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In diesem Augenblick holte Mooney Bier im »Chelsea Potter«, bekannt als Potters, einer von einem Dutzend Kneipen zwischen dem Sloane Square und World’s End. Das Attraktive an »Potters« war, daß Frank dort regelmäßig verkehrte. An diesem Abend allerdings sah es nicht so aus, als würde er dieser Gewohnheit nachkommen. Artie und Steve waren alles, was sich ihr bot.

»Auch gut«, seufzte sie und beschloß, das Beste daraus zu machen. »Und was machen Frank und sein Buch dieser Tage? Wo ist er überhaupt?«

»Frank?« wiederholte Steve. »Ich glaube, der ist bei Rossetti. Stimmt’s, Artie?«

»Rossetti?« sagte Artie verblüfft. »Ja natürlich, Rossetti. Dante Gabriel. Großes R, großes D, großes G. Genau da ist er.«

»Ist ja prima«, murmelte Mooney.

Da war etwas im Busch. Soviel war sicher. Fragen nach Frank wurden abgeschmettert. Sie machte den nächsten Versuch.

»Zeit, daß ich ein paar Zeilen über ihn bringe. Hab’s ihm versprochen. Ich muß mal sehen, ob ich das Buch mit dem Film in Verbindung bringen kann. Dann kriegt ihr alle ein bißchen Publicity.«

»Schätzchen, das ist kein Film über die Präraffaeliten«, klärte Artie sie auf.

Er erinnerte sie an eine schwarze Katze. Breites Grinsen mitten im Gesicht unter seiner Afropracht. Sie lächelte ebenfalls.

»Wie ist der Nacht-Dreh übrigens gelaufen?«

»Gut. Du hättest kommen sollen. Ich hatte es dir ja gesagt.«

»Was ist mit Frank? Interessiert er sich überhaupt für die praktische Seite?« wollte sie mit gespieltem Ernst wissen.

»Natürlich. Muß er«, erwiderte Artie. »Da gibt’s tausend Dinge, die zu beachten sind. Kostüme, Stilfragen, die ganze zeitgemäße Ausstattung.«

»Er war gestern dabei, oder?«

Mooney sah, wie sich Steves Fuß in dem Augenblick bewegte, als Artie den Mund aufmachte. Artie ließ sich nichts anmerken. »Bei uns herrscht immer Chaos«, sagte er. »Ich muß meine Augen überall haben, damit nichts vergessen wird. Wir zahlen praktisch für jede Minute, die wir die Ausrüstung benutzen. Du weißt ja, wie wir arbeiten.«

Mooney wußte tatsächlich, wie sie arbeiteten. Sie hatte ein paar kleine Artikel über den Film geschrieben. Anfangs hatte sie die ganze Sache für einen Spaß gehalten. Mittlerweile wußte sie, daß es kein Spaß war. Artie, Steve und Frank waren besessen von diesem Film. Sie steckten alles, was sie hatten oder sich borgen konnten in das Projekt. Ihre faden Teilzeitjobs hatten sie nur angenommen, um weitermachen zu können.

Artie redete weiter: über Flimmereffekte mit der nichtautomatischen Kamera, über schmachtende Blicke aus stark geschminkten Augen, über geckenhafte Streifenpolizisten mit wirbelnden Schlagstöcken, Elemente des Films aus den 20er Jahren, mit deren Hilfe aus einer Gegenwartssituation ein historischer Slapstick werden sollte. Mooney kannte das alles schon und konzentrierte sich auf Steve.

Der kleine, zierliche Mann wirkte entspannt, und ließ sie dennoch nicht einen Moment aus den Augen. Der Film war zum großen Teil seine Idee. Schon in der Filmhochschule hatte er davon geträumt. Artie, Steve und Frank, alle drei waren an der Filmhochschule gewesen, wie zuvor an der Kunstakademie.

Mooney überlegte, wie sie das Gespräch wieder auf Frank bringen konnte. Sie wartete den Augenblick ab, in dem Artie Luft holte, und ergriff die Initiative.

»Wie geht’s eigentlich Abo?« erkundigte sie sich. »Sprudelt eure Geldquelle noch?«

Der Fuß zuckte erneut. Und diesmal geriet Artie ins Stottern.

»Also, ich dddenke schon.«

»Natürlich«, warf Steve ein. »Abo ist kein blöder Araber.«

»Was macht er zur Zeit?«

»Er vögelt sich einen ab.«

»Ich meinte, abgesehen davon.«

Mooney wußte, daß Abo »abgesehen davon« mit Frank Englisch lernte.

»Hab’ ihn in letzter Zeit kaum gesehen«, bemerkte Steve.

