich klinge, und versuche, einen sanfteren Ton anzuschlagen. »Ganz egal, was mit mir los war – du hättest dich davon nicht aufhalten lassen dürfen.«

Er nickt zögerlich. Dann bleibt sein Blick an dem Zugang hängen, der noch in meinem Handrücken steckt.

»Was war das für ein Medikament, das dich gerettet hat?«, fragt er.

»Es war kein Medikament, sondern eine Bluttransfusion.«

Hunter runzelt die Stirn. »Aber du hast doch gar kein Blut verloren.«

Ich wische seinen Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Was tut das denn zur Sache, solange es geholfen hat! Hunter, wenn die Kristallisierer uns finden, bevor wir ReNatura öffentlich gemacht haben –«

Hunter zieht mich eng zu sich heran, als wollte er mich erneut küssen. Stattdessen wispert er mir ins Ohr: »ReNatura ist gerade nicht unsere größte Sorge. Ich dachte, das Reservat wäre unabhängig von der Regierung, deshalb habe ich uns hierhergebracht.« Er atmet tief durch. »Aber Las Almas ist nur deshalb noch immer selbstverwaltet, weil die Leute eingewilligt haben, Untreue auszuliefern.«

Ich stolpere zurück, als hätte er mir eine Ohrfeige gegeben. »Du meinst, wir sind hier in Gefahr?«

Hunter nickt. »Können wir drinnen reden?«

Er geht mir voraus ins Haus und hält die Tür des Zimmers, in dem Reka mich untergebracht hat, für mich auf. Langsam lasse ich mich auf das Bett sinken. Das tagelange Liegen hat mich mehr Kraft gekostet, als ich dachte, und ich fühle mich ein wenig benommen.

»Ich kenne diese Leute nicht«, bringe ich heraus. »Aber wenn sie so einem Pakt zugestimmt haben, dann doch nur, weil sie keine Ahnung haben! Wenn wir ihnen erzählen, was die Regierung vorhat, werden sie uns bei der Enthüllung helfen!«

Hunter schüttelt den Kopf. »Die Bewohner des Reservats sind keine Kristallisierungsgegner.«

»Dann müssen wir sie eben dazu machen!«, fordere ich. »Zeigen wir ihnen, was auf dem Diktiergerät ist.«

Hunter sieht mich eindringlich an. »Solange der Pakt Las Almas vor den Traits bewahrt, werden sie uns ausliefern!«

»Aber dieser Pakt wird nichts mehr wert sein, wenn ReNatura erst einmal ins Rollen gerät. Reka ist Ärztin! Nichts wird sie davor schützen, mit allen anderen Frauen ihren Job zu verlieren, sobald ReNatura in Kraft tritt!«, halte ich dagegen.

Durch das große Fenster neben dem Bett nehme ich eine Bewegung wahr. Reka geht auf der Straße auf und ab, während sie angespannt in ihr Handy spricht. Wollte sie nicht längst zur Arbeit gefahren sein? Geht es um mich? Sie bleibt stehen und legt auf. Der Gesichtausdruck, mit dem sie ins Leere starrt, wirkt verwirrt und ein wenig ängstlich. Dabei ist mit mir doch alles wieder in Ordnung! Ich betrachte den leeren Transfusionsbeutel, der an dem Ständer neben meinem Bett hängt. Jetzt macht auch mich stutzig, was Hunter direkt aufgefallen ist: Wie konnte eine Blutkonserve mich retten, wenn ich doch gar kein Blut verloren habe?

»Wir sind hier, weil wir uns vor deiner Mutter verstecken, die unsere Beziehung nicht gutheißt.« Hunters eindringliche Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Der Brand in der Wohnung unserer Freundin Angela wurde von einem Unfall am Gasherd verursacht, nicht von einer Bombe.« Hunter setzt sich neben mich und lässt die Schultern sinken. »Wir müssen verdammt vorsichtig sein, Skye. Um ein Haar hätte Rekas Mutter dich ins staatliche Krankenhaus einliefern lassen.«

Bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um. Innerhalb von Stunden wäre ein schwarzer Transporter gekommen, um mich aus der Klinik zu entführen

»Aber sie vermuten nichts?«

Hunter schüttelt den Kopf. »Nein. Reka hat dich gerade noch rechtzeitig zurück ins Reich der Lebenden geholt. Ein paar Minuten später und ihre Mutter hätte den Notruf gewählt.«

Ich atme aus. Hunter hat recht. Wir sind die Einzigen, die das größte Geheimnis unserer Zeit kennen. Niemand darf vermuten, dass wir mehr sind als zwei Verliebte auf der Flucht – zumindest, bis wir einen Plan haben, wie wir den Inhalt des Diktiergeräts veröffentlichen können. Einen fehlerlosen Plan dieses Mal.

»Dann müssen wir wohl eine überzeugende Vorstellung liefern«, sage ich leise und küsse Hunter genau in dem Moment, als Reka durch die Fensterscheibe zu uns hereinsieht.

Rising Skye (Bd. 2)

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