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Kapitel 9
Оглавление„Ist diese Blumenfrau denn immer noch in Urlaub?“, quengelte Plastrothmanns Mutter und schaute missbilligend auf seinen mitgebrachten Blumenstrauß. „Du weißt doch, ich verabscheue Schleierkraut! Das sieht so nach Beerdigung aus!“
Nein, er wusste das nicht. Er wusste überhaupt nicht viel von dieser Frau. Obwohl er sie jeden Samstag besuchte, pünktlich wie ein Uhrwerk. Von zwölf bis fünfzehn Uhr. Dabei redete sie die ganzen drei Stunden fast ununterbrochen. Doch er hörte ihr nicht zu. Das machte diese Pflichtbesuche so erträglich für ihn, fast entspannend. Sie redete und er dachte an gar nichts. Doch heute stieg bei ihrer Klage über den Blumenstrauß eine leise Wut in ihm hoch, stieg ihm kribbelnd ins Genick. Eine völlig untypische Reaktion für ihn, den eiskalten, disziplinierten Logiker. Er hatte für alles was er tat gute Gründe, für Emotionen war da kein Platz. Selbst diese Besuche bei seiner Mutter hatten nichts mit irgendwelchen Empfindungen für sie zu tun. Er tat es aus reinem Pflichtgefühl, jedoch nicht ihr gegenüber, weil sie ihn geboren hatte. Nein, nur seinem Vater gegenüber, weil der sie erwählt hatte, ihm einen Sohn zu schenken. Dessen Ehefrau, die Plastrothmann nach wie vor als seine wahre Mutter betrachtete, eine große nordische Blondine, war unfruchtbar gewesen; ein Irrtum der Vorsehung. Ein grausamer Irrtum, wie Heinrich zu sagen pflegte.
Er schaute ihr zu, wie sie die Blumen in einer Vase anordnete. Eine alte, verwelkte und verbitterte Frau, die mit all ihren Kräften, die ihr noch geblieben waren, darum kämpfte, die Reste ihres ehemaligen jugendlichen Aussehens zu bewahren. Viel mehr als das gab es auch nie an ihr. Sie war eine einfache Frau, die noch heute stolz darauf war, als Leihmutter eines so bedeutenden Mannes gedient zu haben. Dank ihrer Leichtlebigkeit empfand sie es auch nicht als Verlust, ihren Sohn von einer anderen großziehen zu lassen. Erst als Plastrothmann sich weigerte, sie nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern in die geerbte Villa einziehen zu lassen, erlitt ihr Selbstwertgefühl einen recht heftigen Schlag.
Diese wunderschöne Villa, vollgestopft mit Antiquitäten, Kunstgegenständen und Gemälden, die heute noch als vermisst galten. Scheinbar verloren gegangen in den Wirren des zweiten Weltkrieges. Entartete Kunst. Heinrich hatte sie damals eigenhändig aus dem Verkehr gezogen, und es gefiel ihm überhaupt nicht, dass sein Enkel ebenso unbekümmert damit umging wie sein verstorbener Sohn.
„Wie findest du meine neue Tönung?“, sprach seine Mutter ihn plötzlich direkt an. Er bemerkte es an ihrer Körpersprache, wenn sie von ihm eine Antwort erwartete.
„Ein wenig zu rot“, antwortete er unverblümt. „In deinem Alter!“
Für einen kurzen Moment war seine Mutter sprachlos. Bis auf die Geschichte mit dem verweigerten Einzug in die Villa, war sie von ihrem Sohn ausschließlich zustimmende Bemerkungen gewohnt.
„Was ist mit dir los? Hast du Sorgen?“, fragte sie mit dem sicheren Instinkt einer lebenserfahrenen Frau.
„Nein, entschuldige“, wiegelte Plastrothmann ab. „Nur ein schwieriger Fall.“
Damit war für seine Mutter die Sache erledigt. Auch Plastrothmanns Anwaltstätigkeit gehörte zu den Tabuthemen ihrer Beziehung.
Zufrieden lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und gab Bericht über die Ereignisse der vergangenen Woche. Es war immer das Gleiche. Die gestiegenen Preise, die vermeintlichen Unverschämtheiten der Hauswartsfrau, der neuste Tratsch aus dem Friseursalon, die Ungezogenheiten der Nachbarskinder und Ähnliches. Plastrothmann lehnte sich ebenfalls zurück, doch alles andere als entspannt. Seine Nervosität beunruhigte ihn. Er war solche Gefühle nicht gewohnt.
