Читать книгу Alte Männer - böser Traum - Linda Große - Страница 11
Kapitel 8
ОглавлениеEin Familienidyll wie in einem Rosamunde Pilcher Film! dachte Clea. Fast schon unwirklich. Aber irgendwie schön! Sie war angenehm satt. Moniques Küche war wirklich ein Erlebnis für einen berufstätigen Single. Da kamen ihre TK-Pizzen wirklich nicht mit, nicht mal Dimitris Kebab, das sie sich meistens am Samstagmittag nach Ladenschluss gönnte. Das war immer der Höhepunkt des Wochenendgefühls für sie. Diese vage Stimmung von Freiheit. Spätestens Samstagabend nach der Tagesschau verflüchtigte sie sich für gewöhnlich. Und jedes Mal der Vorsatz, sich für das kommende Wochenende etwas vorzunehmen. Sie seufzte leise auf bei diesen Erinnerungen, die ihr schon nach der einen Woche in Veules ziemlich bizarr, ja geradezu fremd erschienen. Henri David, aufmerksamer Gastgeber, interpretierte ihr Seufzen falsch.
„Eau de vie, Clea“, diagnostizierte er. „Ist die Bauch zu voll?“
Clea musste lachen. Henris Deutsch war so miserabel wie ihr Französisch. Deswegen unterhielten sie sich wohl auch so ungezwungen zweisprachig, und wenn das nicht reichte, eben mit Händen und Füßen. Dazu kam noch sein mitreißender Charme, den Clea ganz ungezwungen genoss. Sein Sohn Jean-Paul besaß den gleichen Charme. Doch bei ihm hatte Clea das merkwürdige Gefühl, er meine sie persönlich. Natürlich glaubte sie aufgrund ihres, von Friedemann total zerstörten weiblichen Selbstwertgefühls, sie würde sich das nur einbilden, was allerdings keinerlei beruhigende Wirkung auf sie ausübte. Ganz im Gegenteil. So vermied sie ziemlich krampfhaft den Augenkontakt mit ihm, obwohl er direkt neben ihr saß.
„Clea ist nur traurig, soviel alte Leute hier!“, widersprach Jean-Paul seinem Vater auf Deutsch und mit einem breiten Grinsen. „Sie braucht etwas Abwechslung!“
Clea und Henri protestierten beide gleichzeitig. Doch Jean-Paul ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen, um der nun folgenden Einladung den nötigen Nachdruck zu verleihen.
„Morgen Abend gibt es eine Fete, Freunde von mir haben hier eine Ferienvilla. Komm doch mit Clea, wir wollen den Rosenmonat feiern.“
„Den Rosenmonat?“
„Ja, der Juni ist der schönste Monat in Veules. Und gestern hat er angefangen. Wir treffen uns immer am ersten und am dritten Samstag im Juni hier. Juli, August gehört die Stadt den Touristen. Einfach ein furchtbarer Trubel. Und Mama hat dann auch gar keinen Platz für uns, alle Zimmer sind in der Hochsaison ausgebucht.“
„Kommt Betty auch mit?“
„Ja klar. Obwohl sie mit ihren fast 26 Jahren eigentlich schon zu alt für unsere Fete ist!“, neckte er Clea.
„Wie alt bist du denn?“, fragte Clea spontan und genierte sich sofort für ihre direkte Frage. Doch Jean-Paul hatte kein Problem damit.
„23 Jahre“, antwortete er bereitwillig. Au weia, dachte Clea. Das war noch jünger als sie gedacht hatte. Andererseits half ihr das, sein Angebot anzunehmen.
