Читать книгу Alte Männer - böser Traum - Linda Große - Страница 17
Kapitel 14
ОглавлениеTrotz der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit erschien die Stadt ihr fremd. Alles war irgendwie anders. Die Straßen enger, die Häuser kleiner. Und der Geruch. Nie zuvor war ihr aufgefallen, dass die Stadt roch. Und alles schien, trotz des schönen Wetters, mit einer grauen Lasur überzogen. Wenigstens fand sie sofort einen Parkplatz und das gar nicht einmal sehr weit von ihrer Haustür entfernt. Sie stellte ihren Koffer auf den Gehsteig, holte dann ihre Reisetasche vom Rücksitz, klemmte sich die Handtasche unter den Arm und schloss das Auto ab. Auf der Straße war es vollkommen ruhig, keine Menschenseele zu sehen. Ganz Berlin schien an der Havel zu sein. Oder an einem der vielen Seen im Umland.
In den vierzehn Tagen hatte sie auch völlig vergessen, wie schwer die Haustür war. Sie stemmte sich mit ihrer ganzen Körperkraft dagegen, weil sie die Taschen nicht absetzen wollte. Am Briefkasten blieb ihr dann doch nichts anderes übrig. Sie suchte vergeblich nach ihrem Briefkastenschlüssel im Bund, bis ihr endlich einfiel, dass sie nur einen einzigen besaß und den hatte sie Frau Lembke überlassen. Leise seufzend steckte sie die Schlüssel wieder ein und griff nach dem Koffer. Dabei sah sie das neue Namenschild auf dem Briefkasten unter dem ihren: Nikki von Falkenstein. Eine Dame von Adel in unserem Haus, dachte sie. Hat es doch nicht mit Marlies` Maler geklappt.
Selbst ihre Wohnung wirkte verändert. Zum ersten Mal sah sie sie mit den Augen eines Besuchers. Sie ließ den Koffer und die Reisetasche in der Diele stehen. In der Küche roch es nach trockenen Kräutern. Auf dem Küchentisch war ihre spärliche Post von Frau Lembke akkurat sortiert worden. Eine Ansichtskarte, eine Handvoll Briefe, nur Rechnungen und der größte Stapel mit den Reklamesendungen. Neugierig nahm sie die Postkarte zur Hand. Sie konnte sich nicht vorstellen, wer ihr geschrieben haben könnte. Die Karte zeigte irgendeinen, ihr total unbekannten Pariser Brunnen. Überrascht und nun erwartungsvoll drehte sie die Karte um. Viel stand nicht drauf, die Hälfte wurde von einer schwungvollen Unterschrift eingenommen. Zum Glück einer gut lesbaren: Antoine.
Antoine! freute sich Clea. Das ist aber eine nette Überraschung. Postwendend fiel die Erschöpfung der langen Autofahrt von ihr ab. Er würde also wirklich nach Berlin kommen und sie besuchen. Bis dahin musste ihr noch einiges einfallen, das sie ihm zeigen konnte. Jedenfalls liebte er urige Kneipen. Die gab es in Berlin mehr als genug und für jeden noch so ausgefallenen Geschmack. Mitten in ihre Überlegungen hinein schrillte das Telefon. Das kann nur Marlies sein, dachte sie.
„Ich hatte gehofft, dass du schon da bist“, freute sich Marlies. „Und? Alles paletti?“
„Super“, lachte Clea, „bin wie neugeboren. Es war fantastisch!“
„Und, hast du schon ausgepackt?“
„Nein, bin gerade erst eingeflogen. Wollte gleich loslegen. Will noch eine Waschmaschine stopfen, bevor ich in die Wanne steige.“
„Na, da hab ich ja Glück. Was hältst du davon, wenn du statt in die Wanne in unseren Swimmingpool steigst? Wir wollen nachher grillen. Hunger hast du doch garantiert?“
„Sehr verlockend. Die Wäsche kann ich auch noch morgen machen.“
„Na, fein“, sagte Marlies, „allerdings habe ich noch eine Bitte, könntest du Nikolas mitbringen? Seine Wohnung ist noch eine totale Baustelle, kochen kann er auch noch nicht.“
„Nikolas?“, fragte Clea. „Wer ist das denn?“
„Ach so, weißt du noch gar nicht. Der junge Maler. Er ist vorgestern über dir eingezogen.“
Clea brauchte einen Moment. Nikki - Nikolas. Also doch kein adeliges Fräulein, sondern ein adliger Künstler.
