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Kapitel 1
ОглавлениеDer Staatssekretär legte die Fingerspitzen aneinander und trommelte mit den Zeigefingern im steten Rhythmus auf seine Unterlippe. Er war sich seiner schönen Hände sehr bewusst. Deshalb besaß er ein beachtliches Repertoire an Gesten, die seine feingliedrigen, aber nicht zu dünnen, langen Finger mit den wohlgeformten, perfekt gepflegten Nägeln für sein jeweiliges Gegenüber zum Blickpunkt machten.
Viele Frauen, die ihn als treuen, regelmäßigen und gutsituierten Kunden schätzten, lobten sie wiederholt mit erfreulichem Enthusiasmus. Aufgrund seiner nicht unbeträchtlichen Bezüge aus verschiedenen Quellen konnte er sich Dienstleistungen jeder Art leisten, die das Leben eines Junggesellen mit angenehmen Verzierungen, wie er es nannte, bereicherten.
Bei seinem Gegenüber zeigte sich keinerlei Wirkung, auch das war ihm bewusst, doch nicht der Grund dafür, das Stakkato zu beenden. Er hatte etwas zu sagen. Etwas Bedeutsames!
„Die Zeit ist reif.“
Da sich keine erkennbare Reaktion zeigte, wiederholte er den Satz ohne ein Anheben der Lautstärke, jedoch mit veränderter Modulation.
„Die Zeit ist reif!“
Heinrich Wagner nickte nun unmerklich und der Staatssekretär gab für einen Moment seine Attitüde auf, ließ sich zurückfallen in den ledernen Fauteuil, der unter seinem Fliegengewicht lediglich ein schwaches Knarren von sich gab.
„Die Zeit ist reif“, wiederholte Heinrich nun, tonlos, so als wäre er überrascht oder sogar überfordert. Der schmalschulterige Oberkörper des Staatssekretärs schnellte nach vorne, als würde er von einem unsichtbaren Mechanismus gesteuert. Automatisch brachte er auch wieder seine, eben noch sehr entspannt auf den Armlehnen ruhenden Hände in den Vordergrund. Die Handflächen nach oben gewandt, schob er sie dem alten Mann entgegen.
„Das ist ein klarer Auftrag die Partei nach vorne zu bringen!“
Erneut nickte Heinrich Wagner. Auf seinem strengen Gesicht, in das die Disziplin ihre steinernen Spuren gemeißelt hatte, war nicht der geringste Funke einer Emotion zu erkennen.
Obwohl er den Alten gut kannte, machte der Staatssekretär eine ungehaltene Geste. Seine rechte Hand zerschnitt in einer schnellen Bewegung den starren Blick seines Gegenübers, als könne er dadurch dessen verborgene Gedankengänge sichtbar machen.
„Wir erwarten Ergebnisse, baldige Ergebnisse. Der Tag hat sich genaht. Die Nacht ist vorbei. Licht strahlt auf am Horizont! Der Kommunismus ist schon lange tot, verwest, verschwunden. Der Kapitalismus ist genauso zum Sterben verurteilt. Die Globalisierung reißt die Maske vom Gesicht dieses Zombies namens Wachstum. Die Politik ist zur Hure der Wirtschaft verkommen. Unsere Zeit ist da, das Warten ist vorbei!“
Während dieser flammenden Rede seines unscheinbaren Besuchers im eleganten Armani Anzug genoss Heinrich die Genugtuung im Innern, die sich ausbreitete wie ein sanftes Glühen in seiner Brust. Fast sechzig Jahre hatte er auf diesen Tag gewartet. Nicht untätig gewartet. Ganz im Gegenteil. Er hatte seinen Enkel erzogen, geschult, ja geformt, für diese Aufgabe, die nun in seine Hände gelegt werden sollte. Der letzte Schliff würde nicht mehr viel Zeit beanspruchen. Er war dieser Aufgabe unzweifelhaft gewachsen. Dafür war er selbst der Bürge. Vier Jahrzehnte, beginnend mit dem ersten Atemzug des Jungen, hatte er nichts dem Zufall überlassen.
Sein Blick fiel auf den schweren, eichenen Schreibtisch. Er entstammte dem Besitz einer jüdischen Bankiersfamilie, hatte die Kristallnacht ohne nennenswerte Beschädigung überstanden, im Gegensatz zu seinem damaligen Besitzer. In Heinrichs Gedächtnis existierte diese Tatsache nicht. Es war sein Schreibtisch! Er stand ihm zu! Er hatte so viele Opfer gebracht in seinem Leben. Fast sechs Jahrzehnte hatte er gewartet auf die Morgendämmerung: Geduld geübt, Selbstbeherrschung bekundet, grenzenlose Selbstbeherrschung. Sogar auf die Macht, Leben zu geben und Leben zu nehmen verzichtete er von dem Tag an, als er die Uniform ablegen musste.
„Das Volk braucht Führung“, drang die Stimme des Staatssekretärs in seine Überlegungen. „Es weiß nur nicht, wo es sie findet. Die Wahlbeteiligung sinkt seit Jahren drastisch. Es gibt keine Alternativpartei. Wir werden sie schaffen. Erneuerung! Das ist der Auftrag!“
„Der Auftrag der Vorsehung“, ergänzte Heinrich. „Wir werden ihn ausführen, wir sind bestens dafür gerüstet. Teilen sie das den Herren mit!“