„Okay, wenn es dich nicht stört, dass ich fast deine Mutter sein könnte, komme ich mit!“
Jean-Paul schien das sehr komisch zu finden. Er sagte in seinem schnellen Französisch etwas zu seiner Schwester. Die zuckte nur die Schultern und wandte sich dann wieder ihrer Großmutter Claudine Schneider zu. Clea lehnte sich zufrieden zurück, nahm ihr Weinglas in die Hand, schnupperte genießerisch und steigerte damit die Vorfreude auf den nächsten Schluck. Die Gespräche um sie herum plätscherten wie eine kleine Melodie in ihrem Bewusstsein, erzeugten einen Moment des vollkommenen Wohlbehagens.
Wie gut, dass sie diese Reise gewagt hatte. Alles war geradezu vollkommen. Sie fühlte sich zum ersten Mal seit langem frei, richtig frei. Jeden Tag der vergangenen Woche war sie durch Veules les Roses gestreift. Der Ort verzauberte sie geradezu. Dazu noch die langen Spaziergänge durch die Felder, oben auf den Klippen. Die steile Treppe aus Beton bei Sotteville, zernagt von den Wellen des Atlantiks. Trotz des Sperrschildes mit der Warnung vor der Einsturzgefahr, hatte sie es den Anglern nachgemacht und sich auf den steilen Abstieg begeben. Im unteren Drittel schwang sich die Treppe im Bogen um die Klippe und gab den Blick frei auf die lange, sichelförmig geschwungene Kreideküste von Fecamp bis Dieppe.
Die weißen Klippen fassten das ruhig daliegende, grünblaue Meer ein. Sie hatte sich auf eine der hohen, zerbröckelnden Stufen gesetzt und dieses Bild auf sich einwirken lassen. Und musste lauthals herauslachen, als ihr mit einem Mal klar wurde, woran sie dieser konturierte farbige Anblick plötzlich erinnerte: An Waldmeisterfruchtgelee in einer weißen Porzellanschüssel! Ihr Lachen scheuchte einige Möwen auf, die mit missfallendem Meckern davon segelten und auf irgendeinem Felsvorsprung ihre verloren gegangene Ruhe suchten.
Aber bei Moniques Küche war es wirklich kein Wunder, wenn ihr Gehirn solche Assoziationen hervorbrachte! Sie kehrte mit ihren Gedanken in die Gegenwart zurück und stellte erleichtert fest, dass niemand sie vermisste. Monique war in der Küche verschwunden. Betty als brave Tochter war dabei, das Geschirr abzutragen. Jean-Paul diskutierte ziemlich erregt über irgendetwas mit seinem Vater. Lilo hatte ihren Platz gewechselt, so dass Claudine Schneider jetzt zwischen ihr und Simon saß.
Na, dachte Clea, da geht’s doch wieder um die gemeinsamen Kriegserlebnisse! Für ihren Abendspaziergang war es viel zu spät, draußen wurde es schon dunkel. Doch eine kleine Stippvisite zum Meer konnte nach der üppigen Abendmahlzeit keinesfalls schaden. Also verschwand Clea so unauffällig wie möglich aus dem großen Salon, holte sich eine leichte Jacke aus ihrem Zimmer, beruhigte Kaspar, der hinter der verschlossenen Tür leise anfing zu winseln als er sie hörte und schlich sich aus dem Haus.
Es war sehr still, auffällig still, fand Clea. Als Großstädterin benötigte ihr Gehör immer eine ganze Weile, bis es die Geräusche der Natur wahrnahm. Doch die Düfte erreichten sie sofort. Obwohl sie leichter waren als in ihrem Laden. Nicht so schwül, ohne diesen Unterton von Verwesung. Den Geruch sterbender Pflanzen gab es um diese Jahreszeit nicht in Veules les Roses. Noch gab es keine verwelkten Rosenblüten, nur prall gefüllte Knospen, die farbige Signale durch die aufbrechenden, grünen Hüllen schickten. Und frisch erblühte Rosen in ihrer vollkommenen Eleganz und Grazie. Die schweren, aufgeblühten Exemplare, die ihr ganzes Innenleben ausschütten würden, mit den ersten bräunlichen Verfärbungen an den äußeren Blütenblättern, die brauchten noch einige warme Tage.