„Wann kannst du losfahren?“, fragte Marlies in ihre Überlegungen hinein. „Dann sag` ich ihm Bescheid, wann er bei dir klingeln soll.“
„So etwa eine halbe Stunde, ist das okay?“
„Ja gut, dann bis gleich. Und vergiss deinen Bikini nicht!“
Nikolas klingelte dreimal kurz hintereinander, so als wären sie alte Bekannte. Ein ganz forscher Typ, dachte Clea, das kann ja heiter werden. Sie öffnete die Tür und hielt für einen Moment die Luft an. Vor ihrer Tür stand ein verdammt gut aussehender Typ um die dreißig. Ich glaube, ich leide unter Verfolgungswahn, dachte sie. In ihrem ganzen bisherigen Leben hatten noch nie so viele attraktive Männer ihren Weg gekreuzt, wie in den letzten zwei Wochen.
„Hallo, ich bin Nikki, dein neuer Nachbar“, stellte er sich vor und streckte ihr die Hand entgegen.
„Clea“, erwiderte sie. „Auf gute Nachbarschaft! Moment, ich muss nur noch meinen Autoschlüssel holen. Wenn du kurz reinkommen willst?“
Er lief ganz unbefangen hinter ihr her, während sie nach dem Autoschlüssel suchte. Am Ende fand er sich in ihrer Hosentasche. Jedenfalls hat er auf diese Weise schon mal meine Wohnung kennen gelernt. Ich hoffe, das hat eine abschreckende Wirkung, dachte sie. Nach Rüdiger habe ich endgültig genug von gut aussehenden Männern. Während der kurzen Autofahrt zu Wittkes Schrebergarten erzählte er ungefragt einiges über sich selbst. So erfuhr sie, dass er zum ersten Mal so viel Platz zum Arbeiten habe. Er schien richtig glücklich zu sein über die große Wohnung mit den hohen Decken.
„Machen dir denn die vier Treppen nichts aus?“, wollte Clea wissen. „Da hast du doch ganz schön zu schleppen mit deinen Bildern?“
„Da spare ich halt das Geld fürs Fitness Studio!“
„Und, was malst du so für Bilder?“, wollte Clea nun wissen.
„Ach, alles Mögliche“, antwortete er mit einer vagen Handbewegung. Komm doch einfach mal gucken, wenn ich meine Sachen ausgepackt habe. Zurzeit bin ich noch beim Renovieren. Aber so in drei, vier Tagen müsste zumindest das Atelier fertig sein.“
„Gerne, allerdings habe ich von moderner Kunst nicht viel Ahnung. Seit meiner Schulzeit habe ich mich nie wieder dafür interessiert.“
„Macht nichts“, erklärte Nikki, „solche Besucher sind für mich die anregendsten. Sie reagieren in der Regel völlig unvoreingenommen auf meine Malerei. Und wenn sie mir dann erzählen, wie die Bilder auf sie wirken oder was sie darin sehen, ist das für mich wiederum sehr inspirierend.“
„Na, wenn das so ist, komme ich gerne mal einen Abend vorbei, wenn ich den Laden zugemacht habe“, antwortete Clea spontan. Kaum war der Satz heraus, tat es ihr schon leid, diese Zusage gemacht zu haben.
„Dir gehört der Blumenladen, nicht wahr? Marlies hat es mir erzählt.“
„Ja, ja, Mutter Marlies. Die Schutzheilige aller Singles. Hat sie dich auch unter ihre Fittiche genommen?“
Nikki musste lachen über Cleas Bemerkung.
„Sie ist wirklich sehr fürsorglich. Hat mir nicht nur die Wohnung besorgt, sondern auch noch alles Mögliche an Geschirr und Hausrat. Und morgen Abend will sie mit mir zu irgendwelchen Leuten, einen Herd holen.“
„Das ist typisch Marlies. Sie hat uns auch nur für heute Abend eingeladen, weil sie befürchtet, wir könnten beide verhungern!“
„Also in meinem Fall wäre das wohl wirklich passiert. Hab wirklich allen Grund, ihr dankbar zu sein! Und du?“
„Nach zwei Wochen Urlaub mit hervorragender französischer Küche könnte mir eine kleine Hungerkur wahrlich nicht schaden!“
„Ach, was“, stellte Nikki nach einem kurzen Seitenblick auf Clea fest. „Mit einer Rubensfigur kannst du wirklich nicht dienen. Sonst hätte ich dich schon als Modell engagiert!“
„Sag bloß, du stehst auf fette Frauen?“, staunte Clea.