Dieses Unbehagen, das ihn befallen hatte nach Heinrichs Telefonanruf in der Kanzlei. Er war sofort zu ihm gefahren und das, obwohl sie sowieso jeden Freitagabend zusammen speisten. Heinrich hatte ihn, auch das entgegen sonstiger Gepflogenheiten, Höchstselbst an der Wohnungstür empfangen. Er wirkte äußert besorgt, ja fast aufgeregt. Das verstärkte Plastrothmanns Unbehagen noch. Bis heute begriff er nicht, dass dieses ihm völlig unbekannte Gefühl Angst war. Einfach nur diffuse Angst.
Heinrichs Haushälterin wirtschaftete bei seiner Ankunft unüberhörbar in der Küche. Der Tisch im Esszimmer war bereits gedeckt gewesen für die übliche freitägliche Abendmahlzeit. Auch dies ein unerschütterliches Ritual in seinem Leben. Das Essen mit Heinrich, seinem Mentor und Protektor.
Heinrichs Haushälterin Henriette war eine ausgezeichnete Köchin. Selbst ihr hohes Alter konnte ihrem Geschmackssinn offensichtlich nichts anhaben. Zwar fanden sich in letzter Zeit ab und an Stückchen von Eierschale in ihrem göttlichen Käsekuchen oder auch mal ein Haar im Hirschragout, doch beide Männer fanden sich damit in stillschweigendem Einvernehmen ab.
Heinrich hatte ihn an diesem Abend am Esszimmer vorbei in die Bibliothek geleitet. Dort, wo sonst normalerweise der gemeinsame Abend endete. Nachdem sie in den knarzenden Ledersesseln Platz genommen hatten, war Heinrich ohne irgendwelche Umschweife zur Sache gekommen. Erst verstand Plastrothmann seine Aufregung nicht so recht: Ein V-Mann vom Verfassungsschutz in der Partei. Das der BND seine Leute bei ihnen einschleuste, war doch nun wirklich nichts Neues. Es dauerte eine ziemliche Weile, bis er es begriff: Heinrichs Sorge galt allein ihm. Offensichtlich war dieser Mann durch seine eigene Empfehlung so schnell aufgenommen worden. Das war Nahrung für das Misstrauen, das gewisse Leute in der Partei ihm entgegengebrachten.
„Ich habe dir so oft gesagt, es reicht nicht nur Sympathisant zu sein, ein unentschlossener Mitläufer. Das gibt den Gerüchten heftigste Nahrung. Misstrauen in den eigenen Reihen können wir jetzt wirklich nicht gebrauchen! Geschlossenheit ist die unabdingbare Voraussetzung für unseren Plan! Du musst endlich Farbe bekennen, sonst befürchte ich das Schlimmste“, hatte Heinrich an dem Abend wiederholt erklärt. Obwohl er Plastrothmann nicht von seinem Standpunkt überzeugen konnte, die Ängste blieben. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie als solche erkennen würde.
„Du bist schon wieder ganz woanders mit deinen Gedanken!“ insistierte seine Mutter zum zweiten Mal an diesem Tag. Plastrothmann schaute auf seine Armbanduhr, obwohl er direkt neben der unüberhörbaren Standuhr saß. Es waren gerade knappe zwei Stunden vergangen seit seinem Eintreffen. Trotzdem erhob er sich, verabschiedete sich abrupt von seiner erstaunten Mutter mit dem Satz: „Habe noch einen unaufschiebbaren Termin.“
Mit schnellen Schritten verließ er die Wohnung. Die Eingangstür knallte unüberhörbar hinter ihm zu. Zurück blieb eine Frau, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben fragte, ob sie sich um ihr Kind Sorgen machen müsse.
Plastrothmann polterte die Treppe hinunter, stürmte den Gehweg entlang, schloss die Autotür auf und ließ sich schwer atmend hinter das Steuer sinken. Nachdem er den Zündschlüssel eingeschoben hatte, fragte er sich, wohin er jetzt eigentlich wollte. Resigniert fuhr er mit den Händen über seinen frisch rasierten Schädel. Danach schaute er Hilfe suchend auf seine Armbanduhr. Sie lieferte nicht die Spur einer Inspiration. Immer, ausnahmslos immer, befand er sich am Samstag um diese Uhrzeit bei seiner Mutter. Es dauerte einige Minuten bis er wieder klar denken konnte, Heinrichs Warnungen in die Tiefen seines Gehirns verbannte. Der Selbsterhaltungstrieb meldete sich erneut mit Unmut, fast Wut. Und plötzlich wusste er, wohin er wollte!