Читать книгу Alte Männer - böser Traum - Linda Große - Страница 13
Kapitel 10
ОглавлениеClea schaute etwas zweifelnd in den Spiegel. Diese Person sah doch wirklich gut aus! Aufsteigende leichte Zweifel lagen nur darin begründet, dass sie sich selber fremd vorkam. Sie trug das rotweißgestreifte bretonische Shirt. Sie hatte es am Montag auf dem Markt in Cany-Barville gekauft, weil es sich mit seinen dreiviertel Ärmeln und dem Carreausschnitt um eine ausgesprochen schicke Version des typischen Fischerhemdes handelte. Dazu eine weiße Jeans mit Schlag, an deren unterer Seitennaht entlang eine schmale schwarze, gestickte Rispe rankte. Und ihre langen dunklen Haare trug sie heute nicht nur offen, sondern zusätzlich hatte sie mit Föhn und Rundbürste noch etwas Fülle hinein gezaubert.
Sie ging näher an den Spiegel heran, beugte sich etwas vor, um ihre gesamte Beinlänge zu begutachten. Es gelang nicht ganz. Trotzdem, ihre Figur war in Ordnung, die Hose stand ihr wirklich klasse. Jedenfalls schien der Spiegel dieser Meinung zu sein.
Und trotzdem, sie fühlte sich fremd, unbehaglich. Sollte sie nicht doch lieber ein paar ganz normale Jeans anziehen, plus T-Shirt? Und die Haare? Eine Zeitlang war sie richtig hin und her gerissen. Bis sie endlich begriff, dass sie sich selber auf die Nerven ging. Kurz entschlossen verließ sie ihr Zimmer. Hoch erhobenen Hauptes. Und registrierte erstaunt, wie das funktionierte. Sie fühlte sich plötzlich richtig selbstbewusst.
Jean-Paul saß mit Henri im Garten. Bei ihrem Erscheinen stand er auf und pfiff anerkennend durch die Zähne. Auch Henri war schwer angetan von ihrem Outfit. „Une fleur d’allmagne“, sagte er, „eine Rose, eine Rose von Deutschland.“
Clea bedankte sich erfreut für das Kompliment.
„Kommt Betty denn nicht mit?“, fragte sie Jean-Paul, der sich mit ihr auf den Weg machen wollte.
„Die ist schon längst da, sie hat die Blüten gebracht für die Rosenbowle.“
„Rosenbowle, das hört sich toll an“, freute sich Clea, „habe ich noch nie getrunken.“
Ein paar Minuten darauf erreichten sie das düstere Feldsteinhaus, das Clea wegen seines verwilderten und völlig blumenlosen Gartens bei ihren Spaziergängen aufgefallen war. Heute ragten die halb aufgestoßenen Fensterläden in das unbeschnittene Buschwerk hinein. Das hohe Fenster erlaubte einen Blick in einen düster wirkenden, dunkel getäfelten Raum. Fröhliches Stimmgewirr und leise Musik drangen nach draußen. Das große Eingangstor stand weit offen. Jemand hatte die von zahlreichen Regengüssen aufgequollenen Werbezeitungen der Supermärkte aus dem Briefkasten und den Gitterstäben des schmiedeeisernen Tores entfernt. Nur im wuchernden Gras lagen noch einige völlig ausgebleichte Exemplare. Sie gingen über die Einfahrt. Im Schatten des Hauses blühte ein verspäteter Löwenzahn mitten auf dem Weg. Der ungemähte hochgeschossene Rasen wogte zu beiden Seiten in die Auffahrt.