Ich bin genau zur richtigen Zeit hier, dachte Clea glücklich. Sie lief die schmale Straße entlang, die am Kirchplatz auf die Hauptstraße mündete. In den schwarzen Schatten der Häuser glühten die Rosen- und Malvenblüten, gaben nur zögernd das eingefangene Licht des Tages her. Sie hörte Stimmen. Leises Lachen sprühte durch die Abendluft, schien in feine Tröpfchen zu zerstieben. In der Creperie brannte noch ein warmes, gelbes Licht. Draußen die vier kleinen Tische waren alle besetzt. Nur junge Leute, deren Ausgelassenheit von der Schönheit des Abends gezügelt wurde.
Clea war dankbar dafür. Lärm passte wirklich nicht in ihre Stimmung. Aber das Meer machte Krach. Unüberhörbar stürzten sich die Wellen in die Steinwälle an der Promenade. Scheppernd, splitternd, kreischend, dumpf donnernd. Das Spektakel rollte ohrenbetäubend über den Platz und die Schallwellen brachen sich erst an dieser trostlosen Mietskaserne, deren Wohnungen größtenteils leer standen.
Es war hohe Flut. Zum ersten Mal sah und hörte Clea, wie das Meer die ganze Breite des Sandstrandes eingenommen hatte und bis hinauf in die Steine brandete. Sie lehnte sich an die Balustrade und staunte über die Kälte des Metalls, geradezu eisig. Da erst fiel ihr auf, dass mit dem Wasser ein kalter Wind über das Meer kam, kalt und feucht. Der Blick in den Himmel zerstreute ihre Befürchtungen, Mond und Sterne blinkten, nirgendwo schwarze Wolkenfetzen am indigoblauen Abendhimmel.
Sie entspannte sich wieder und konzentrierte sich auf die ungewohnt gewaltige Klangkulisse. Schließlich schloss sie die Augen, und da erst fiel ihr der Unterschied auf. Die heran rollenden Wellen lösten Chaos aus in den Steinen, daher diese überwältigende Kakophonie. Doch anschließend, nach einer fast unmerklichen und doch deutlichen Pause, wenn das Meer die Steine aus seiner Gewalt entließ, sich zurückzog, dann rollten die Steine. Alle zusammen und doch jeder seinen Weg, rollten sie zurück und betteten sich dann mit einem leisen Knirschgeräusch in den Sand ein. Clea war fasziniert, sie konnte gar nicht genug davon bekommen.
Als Jean-Paul sie ansprach, erschrak sie richtig. Natürlich konnte sie ihn bei solch einem Geräuschpegel nicht kommen hören, trotzdem ärgerte es sie, so überrascht worden zu sein. Er schien das nicht zu bemerken, sein jungenhafter Charme machte ihn wohl wirklich immun gegen Verstimmungen und Ressentiments. Offensichtlich erwartete er von Clea nichts als Freude über sein unerwartetes Auftauchen. Sie ergab sich in ihr Schicksal und machte ihn auf ihre Entdeckung aufmerksam. Er stellte sich neben sie und schloss brav die Augen. Lange Zeit sagte er gar nichts und Clea begriff irgendwann, dass er wirklich zuhörte und wohl genauso fasziniert war wie sie selbst. Das stimmte sie versöhnlich und plötzlich fand sie ihn einfach nur sympathisch.
„Weißt du, es ist doch wirklich toll wie die Steine damit umgehen, findest du nicht? Sie rollen einfach wieder in eine angenehme Lage zurück!“
„Like a rolling stone!“
„Oh, das ist gut. Lauter rolling stones. Rollende Steine sind laut! Laut rollende Steine. Das werde ich mir merken.“
„Ich bin ein rolling stone“, sagte Jean-Paul. „Bist du auch ein rolling stone, Clea?“
Sie schwieg eine ganze Weile auf seine Frage. Sicher wollte sie ein rolling stone sein, aber was ging ihn das an? Nach acht Jahren wurde es wirklich Zeit, dass sie wieder zu sich selber fand. Aber jetzt wollte sie daran wirklich nicht erinnert werden. Zumal die unvermittelt aufkeimende Angst ihrer Aufbruchsstimmung wirklich nicht gut tat. Und wieder war sie ärgerlich über Jean-Paul. Zum Glück beharrte er nicht auf eine Antwort.