»Hat er die Sache mit diesem Cousin verkraftet?«

»Leider.«

»Das war ein Kerl!«

»Kann man sagen.« Steve trank einen Schluck Bier. »Was dieser Araber braucht, sind ein paar Cousins mehr.«

»Dachte, er hätte schon zweitausend von der Sorte«, sagte Artie und fügte neugierig hinzu: »Möchte wissen, warum die alle Feisal heißen müssen.«

»Heißen sie nicht«, widersprach Mooney. »Ein paar heißen Abo.«

»Stimmt«, gab Artie zu. »Und Mohammed. Abo heißt auch noch Mohammed.«

»Tut er nicht.« Mooney wußte, wovon sie redete. Sie hatte nach Abos Gedenk-Party für seinen jungen Landsmann Feisal einen Bericht darüber geschrieben. Feisal war wegen eines Attentats auf seinen Onkel Feisal, den König von Saudi-Arabien, einen Kopf kürzer gemacht worden. »Er nennt sich ›ibn‹ Mohammed – Abdul Azbig ›ibn‹ Mohammed. Das bedeutet, daß Mohammed der Vater ist.«

»Mohammed ist der Vater aller Araber«, erklärte Steve. »Er war der Stammesbegründer.«

»War er nicht«, verbesserte Mooney ihn erneut. »Das war Abraham. Er war der Vater aller Semiten ... Juden und Araber.«

»Abraham sein katholisch. Ibrahim«, beharrte Steve oberlehrerhaft und imitierte Abos Akzent.

»Hallo«, sagte Abo höchstpersönlich. Er war in diesem Augenblick mit wehender Lederjacke von der King’s Road hereingeschwebt. Mooney erinnerte sich, kurz zuvor das Motorengeräusch eines Ferrari gehört zu haben.

»Hallo, Abo. Wir haben gerade über deine katholische Familie gesprochen«, begrüßte sie ihn.

»Katholisch?«

»Trink erst mal ein Bier«, lud Mooney ihn ein.

»Whisky. Whisky?« Abo zückte die Brieftasche.

»Nur zu. Verdirb uns.«

Abo gab Whisky aus und sah sich im Lokal um. Es war nicht viel los; Dienstagabend eben. Die Arbeiter, die hier verkehrten, hatten freitags Zahltag. Abo, zwanzig Jahre alt und seinem verblichenen Monarchen Feisal verblüffend ähnlich, hatte katholische Vorlieben.

»Wollte dich schon anrufen, Abo«, wandte Mooney sich freundlich an den Araber. Zwischen den zahllosen Telefonaten des Tages hatte sie mindestens ein dutzendmal versucht, Abo zu erreichen. »Wie geht’s denn so?«

»Sehr gut.«

»Was macht der Englischunterricht?«

»Gut«, antwortete Abo.

»Was ist mit Frank?«

»Frank mein sehr guter Freund.«

»Bringt er dir viel Englisch bei?«

»Viel. Oh ja!« Abo rollte demonstrativ mit den Augen.

»Hat er dich heute hart rangenommen?«

»Nicht heute. Frank heute nicht da.«

»Wo ist er?«

»Wir schnüren uns’re Schuh’ und machen uns leise davon«, sagte Steve plötzlich. »Bis dann, Freunde.«

»Ihr wollt schon los?«

»Artie hat einen Job«, entgegnete Steve. »Und ich bringe ihn hin. Über ein paar Zeilen aus deiner Feder wären wir froh, Mooney. Wirklich. Wir müssen uns bald wieder mal sehen.«

»Klar doch«, erwiderte Mooney und sah den beiden nach.

Aus Abo war nichts herauszuholen. Das hatte sie sofort gespürt. Er wußte nichts. Anderenfalls hätten die beiden ihn ihr nicht allein überlassen.

Für Abo war Mooney eine der häßlichsten Frauen, die er je gesehen hatte. Trotzdem spendierte er ihr noch einen Whisky. Bei ihm mußten Frauen blond sein und so groß wie er, also ungefähr einen Meter siebzig, und sie sollten Gesichter haben wie Puppen oder Gazellen. Diese Engländerin erinnerte ihn an ein Kamel.

Abo hing seinen Gedanken nach, Mooney den ihren.

Mooney dachte an Artie.

Er war ein merkwürdiger Typ.

Das waren sie eigentlich alle, aber er war der verrückteste. Sicher gab es nicht viele junge Schwarze aus Liverpool, die eine eigene Nachdichtung von Rimbaud-Gedichten veröffentlicht hatten. Mooney wußte, daß er eine Zeitlang zur See gefahren war, drei Jahre in Paris und zwei in Los Angeles gelebt hatte; sie wußte von seinem Stipendium für die Kunstakademie. Er war der Produzent des Films. In dieser Eigenschaft studierte er in der Handbibliothek sämtliche Verbrechen, bei deren Aufklärung sich die Polizei als besonders unfähig erwiesen hatte; einerseits um die grausigsten Details nachstellen zu können, und um andererseits Verleumdungsklagen vorzubeugen.