Die zweiflügelige Eingangstür war genauso achtlos aufgestoßen wie die Fensterläden. Die Flügel bildeten einen schmalen Spalt, durch den Jean-Paul sich mit einer leichten Seitwärtsdrehung hindurchzwängte. Clea tat es ihm nach. Die Diele war so dunkel, dass sie spontan nach seiner Hand griff. Die Luft war kühl und abgestanden. Es roch nach Staub und Zerfall. Ein schwacher Lichtstrahl aus dem Salon zeichnete einen Pfeil auf den düsteren Dielenboden. Tanzende Staubkörner transportierten Schwaden von Parfümduft, Rasierwasser und saurem Weingeruch in die stockdunkle Diele. Ein Szenario wie für einen Vampirfilm, dachte Clea leicht fröstelnd.
Auch die Tür zum großen Wohnraum war nur knapp aufgestoßen. Jean-Paul ließ ihre Hand los und versuchte mit beiden Armen, den Spalt zu verbreitern. Die Tür gab mit einem widerwillig schabenden Geräusch nach. Die Dielen knarrten ärgerlich und verschafften ihm den Auftritt, den er anscheinend haben wollte.
Fast alle Köpfe wandten sich ihnen zu, als sie den Raum betraten. Es gab ein lautes Hallo. Jean-Paul ergriff erneut Cleas Hand und zog sie in die Mitte des Raums.
„Mon fleur d’allemagne“, stellte er Clea vor. Das störte sie nicht weiter. Nur das ‘mon‘ war ihr etwas zu besitzergreifend. So entzog sie ihm unwillig ihre Hand. Die Begrüßungen, alle mit Küsschen rechts, Küsschen links, Küsschen rechts, dauerten eine Weile. Die schnell gesprochenen französischen Sätze blieben für Clea unverständlich. Ab und an hörte sie ein Wort heraus, dessen Bedeutung sie kannte, doch es reichte bei weitem nicht aus, den Sinn des Gesagten zu verstehen. Also beschränkte sie sich auf ein freundliches Lächeln und es schien auch keiner mehr von ihr zu erwarten. Sogar diejenigen, die sie direkt ansprachen, warteten keine Antwort ab. Allmählich löste sich die Gruppe um sie und Jean-Paul auf. Clea entdeckte Betty im hinteren Teil des Salons und steuerte zielstrebig auf sie zu.
„Puh“, sagte sie zu ihr, „mir schwirrt der Kopf. Diesen Geschwindigkeiten ist mein Französisch überhaupt nicht gewachsen“. Betty verzog keine Miene, zuckte nur leicht die Schultern. Anscheinend versteht sie heute Abend auch kein deutsch, dachte Clea verärgert. Das kann ja heiter werden.
So schaute sie ziellos im Raum umher, entdeckte plötzlich das große Glasgefäß mit der Bowle und fragte:
„Hast du die Bowle gemacht?“ Dabei bewegte sie sich auf den Tisch mit der Rosenbowle zu und, o Wunder, Betty folgte ihr.
„Sieht wunderschön aus!“ sagte sie anerkennend.
„Danke“, erwiderte Betty auf Deutsch.
„Ich habe so etwas noch niemals getrunken. Kann man die Blüten auch essen?“
„Ja, sie schmecken gut, du wirst sehen. Aber es dauert noch etwas. Sie müssen noch mindestens eine Stunde stehen, bevor wir sie aufgießen können.“
„Womit hast du sie angesetzt?“
„Diesmal habe ich sie mit Weißwein angesetzt, weil ich nur eine Rosensorte genommen habe. Sie heißt Aida. Es ist eine Edelrose. Durch den warmen trockenen Mai, blüht sie dies Jahr besonders schön. Sie hat ein Erdbeeraroma und ....“
„Erdbeeraroma? Eine Rose mit Erdbeeraroma?“
Betty musste lächeln.