„Es wird kalt, das Wetter wird umschlagen. Kommst du mit zurück?“
Clea nickte nur und so liefen sie wortlos nebeneinander her bis sie das Haus der Davids erreichten.
Die alte Garde hatte es sich in den Sofas am Kamin bequem gemacht, in dem zu Cleas Erstaunen ein Feuer brannte. Jetzt erst bemerkte sie, wie ausgekühlt sie vom Wind war.
Betty war nirgendwo zu sehen und auch Jean-Paul verabschiedete sich mit der Bemerkung, er müsse noch für zwei Klausuren in der nächsten Woche lernen.
„Wann fahrt ihr zurück?“, fragte seine Großmutter.
„Erst am Montag, nach dem Frühstück“, antwortete Henry David für seinen Sohn. „Ich habe erst am Nachmittag wieder Termine.“
Claudine Schneider nickte zufrieden und sagte dann auf deutsch zu Lilo:
“Im Sommer sehe ich die Kinder kaum. Und Jean-Paul will in den Semesterferien mit Freunden nach Griechenland. Betty bleibt immer bei ihrem Vater in Paris, jedenfalls bisher. Sie hat immer noch keinen Verehrer. Diese jungen Leute! Wollen nicht heiraten und wollen keine Kinder. Nur Karriere im Kopf.“
Lilo sagte nichts dazu, schließlich hatte sie auch nie Kinder gewollt. Um von dem Thema abzulenken stellte sie Monique David die Frage, die sie nun schon den ganzen Abend beschäftigte, seit Henri mit Sohn und Tochter aus Paris angekommen war: „Betty ist doch kein französischer Name, nicht wahr?“
„Nein, wirklich nicht“, antwortete Monique lächelnd. Das liegt an meiner Schulzeit in Deutschland. Unser Englischbuch, Peter Pim and Billy Ball. Billy hatte eine Schwester namens Betty. Ich fand den Namen so schön. Von da an sollte meine Tochter, wenn ich denn eine bekommen würde, Betty heißen. Nun ja, mein Mann hatte nichts dagegen, als unser erstes Kind dann wirklich eine Tochter wurde. Oder vielleicht ist ihm auch kein besserer Name für ein Mädchen eingefallen?!“
„Nein, es ist wirklich ein hübscher Name“, befand Lilo. „Wo sind Sie denn in Deutschland zur Schule gegangen?“
„Das war in Karlsruhe. Ich bin erst bei meiner Heirat mit Henri nach Frankreich zurück gekommen.“
„Deswegen das perfekte Deutsch. Und ihre Kinder?“
„Sie sind zweisprachig aufgewachsen. Und in den Ferien waren sie immer bei ihrer Großmutter in Karlsruhe. Maman ist erst nach dem plötzlichen Tod meines Vaters vor zehn Jahren zu uns nach Paris gezogen.“
„Aha“, machte Lilo zufrieden. Ihre Neugier war fürs erste befriedigt.
„Hatten sie denn nie Heimweh nach Frankreich?“, fragte nun Clea Moniques Mutter.
„Oh, das ist schwer zu beantworten. Dazu müsste ich eine lange Geschichte erzählen. Und ich glaube, ihr Vater und ich haben in den letzten Tagen schon zu viele alte Geschichten erzählt.“
„Nein, nein“, protestierte Clea mit wachsendem Interesse. „Ich finde diese alten Geschichten hochinteressant.“
Sie schaute in die Runde. Doch nicht mal Lilo schien heute Einwände zu haben. So wandte sich Clea mit einer auffordernden Handbewegung an Mme Schneider.