„Ich bin Maler!“
Mit seiner Antwort wusste sie nicht so recht etwas anzufangen, also sagte sie nichts dazu. Den Rest der Strecke legten sie fast schweigend zurück, nur ab und an machte Clea ihn auf einige Besonderheiten aufmerksam.
„Und da ist die Bushaltestelle. Falls du mal allein zum Garten willst.“
„Sind wir schon da?“
„Ja. Da vorn, am Ende der Brücke, ist der Eingang zu den Gärten.“
In Marlies‘ Swimmingpool dümpelte eine kleine, total gelangweilte Blondine mit hängenden Mundwinkeln. Clea schätzte sie auf allerhöchstens achtzehn Jahre. Das Mädchen zeigte keinerlei Regung, als Clea den Garten betrat. Dadurch bemerkte sie erst, dass Nikki hinter ihr zurückgeblieben war. Sein Künstlerauge schien in einem der Gärten irgendeine fesselnde Eigentümlichkeit entdeckt zu haben. Aber Marlies kam freudestrahlend auf sie zugelaufen und begrüßte sie überschwänglich. Plötzlich entstieg die kleine Blonde den Fluten des Schwimmbeckens mit eingezogenem Bauch und herausgestrecktem Busen. Selbst ihre Mundwinkel hoben sich.
Aha, dachte Clea. Nikki ist eingetrudelt. Marlies Mutterinstinkt hält wohl Frischfleisch für den Künstler nötig. Und so war es auch. Nachdem Marlies Wittke zu Cleas Verblüffung den jungen Maler mit Küsschen rechts und Küsschen links begrüßt hatte, wandte sie sich der platschnassen Venus zu und stellte sie Nikki mit den Worten vor:
„Das ist Carmen. Sie ist sehr an Kunst interessiert.“
Na, dann, dachte Clea, der Abend kann ja lustig werden.
Auf der Veranda saß ein Ehepaar, das Clea flüchtig kannte. Herr Wittke stand am qualmenden Grill, eine Bierflasche in der Hand. Sie begrüßte ihn zuerst und er war wortkarg wie gewohnt. Selbst als Clea sich auch bei ihm für den wunderbaren Urlaubstipp bedankte, kam nicht mehr als ein undefinierbares Geräusch zwischen seinen Zähnen hervor. Einmal mehr fragte sich Clea, wie ihre Freundin es mit diesem Mann aushielt. Sie trottete ergeben zur Veranda, begrüßte das Paar, dessen Namen sie sofort wieder vergaß und setzte sich. Die beiden outeten sich postwendend als stolze Eltern der kunstinteressierten Bikinischönen.
„Das Kind ist ja so begabt. Sie will unbedingt Kunst studieren an der Universität der Künste. Marlies meint, der Herr von Falkenstein kann ihr bestimmt sehr nützlich sein, um die Aufnahmeprüfung zu bestehen.“
Ach, dachte Clea, da würde vielleicht ein Swimmingpool völlig ausreichen. Bei der Oberweite.
Auch wenn Herr Wittke keinen Sommerabend ausließ, seine Grillkünste zu verfeinern, geriet bei ihm doch jedes Fleischstück zur Schuhsohle. Mit leiser Sehnsucht dachte Clea an Moniques Kochkünste. Pflichtschuldigst nahm sie ein totgegrilltes, fast vollständig dehydriertes Schnitzel entgegen und spülte jeden Bissen mit reichlich Cola hinunter. Zum Glück waren Marlies Salate dafür wie immer frisch aus dem Garten und super lecker. Da alle mit Essen beschäftigt waren, nutzte Carmen die Gelegenheit, Nikolas von ihren Qualitäten als kommender Stern am Kunsthimmel zu überzeugen. Der schien aufmerksam zuzuhören, doch als er bemerkte, dass Clea ihn beobachtete, zwinkerte er ihr zu und zog gleichzeitig unmerklich die Schultern hoch. Kleine, frühreife Blondinen schienen wohl nicht sein Fall zu sein.
Plötzlich fand Clea ihn richtig sympathisch. Er schien ein sehr unkomplizierter Mensch zu sein. Jedenfalls waren auch Carmens Eltern unübersehbar von ihm eingenommen. Der einzige, bei dem sein Charme keinerlei Wirkung zeigte, war Herr Wittke. Als alle satt waren, verzog er sich mit seiner Bierflasche, die mit seiner linken Hand verwachsen zu sein schien, in die Laube und setzte sich vor den Fernseher. Auch das machte Marlies anscheinend nicht das Geringste aus. Sie widmete sich nun ganz entspannt ihren Gästen.