„Ja, du wirst sehen. Es kommt am besten mit Weißwein zur Geltung. Außerdem ist noch Vanille im Ansatz, etwas Zimt. Aber sehr sparsam. Orangensaft und Rosenlikör. Den setzt Maman immer selber an. Den Wein muss man ein wenig warm machen, so handwarm, bevor man ihn über die Zutaten gießt. Und dann sechs Stunden ziehen lassen.“
„Und nachher Sekt dazu?“
„Ja, und Eiswürfel, mit kleinen Rosenblüten.“
„Muss wunderschön aussehen, wenn sie fertig ist. Viel zu schade zum Trinken!“
Unvermittelt ging ein Strahlen über Bettys Gesicht. Doch es galt nicht Cleas Bemerkung über ihre Bowle. Es war plötzlich eine Bewegung im Raum entstanden, wie bei Cleas und Jean-Pauls Ankunft. Betty setzte sich Richtung Tür in Bewegung. Clea drehte sich um und schaute ihr nach. Im Türrahmen stand ein hoch gewachsener, schlaksig wirkender Junge. Höchstens zwanzig Jahre, dachte Clea. Viel zu jung für Betty. Der Knabe strich sich mit lässiger Geste den überlangen Pony aus dem Gesicht, breitete die Arme weit aus und sagte irgendetwas auf Französisch. Clea verstand einzig die Worte ‘mes amis‘. Es fand die gleiche Begrüßungsprozedur statt wie schon zuvor. So von außen betrachtet kam ihr alles noch wesentlich hektischer vor. Es war heftig Bewegung in der Gruppe. Jeder schien gleichzeitig mit jedem zu reden und die Gesprächspartner wechselten in Sekundenschnelle.
Clea setzte sich noch etwas mehr ab und lehnte sich mit dem Rücken ans offene Fenster. Es war immer noch hell draußen. Über dem Tal hing ein riesiger Cirrus. Sah aus wie eine abgenagte Fischgräte. Die Luft war warm und drückend. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung war. Jean-Paul steuerte mit dem Neuankömmling im Schlepptau auf sie zu. Du liebe Güte, dachte Clea, hoffentlich nicht wieder die fleur d’allmagne Tour. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es Betty gefallen würde.
„Antoine, Paris. Clea, Berlin!“, machte er die beiden miteinander bekannt.
„Berlin, o Berlin mon amour!“, erklärte Antoine überschwänglich und gab der überraschten Clea einen stilsicheren Handkuss. Jean-Paul genoss die Szene unübersehbar. Clea schnitt eine Grimasse und schaute kurz zu Betty, die immer noch wie eine Säule auf der anderen Seite des Raums stand und so tat als wäre sie völlig uninteressiert an allem, was da so vor sich ging. Antoine konnte leider auch kaum Deutsch. Also versuchte sie auf Französisch zu ergründen, was er an Berlin so liebte. Als Jean-Paul in den Tiefen des Raumes verschwunden war, änderte sich Antoines Haltung plötzlich. Irgendwie wurde er normaler, fand Clea.
„Do you speak english?“, fragte er Clea unvermittelt. Das brachte ihre Konversation außerordentlich in Schwung. Antoine war schon mehrmals in Berlin gewesen. Er hatte dort Freunde, bei denen er übernachten konnte. In den Ferien wollte er wieder hin und er fragte Clea nach ihrer Telefonnummer. Die gab sie ihm bereitwillig und zwar nicht nur vom Laden, sondern auch von ihrer Wohnung.
