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santiago–jaffa: 23. januar

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Ich bin in Chile, schlage meinem Vater vor, vielleicht zum letzten Mal seine Heimatstadt in der Provinz zu besuchen, stelle ihm Fragen, mache Notizen, recherchiere im Internet, lese über die Geschichte der Einwanderung, strenge mein Gedächtnis an, verbinde Anekdoten. Ich bin in Chile, überschlage die Kosten der Palästinareise, die Rechnung geht nicht auf. Bei dieser Arithmetik bin ich gerade, als eine Mail des Romanciers-in-Jaffa ankommt, der mir mitteilt, er habe seine Meinung geändert. »Es tut mir so leid, dass ich Dir diese Nachricht schicken muss. Aber ich kann den Text nicht schreiben. In den letzten Monaten hat man hier zwei israelischen Staatsbürgern die Einreise verwehrt, als sie aus dem Ausland zurückkamen (ein Euphemismus, der besagt, dass sie abgeschoben worden sind). Beide waren Juden mütterlicherseits, rein jüdisch also, und beide hatten die Alija beantragt, das heißt, Mitglied des Staates Israel zu werden. Beiden wurden ›staatsfeindliche Aktivitäten‹ vorgeworfen, einem von ihnen ›Hochverrat‹. Sie hatten aber nur an linken Demonstrationen teilgenommen und mit NGOs zusammengearbeitet, die der palästinensischen Bevölkerung helfen. Einen von ihnen kenne ich. Meine Situation in Israel ist noch viel prekärer. Ich habe an vielen Demonstrationen gegen die Kriege der letzten Jahre teilgenommen (es gibt Fotos von mir, auf denen ich mit dem Finger Polizeikameras abschieße), außerdem hatte ich jahrelang schriftlich angeprangert, was mir an der israelischen Politik und der palästinensischen Innenpolitik fatal vorkam (die Seite wurde gesperrt, auf Druck der Presseabteilung der israelischen Botschaft). Meine Lage wird vollends prekär, weil ich hier zwar wegen der jüdischen Vorfahren meines Vaters leben darf und eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen habe, aber in Wirklichkeit hier lebe, weil ich mit einer muslimischen Palästinenserin verheiratet bin, was bedeutet, dass mich die Nachrichtendienste auf ihrem Radarschirm haben (das klingt nach Spionageroman, ist aber traurige Wirklichkeit in dieser Region, in der die Telefone der ›arabisch-israelischen‹ Bürger fast allesamt abgehört werden). Ein Text über Palästina berührt unweigerlich umstrittene Themen. Schon die Definition des Gebiets – wir haben darüber in einer Mail gesprochen – ist problematisch. Allein eine Stadt bei dem einen Namen zu nennen und nicht bei dem anderen, kommt in dieser Region einer Kriegserklärung gleich, und selbst wenn ich sie im Text nicht erwähnen würde, sondern nur das Westjordanland und Gaza, müsste ich dennoch von Sperranlagen, Siedlern und der Macht der israelischen Armee sprechen. Trotzdem hatte ich mir vorgenommen, das Risiko einzugehen und den Text zu schreiben; ich hatte schon ein Gerüst und ein paar Probeseiten und habe das Projekt einer Zeitschrift vorgeschlagen, mit der ich zusammenarbeite, aber es wäre vielleicht unverantwortlich. Das Risiko, von meiner Familie getrennt zu werden, ist zu groß, und ich bin dazu nicht bereit. Gestern Abend waren zwei israelische Freunde bei uns zum Essen, die sich für die Menschenrechte engagieren, und beide haben mir davon abgeraten. Niemals habe ich aus Gründen der Zensur schweigen müssen, aber ich glaube, ich habe keine Wahl. Ich umarme Dich und bitte um Entschuldigung für die vergeudete Zeit. Und natürlich bist Du immer willkommen. Hoffentlich kommst Du und lernst das Land Deiner Vorfahren kennen, es lohnt sich sehr, trotz allem.«

Heimkehr ins Unbekannte

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