„Nun erzähle doch mal ein bisschen über Veules les Roses!“, forderte sie Clea auf.
Das fiel Clea nicht schwer. Sie kam sogar richtig ins Schwärmen.
„Kennst du auch Moniques Mann Henry?“, fragte sie Marlies. „Und die beiden Kinder?“
Marlies verneinte das. Sie und ihr Mann waren nur ein paar Tage dort geblieben.
„Betty und Jean-Paul hatten bei ihrem Besuch einen Freund dabei, einen jungen Schauspielschüler aus Paris. Antoine, so heißt er, will zur Love Parade nach Berlin kommen. Er war bereits zweimal dabei. Als ich heute nach Hause kam, lag schon eine Postkarte von ihm im Briefkasten. Dabei habe ich ihm nur meine Telefonnummer gegeben. Jedenfalls will er mich besuchen kommen. Ich freu mich schon drauf. Er ist ein witziger Kerl, hält Kinski für den größten Mimen aller Zeiten!“
„Warst du schon mal bei der Love Parade dabei?“, fragte Carmen jetzt Clea direkt, obwohl sie sie bisher vollkommen ignoriert hatte.
„Nein“, antwortete Clea ihr überrascht, „noch nie. Und du?“
„Ja, bin sogar schon auf einem der Wagen mitgefahren. Wenn du willst, können wir uns verabreden und zusammen hingehen. Und du kannst doch auch mitkommen. Ein Künstler muss doch die Love Parade miterlebt haben“, wandte sie sich an Nikolas. Ach, daher weht der Wind, dachte Clea amüsiert. Ein Künstler und ein Schauspielschüler, da nimmt man auch so eine alte, langweilige Tante wie mich in Kauf.
„Und wie geht es Claudine?“, nahm Marlies ihren Faden wieder auf.
„Gut, soweit ich das beurteilen kann. Sie und Simon haben Abend für Abend ihre Kriegserlebnisse ausgetauscht. War aber ganz interessant für mich.“
„Dein Vater war Soldat?“, fragte Nikolas.
„Ja, er hoffte, dadurch seinen Vater vorm KZ zu bewahren. Hat leider nicht lange funktioniert.“
„Ich hasse die Nazis!“, sagte Nikolas.
Plötzlich war es ganz still. Ungemütlich still, wie Clea fand. Doch Nikolas schien mit seinen Gedanken ganz weit weg zu sein. Jedenfalls machte er keinerlei Anstalten, irgendetwas hinzuzufügen. Marlies rettete die Situation, indem sie anfing das Geschirr abzuräumen. Clea warf Nikki einen fragenden Blick zu. Das Geklapper der Teller hatte ihn in die Gegenwart zurückgeholt. Er nickte ihr zu. So half Clea noch beim Abräumen. Danach verabschiedeten sie sich und gingen durch die verlassen wirkende Kolonie zu Cleas Wagen.
„Kann es sein, dass Marlies Mütterlichkeit manchmal etwas erdrückend wird?“, fragte er unvermittelt.
„Was hat dich denn heute erdrückt?“, wollte Clea wissen.
„Sag bloß, du weißt das nicht?“
„Carmen?“
„Ohne sie wäre es ein total gemütlicher Abend gewesen!“
„Das tut mir leid für dich!“
„Na ja, so schlimm war’s auch wieder nicht.“
„Wenn Marlies dich fragt, sag es ihr.“
„Aber das wäre doch sehr unhöflich.“
„Nein wirklich nicht. Sie ist noch eine Berlinerin vom alten Schrot und Korn, wie man so sagt. Du kommst am besten mit ihr klar, wenn du vollkommen offen und ehrlich zu ihr bist. Alles andere würde sie nicht so gut verkraften.“
„Okay, aber das wird mir schwer fallen.“
„Tja, dann musst du vielleicht mal wieder einen Abend mit Carmen in Kauf nehmen!“
„Also, Diplomatie scheint wirklich keine Stärke von euch Berlinern zu sein!“, stellte Nikolas amüsiert fest. „Es war ein sehr aufschlussreicher Abend!“
„Ich bin froh, wenn ich endlich im Bett liege. Kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich gestern früh noch am Meer war. Jedenfalls ein ziemlich langer und ereignisreicher Tag! Hoffentlich müssen wir nicht so lange nach einem Parkplatz suchen!“
Leider mussten sie doch. Es war einfach schon zu spät. Die meisten Bewohner der Straße lagen anscheinend schon brav im Bett. Am nächsten Tag begann die neue Arbeitswoche.