„Ist beides im selben Haus“, erklärte sie ihm. „Irgendwo erwischt du mich immer.“
Inzwischen hatte sie erfahren, das Antoine die Schauspielschule besuchte, dass seine Lieblingsbar in Berlin ‘Chez Barbra‘ hieß und das er Klaus Kinski für den größten Mimen aller Zeiten hielt. Diese Ansicht erschien Clea nun nicht besonders professionell. Sie fand Kinski eher unheimlich und ansonsten durchschnittlich. Doch Antoine legte sich heftig ins Zeug, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Er schwärmte von einer alten Tonaufnahme: Kinski spricht Villon. Mehrmals imitierte er eine Verszeile mit unverkennbar französischem Akzent:
„Isch ‘ab misch soo nach deinem rrroten Erdbeermund gesäähnt.“
Passenderweise gab’s endlich die Rosenbowle mit Erdbeeraroma. Betty spielte die Hausherrin beim Austeilen und Clea fiel auf, das sie immer noch nicht wusste, wem die Villa gehörte. Sie suchte nach Jean-Paul. Doch der war nicht in Sicht, so fragte sie kurz entschlossen Betty. Allerdings lobte sie zuerst die Bowle, die wirklich ganz ausgezeichnet gelungen war. Die spröde Betty errötete zart bei Cleas Lob und beantwortete dann bereitwillig ihre Frage. Sie deutete auf einen der anwesenden Jungen und erklärte:
„Aber sie gehört nicht ihm, sondern seinen Eltern. Die leben schon seit Jahren getrennt und keiner hat Verwendung für das Haus.“
„Du magst Antoine“, wechselte sie unvermittelt das Thema. „Was glaubst du, wie alt er ist?“
„Zwanzig, höchstens einundzwanzig.“
„Das denken alle“, erwiderte Betty mit einem triumphierenden Ausdruck im Gesicht. „Er ist schon 26. Er ist drei Monate älter als ich!“
Irgendjemand drehte die Musikanlage auf. So kam Clea um eine Antwort herum. Die meisten fingen an nach der Musik zu tanzen, paarweise oder auch allein. Clea gesellte sich zu den Tanzenden. Sie brauchte etwas, bis sie im Rhythmus war, aber dann machte es Spaß und sie bewegte sich ausgelassen durch die Tanzenden hindurch. Leider war sie ziemlich bald völlig aus der Puste und sank auf einen der gedrechselten Stühle, die an der Längsseite des Raumes aufgestellt waren.
Ganz schön aus der Übung, dachte sie. Nun ja, meine Liebe, gehst ja auch stark auf die Vierzig zu! Komisch, wie schnell die Zeit vergeht. Vor acht Jahren war ich gerade in den Zwanzigern. Und jetzt? Eine Frau mittleren Alters, die stark auf die Vierzig zugeht. Ach was, keine negativen Gedanken. Solange du für Jean-Paul immer noch ‘mon fleur‘ bist, kann’s ja nicht so schlimm sein!
Sie lehnte sich zufrieden auf dem Stuhl zurück, zog ein Knie hoch bis unters Kinn und betrachtete entspannt das Partygeschehen. Neben ihr führte eine angelehnte Tür ins Innere des Hauses. Sie hörte leise Stimmen und plötzlich vermeinte sie den Geruch von Haschisch wahrzunehmen.
Na, typisch Studentenfete, Alkohol und Drogen. Fehlt nur noch der Sex. Aber das wird wohl auch noch kommen. Bei dem Gedanken fiel ihr auf, dass es mittlerweile ziemlich dämmerig im Raum war und offensichtlich niemand daran dachte, das Licht anzuknipsen. In dem Moment tauchte Jean-Paul auf und forderte sie zum Tanz auf. Bereitwillig folgte sie ihm, denn die Musik war immer noch sehr schnell. Doch ihre Ahnung schien sich früher als erwartet zu erfüllen. Nach einigen Minuten gab es so was wie Kuschelrock und das Durcheinander auf dem Parkett ordnete sich erstaunlich schnell zu eng umschlungen tanzenden Pärchen.
Jean-Paul legte ebenfalls seine Arme um Clea, ziemlich fest wie sie fand. Die ersten beiden Musikstücke tanzte er jedoch ganz brav mit ihr. Als er seine Wange an Cleas legte, wurde sie unruhig. Jahrelang war sie keinem Mann mehr so nahe gekommen. Zu allem Überfluss schob er auch noch seine Hand unter ihr T-Shirt, schob sie hinauf bis zum BH und fuhr dann mit der Fingerspitze langsam um ihren Rücken herum nach vorne. Clea reagierte mit Schrecksekunde, packte entschlossen seine Hand und legte sie zurück auf ihre Hüfte. Daraufhin drückte er seine Wange noch fester an ihre und sagte kichernd: „Be a rolling stone, Clea, be a rolling stone!“
Ja, gern, dachte Clea, aber nicht mit dir Milchbubi.