Die zierte sich nicht länger und fing unvermittelt an:
„Ich war noch nicht mal 17, als ich mich in Konrad verliebte. Uniformen wirken auf junge Mädchen wohl sehr anziehend. Und er sah so gut aus. Dazu blond, mit blauen Augen. Nun ja, so nahm die Liebe eben ihren Lauf. In so einer kleinen Stadt wie der unseren blieb das natürlich nicht verborgen. Aber da unser Bürgermeister sehr lukrative Beziehungen zu den deutschen Offizieren unterhielt, hatten wir sozusagen den Segen der Obrigkeiten. Leider währte unser Glück nur wenige Wochen. Bis wir von den Alliierten befreit wurden. Da hat unser braver Bürgermeister dann ein Exempel an mir statuiert. Er ließ mir vom Frisör des Ortes, bei Anwesenheit einiger honoriger Bürger, den Kopf kahl scheren und schickte mich so durch die Stadt nach Hause.“
Sie machte eine Pause. Es blieb ganz still im Raum. Nur das Knistern des Kaminfeuers brachte etwas Erleichterung in die lähmende Ruhe. Clea tat es jetzt leid, die alte Frau zum Reden animiert zu haben. Man konnte ihr ansehen, wie weh ihr diese demütigende Erinnerung tat. Plötzlich schoss Clea eine Erzählung ihres Vaters durch den Kopf.
„Simon hat etwas Ähnliches erlebt, nachdem sein Vater verhaftet worden war.“ Alle Augen wurden nun auf Cleas Vater gerichtet.
„Das stimmt“, bestätigte er. Gleichzeitig nickte er Claudine Schneider tröstend zu. „Nachdem mein Vater abgeholt worden war, bin ich mit der roten Fahne auf dem Fahrrad durch Storkow gefahren. Bei der zweiten Runde holten mich einige, ebenfalls sehr honorige Herren vom Rad und prügelten mich grün und blau.“ Er schaute in die Runde und fuhr dann fort: „Und genau diese ehrenwerten Herren sind von unseren russischen Befreiern wieder ins Amt gebracht worden. Mein Vater musste das miterleben, als er aus dem KZ kam. Seine heiß ersehnten großen Brüder aus der kommunistischen Sowjetunion brachten die Nazis seiner Heimatstadt wieder in Amt und Würden! Ich bin bis heute davon überzeugt, dass er deswegen ein halbes Jahr später starb. Ja, er ist an gebrochenem Herzen gestorben, nachdem er seine Ideale schon zuvor zu Grabe getragen hatte.“
„Mein jüngerer Bruder hat ebenfalls ziemlich heftig reagiert“, nahm Moniques Mutter ihre Erzählung wieder auf, während ihre Tochter für Henri noch einiges von Simons Erzählung ins Französische übersetzte. „Wie alt war er damals? Noch nicht ganz vierzehn, ja im Juli ist sein Geburtstag. Er hat mit ein paar Freunden zusammen den Hund des Bürgermeisters entführt. Das war ein deutscher Schäferhund, ein wirklich prachtvolles Tier. Der ganze Stolz des Bürgermeisters. Die Jungen haben ihn also eingefangen und dem armen Tier den Hintern glatt rasiert sowie den ganzen Schwanz und den oberen Teil der Hinterbeine. Ich sehe ihn noch heute vor mir, sah aus wie ein Pavian. Aber das Beste war, sie haben auf seine beiden kahlen Hinterbacken mit Tinte zwei große Hakenkreuze gemalt. Danach brachten sie das Tier auf die andere Seite der Stadt und ließen ihn los. Auf seinem Weg nach Haus musste er die ganze Stadt durchqueren.“
Clea konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Die Vorstellung war einfach zu komisch. Doch die alte Frau ließ sich nicht aus ihren Erinnerungen holen.