„Bist du bekifft?“, fragte sie ihn.
„Stört dich das?“, fragte er zurück und versuchte ungeschickt sie zu küssen.
Einige der Paare waren mittlerweile durch die angelehnte Tür verschwunden. Clea suchte nach einer Möglichkeit, ebenfalls unauffällig zu verschwinden, aber allein.
Also, so läuft das, dachte sie, aber nicht mit mir!
„Einen Moment, ich muss Betty was fragen“, sagte sie zu Jean-Paul und löste sich aus seiner Umklammerung, „bin gleich wieder da.“
„Wo gibt’s hier ein Klo?“ fragte sie Betty, laut genug, dass er es hören konnte.
Wie sie gehofft hatte, war es gleich in der Diele, neben der Eingangstür. Sie durchquerte den großen Salon, tastete sich durch den düsteren Flur und verließ schnellen Schrittes das Haus.
Nur Betty erschien zum Frühstück. Ihr kleiner Bruder war nirgendwo zu sehen.
„Ging wohl ziemlich lange, eure Fete?“, fragte Clea.
Das Mädchen verhielt sich ihr gegenüber überraschend anders als bisher, richtig freundlich und aufgeschlossen.
„Ich weiß nicht“, beantwortete sie Cleas Frage, „bin bald nach dir gegangen.“
Dann ist mit Antoine wohl auch nichts gelaufen! bedauerte Clea sie in Gedanken.
Doch Betty schien ganz zufrieden zu sein.
„War ein schöner Abend, nicht?“
„Erzähl doch mal!“, forderte nun Lilo Clea auf.
Die berichtete ausführlich über Bettys Rosenbowle, das Haus mit seinen antiken Möbeln und von Antoine, der sie in Berlin besuchen wollte.
„Warum kommst du nicht mit ihm?“, fragte sie Betty. Die errötete heftig und murmelte etwas von: „Kein Urlaub.“
Für einen Moment schien es so, als wolle Bettys Oma etwas dazu sagen, unterließ es dann doch und Clea erschien es angesagt, das Thema völlig zu wechseln. Sie überlegte angestrengt und fragte Betty unvermittelt: „Magst du Andrea Bocelli?“
„Oh, ja“, ging sie sichtbar erleichtert auf die Frage ein. Besonders das Lied, das gestern Abend ein paar Mal gespielt wurde, das mit Sarah Brightman.“
„Das Abschiedslied für Henry Maske.“
„Henry Maske, der Boxer?“, fragte Lilo.
„Ja, kennen Sie ihn?“, fragte Betty.
„Einen Boxer? Nein, ich mag Boxkämpfe nicht.“
„Ich kannte Maxe Schmeling“, erklärte Simon.
„Wer ist das?“, wollte Betty wissen.
„Ein berühmter deutscher Boxer!“, erklärte Lilo.
„Kenne ich nicht“, sagte Betty achselzuckend.
„Kein Wunder“, tröstete Clea sie. “Als der berühmt war, gab’s dich noch gar nicht, mich übrigens auch nicht. Aber sag mal, Paps. Woher kennst du ihn denn? Ich wusste davon gar nichts.“
„Wir haben zusammen in Athen im Lazarett gelegen. Mich hatte auf Kreta die Sandfliege erwischt. Malaria! Und Maxe hatte Durchfall. Wir lagen nebeneinander. Er hat mir erzählt, dass die Nazis ihn gezwungen hatten, sich freiwillig zu melden. War sozusagen ihr Aushängeschild. So als Vorbild für die Jugend. Hätte er es nicht gemacht, wär’s mit seiner Boxkarriere nicht mehr weit her gewesen. Jedenfalls haben sie ihn ausgebildet bei den Fallschirmjägern. Ist nur einmal abgesprungen, über Kreta. Danach kam er ins Lazarett und anschließend wurde er nach Hause zurückgeflogen. Damit war seine Zeit als Soldat zu Ende.“
„Was sie alles erzählen können“, meinte Betty.
„Aber für heute langt‘s“, verkündete Lilo ausgesprochen energisch. „Du machst hier ständig den Alleinunterhalter!“
Clea, die bereits mit dem Frühstück fertig war, hielt es für das Beste, sich aus dem Staub zu machen. Das Wetter war umgeschlagen, wie Jean-Paul es bereits am Freitagabend prophezeit hatte. Es war kalt und windig draußen und total bewölkt. Lilo war vom Morgenspaziergang mit Kaspar völlig zerzaust und durchfroren zurückgekommen. Jedenfalls schien der Tag wie dafür geschaffen, in den mitgebrachten Krimis zu schmökern. So verzog sich Clea in ihr Zimmer und machte es sich auf dem Bett gemütlich.
Ein energisches Klopfen an ihrer Zimmertür ließ sie von ihrer spannenden Lektüre hochschrecken. Automatisch sagte sie „herein“ und war wenig erfreut, Jean-Paul zu sehen. Er grinste übers ganze Gesicht und lehnte sich mit verschränkten Armen lässig in den Türrahmen. Die Abfuhr des vergangenen Abends schien ihn und seinen Charme vollkommen unbeeindruckt gelassen zu haben.
„Hast du Lust auf einen Ausflug?“, fragte er Clea.
„Bei dem Wetter?“
„Gerade bei dem Wetter! Mit dem Auto durch die Gegend fahren und in irgendeiner Fischerkneipe ein Bier trinken.“
Hört sich gar nicht so übel an, dachte Clea. „Und mit wem?“, wollte sie wissen und zog dabei die Augenbrauen hoch.
„Och, nur Antoine, Betty und ich. Und du, wenn du mitkommst.“
„Okay, muss mir nur was Wärmeres anziehen.“
Da er keine Anstalten machte, zu verschwinden, zischte Clea ihn an: „Hau ab und mach die Tür hinter dir zu. Bin in fünf Minuten unten.“
Die drei saßen schon im Auto, als sie herunter kam. Es irritierte sie ziemlich, dass sie neben Antoine auf dem Beifahrersitz platziert wurde. Aber Betty wirkte ganz zufrieden, obwohl sie neben ihrem Bruder auf der Rückbank saß.
„Sightseeingtour for a german tourist!“ begrüßte Antoine sie mit breitem Grinsen, genauso gutgelaunt wie Jean-Paul. Während der Fahrt war Clea dann ausgesprochen dankbar, dass man ihr diesen Platz eingeräumt hatte. Antoine fuhr zum Teil winzige Sträßchen. Jede Menge Kurven, kleine Dörfer, hohe Mauern, Schafweiden, vereinzelte, ausladende alte Zedern. Dann wieder frisch gestutzte Platanen, die auf Clea unsäglich verstümmelt wirkten, aufgereiht an leeren Boulebahnen auf verlassenen Dorfplätzen. Um alles waberten niedrig hängende Wolken, von plötzlichen, kurzen Windböen wie ein Theatervorhang gelüftet.
Veulette sur mer mit seinem langen, sichelförmig geschwungenen Strand und der hohen weißen Klippe am Ende der Bucht lag völlig überraschend unter ihnen, nachdem sie aus einer Kurve heraus über eine flache Hügelkuppe fuhren. Die krönte den steil abfallenden Kreidefelsen, an dessen Flanke die schmale Straße in Kehren ins Tal hinunter führte. Die Bucht wurde von einer schnurgeraden Straße begrenzt. Zum Strand hin eine flache, breite Betonmauer, an deren Innenseite die Fußgängerpromenade entlang lief. Dort begann, nach der üblichen Steinanhäufung, der tief abfallende Strand. Er verschwand in den nebligen, tanzenden Wolkenfetzen, die das Meer vollständig zudeckten.