„Aber es war genau so nutzlos wie ihre Fahrt mit der roten Fahne“, sagte sie zu Simon. „Zu dem Zeitpunkt war bereits die ganze Stadt davon überzeugt, ausnahmslos in der Resistance gewesen zu sein. Ausnahmslos, bis auf mich. Ich war ihr Alibi. Nun ja, so ist das Leben.“
„War das hier in Veules?“, fragte Clea.
„Nein, ich bin niemals dorthin zurückgekehrt. Und ich hatte und habe kein Heimweh dorthin“, beantwortete sie nun Cleas anfängliche Frage ganz direkt. „Nicht mal Heimweh nach Frankreich in den ersten Jahren. Aber ich musste es noch fast zwei Jahre aushalten, bis Konrads Brief kam in dem er mich einlud nach Karlsruhe zu kommen und seine Frau zu werden. Ich packte auf der Stelle meine Koffer und bin zu ihm. Ich habe sogar versucht zu vergessen, dass ich Französin bin. Allerdings änderte sich mein Standpunkt mit den Jahren, als ich endlich begriff, dass es auch in Deutschland nicht anders war. Da hatte es scheinbar, genau wie in Frankreich, nie einen Nazi gegeben. Jedenfalls konnte sich niemand daran erinnern! Diese Zeit war ja auch in Deutschland ein Tabuthema. Aber wenn sie wirklich mal zur Sprache kam, hat keiner von irgendetwas gewusst. Der einzige Unterschied zu meinen Landsleuten bestand darin, das die nachträglich alle behaupteten, in der Resistance, im Widerstand gewesen zu sein, während es in Deutschland nur arme Opfer gab, aber keine Täter. Nun ja, lassen wir das, es bringt nichts.“
„Trinken wir auf die Liebe. Vive l’amour!“, forderte Henri David mit seinem erhobenen Weinglas auf. Alle stießen erleichtert mit ihm an. Nur Clea dachte: Bei mir haut leider nicht mal das hin. Was für ein Käse! Be a rolling stone, Clea. Die anderen können das doch auch!
Bis zum Frühstück war noch etwas Zeit. Lilo hatte gerade mit Kaspar das Haus verlassen. So klopfte Clea bei ihrem Vater an die Zimmertür. Er saß am Fenster und schaute hinaus in den Garten. Clea setzte sich dazu.
„Das war ein interessanter Abend“, sagte sie. „Aber wie hast du das nur alles weggesteckt. Den Krieg und all das. Und dann noch Mamas Tod?“
Er schwieg eine Weile bis er leicht die Schultern hob und erklärte:
„Nun ja, was blieb mir denn anderes übrig, Kind?“
Clea dachte über seine Antwort nach.
„Wieso krieg ich das nicht gebacken? Ich habe heute Nacht von Friedemann geträumt! Jetzt, wo ich ihn doch endgültig aus meinem Leben streichen will, da fang ich wieder an, von ihm zu träumen.“
„Was hast du denn geträumt?“
„Total peinlich, Paps! Ich stand mit ihm vor dem Traualtar. Richtig glücklich war ich dabei. Doch dann sagte der Priester, er könne uns nicht trauen, erst müsse ich mir den Kopf kahlrasieren lassen. Irgendjemand tauchte mit einer großen Schere auf und gab sie Friedemann. Doch ich wollte nicht. Plötzlich war ich dann in meinem Laden, allein. Aber es waren keine Blumen, die ich verkaufte, sondern Perücken. Dann ging die Ladenglocke und ich bin aufgewacht.“
„Nun ja“, beruhigte Simon sie, „ich bin kein Traumdeuter, wie du weißt. Aber ich finde der Traum hört sich gut an. Irgendwie sehr positiv.“
„Findest du?“
„Ja, wirklich. Du hast dich nicht unterkriegen lassen. So wie ich. Bist eben doch Papas Tochter!“