Um die Klippe vor ihnen hingen graue Schwaden und entzogen den Felsen immer wieder ihrem Blick. Links von der Straße das vollkommen flache Tal. Vereinzelte alte, zweistöckige Fachwerkhäuser ragten heraus, hoch und schmal, vereinsamte Zähne auf einem fast zahnlosen Unterkiefer.
„Das sieht total unwirklich aus!“, fand Clea. „Wie auf einem anderen Stern.“
„Do you like it?“, fragte Antoine.
Er parkte das Auto an der Promenade. Einige flache, aneinandergereihte Häuschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite signalisierten den ersten Hauch von Leben. Zwei Kneipen, ein Souvenirladen, ein kleines Cafe und ein Geschäft mit Anglerbedarf. Danach erweiterte sich die Straße zu einem großen Parkplatz, der auf der Querseite von einem Casino eingenommen wurde. Der flache Bau wirkte mit seinen Fünfzigerjahrestil in dieser Umgebung überraschend futuristisch.
Sie betraten die kleine, dunkle Bar. Die Längsseite gegenüber der Eingangstür wurde völlig von der hölzernen, dunkelbraunen Theke eingenommen. Zwischen den aufgereihten Barhockern und den beiden runden Tischchen am Fenster blieb nur ein schmaler Durchgang. Der Raum war leer bis auf die Frau hinter der Theke und einem alten Mann, der auf dem Hocker am Ende des Tresens saß, den Rücken gemütlich an die Seitenwand hinter sich gelehnt, den rechten Arm auf die polierte Theke gestützt. Er grinste breit auf ihren Gruß hin und deutete mit der linken Hand einladend auf die Barhocker.
Betty ließ zwischen sich und dem alten Mann zwei Plätze frei. Für einen Moment schien es Clea, als wolle Antoine sich neben Jean-Paul setzen, aber schließlich nahm er doch zwischen ihr und Betty Platz. Clea wollte sich einen Cafe au lait bestellen. Aber damit waren die beiden Jungen nicht einverstanden. Sie sollte unbedingt das Bier probieren, deswegen sei man schließlich hergefahren! Leffe war ihr völlig unbekannt. Ein dicker Mönch grinste breit von der Bierreklame. Es gab blondes und braunes Bier. Sie entschied sich für ‘brun‘. Der erste Schluck ging ihr gleich in den Kopf. Erst dachte sie, es läge an der Uhrzeit, doch Antoine machte sie grinsend auf den hohen Alkoholgehalt aufmerksam, fast sieben Prozent.
„Ja, ja“, sagte sie, „diese alten Klosterbrüder, die wussten schon was gut ist!“
„Schmeckt es dir?“, wollte Jean-Paul wissen.
„Klasse. Und wer fährt zurück?“
Er übersetzte Cleas Frage für Antoine. Der fand ihre Besorgnis einfach nur komisch und fing an zu kichern wie ein Teenager. Das animierte den Alten neben Betty zu einem polterigen Echo. Clea empfand die ganze Szene als genauso surreal, wie die Stimmung draußen. Sie fühlte sich so richtig easy, als Antoine sie mit einer absolut unerwarteten Frage überraschte.
„Jean-Paul hat gesagt, dein Vater war im KZ?“
„Nicht mein Vater, mein Großvater!“
„Bist du denn Jüdin?“
„Nein, mein Großvater gehörte nicht zu den Opfern, sondern zu den Märtyrern des Naziregimes.“
„Was macht da den Unterschied? Versteh ich nicht“, wunderte sich Jean-Paul.
„Opfer waren die Juden, die Sinti und Roma, die Angehörigen der slawischen Volksgruppen. Märtyrer waren die Leute, die wegen ihrer Gesinnung im KZ saßen. Mein Großvater war kommunistischer Stadtabgeordneter, äußerst aktiv in der Arbeiterbewegung. Und wegen seines hohen Bildungsniveaus stuften ihn die Nazis als extrem gefährlich ein. Während der Haft hat er dann auch noch eine Menge anderer kennen gelernt, die wegen ihrer, allerdings religiösen Überzeugung saßen: Hunderte von Bibelforschern und den einen oder anderen Priester, der nicht mit seiner Kirchenführung konform ging. Aber die Bibelforscher haben ihn besonders beeindruckt. Er sagte, sie wären auch unter den schlimmsten Bedingungen Menschen geblieben!“
„Bibelforscher? Was ist das?“
„So nannte man damals die Zeugen Jehovas.“
„Zeugen Jehovas? Die sind in Frankreich nicht sehr beliebt!“
„Ach ja? Und warum nicht?“, wollte Clea wissen.
Interessanterweise kam nur ein Achselzucken als Antwort.
„Na, bei uns sind sie auch nicht gerade beliebt“, räumte Clea ein, „aber Simon meint, es läge daran, dass sie das schlechte Gewissen von uns Deutschen sind.“
„Ah, schlechtes Gewissen? Gewissen gibt es nicht mehr, ist doch abgeschafft. Heute gibt es nur noch Meinung“, spöttelte Antoine. „Man hat eine Meinung, eine anerkannte und korrekte Meinung, aber kein Gewissen!“
Erstaunlicherweise schaltete sich jetzt Betty in das Gespräch ein, die die ganze Zeit noch keinen Ton von sich gegeben hatte, sondern unübersehbar hingebungsvoll Antoines Nähe genoss.
„Damals haben auch viele Leute Juden versteckt, nicht wahr? Manchmal jahrelang. Im Keller oder in einem Schrank. Wie haben diese Leute das nur ausgehalten? Besonders junge Leute? Meine Großmutter hat mir das Tagebuch von Anne Frank zu lesen gegeben. So ein junges Mädchen. Nicht ausgehen mit anderen, keine Rosenparty, kein Ausflug ans Meer, so wie wir jetzt. Und alles umsonst....“
Das Satzende ging in einem Schluchzen unter und Clea war erstaunt und betroffen, als Betty richtig anfing zu weinen. Jetzt tat es ihr leid, so ausführlich auf Antoines Frage eingegangen zu sein. Irgendwie zeigten Simons und Claudines Erinnerungen eine fatale Wirkung bei ihr, wie sie nun selber fand. Fast schon schwermütig. Sie wollte sich gerade bei Betty entschuldigen, doch da hatte sich Antoine endlich dazu durchgerungen, tröstend seinen Arm um das schluchzende Mädchen zu legen. Die Wirkung war umwerfend. Ein Strahlen ging über Bettys Gesicht, bevor sie sich traute ihren Kopf an seine starke, männliche Schulter zu lehnen. Ich bin platt, dachte Clea. Eigentlich hat sie allen Grund mir jetzt dankbar zu sein. Oder Antoine, wegen seiner blöden Frage. Jedenfalls ist ihr Glück unübersehbar!
Sie schaute Jean-Paul an. Der schnitt eine Grimasse, beugte sich vor und langte an Clea vorbei nach Antoine. Er sagte etwas in Französisch zu ihm, was zur Folge hatte, dass er vorsichtig Betty von sich weg schob. Dann holte er seine Geldbörse aus der Tasche, warf einige Münzen auf die Theke und rutschte gleichzeitig mit Jean-Paul von seinem Barhocker. Clea war das nur recht. Irgendwie war die gelöste Stimmung im Eimer, stimmte nun völlig mit dem Wetter überein.