Trotz dieser Informationsfülle hatte sie das Gefühl, nicht viel zu wissen.

Über Frank wußte sie wesentlich mehr, wenn auch nur, weil der labile Frank einem alles erzählte und selbst vor den intimsten Details nicht Halt machte. Frank hatte an verschiedenen Kunstakademien gelehrt, bis er beschloß, ein Buch über die Präraffaeliten zu schreiben und außer der Dozentur an der Kunsthochschule von Chelsea sämtliche anderen Jobs aufzugeben.

Um ein Auskommen zu haben und seinen Anteil an den Filmkosten bestreiten zu können, hatte er einen Job in einer Sprachenschule angenommen, weil er dort einen flexiblen Stundenplan hatte. An dieser Sprachenschule hatte er Abo kennengelernt, mittlerweile der Hauptsponsor des Films.

So war das mit Frank.

Abo war eigentlich für eine der renommierteren Stätten der Gelehrsamkeit bestimmt, hatte aber seine Probleme mit der englischen Sprache. Märchenhaft reich und fürstlich untergebracht, war er indessen nicht abgeneigt, einer ausgestreckten Hand Almosen zukommen zu lassen, die ihm eine ständige Auswahl an männlichen und weiblichen Spielgefährten garantierte.

Mooney fragte sich, was da wohl schiefgelaufen sein mochte. Denn daß etwas schiefgelaufen war, spürte sie. Trotzdem machte Frank ihr mehr Kopfzerbrechen. Frank tauchte normalerweise immer irgendwo auf. Mittlerweile jedoch war er seit zwei Tagen unauffindbar.

Da war etwas im Busch.

Frank war nicht einfach abartig, war mehr als nur ein Junkie. Ihn als degeneriert zu bezeichnen, konnte lediglich als Eröffnungsbemerkung in einem Diskurs über seine ganze, faszinierend schreckliche Persönlichkeit gelten.

Mooney merkte plötzlich, daß Abo sie fragte, ob sie mehr Whisky wolle. Sie lehnte dankend ab, fuhr nach Hause und telefonierte weiter.

Mooney wohnte nicht weit entfernt in der King’s Road.

Das Postamt lag genau gegenüber.

Artie war klar, daß er spät dran war. Trotzdem machte er keine Anstalten, sich zu beeilen, nachdem sie das Lokal verlassen hatten. Im Gegenteil. Steve verheimlichte ihm etwas.

Jedesmal, wenn von Frank die Rede gewesen war, hatte Steve das abgeblockt. Mit Frank war also etwas, na gut. Artie hatte Steves Spiel vorbehaltlos mitgespielt. Steve trieb es noch immer.

Artie spürte einen seiner Wutausbrüche nahen; seine Finger kribbelten; er verspürte Lust, seine Fäuste in Gesichter zu schlagen, Gegenstände zu zertrümmern.

Trotzdem redete er unentwegt weiter. Noch hatte Steve die Chance, ihm reinen Wein einzuschenken. Allerdings mußte zuerst diese andere Sache geklärt werden.

Es war eine lausige Situation.

Abo war im Laden aufgetaucht, um Steve die Rechnungen zurückzugeben. Er wollte nicht länger zahlen. Damit war ihnen erst einmal der Hahn abgedreht. Sie hatten noch knapp hundert Meter Film auf der Rolle und keine Möglichkeit mehr, Ausrüstung oder Kostüme für die nächsten Szenen zu mieten. Nicht einmal das Resultat der letzten Nachtaufnahmen konnten sie sich ansehen. Das Labor gab den entwickelten Film nur gegen Barzahlung heraus.

»Wie hoch ist der Mindestbetrag?« fragte Steve.

»Zweihundert. Im Verhältnis zu unseren Schulden ein Pappenstiel. Sie waren sehr kulant.«

»Wir müssen das Geld auftreiben«, erklärte Steve.

»Was ist mit Abo?«

»Keine Ahnung. Wir kriegen ihn schon rum. Aber dazu brauchen wir Zeit.«

»Kann Frank nicht mit ihm reden?« schlug Artie vor.

»Das wird er müssen.«

»Wo ist Frank?« sagte Artie in die Gesprächspause hinein.

»Weiß ich nicht«, entgegnete Steve.

Artie sagte einige Sekunden gar nichts.

»Warum ist er bei dir gewesen?« wollte er schließlich wissen.

»Er war völlig von der Rolle wegen diesem Mädchen. Habe ich dir doch schon gesagt.«

»Und was solltest du dabei?«

»Mann, Artie«, seufzte Steve. »Er war fix und fertig. Durchgedreht. Er brauchte jemand, der ihm das Händchen hielt. Ich hab’s ihm gehalten.«

»Er hat sie gebumst, stimmt’s?«

»Du weißt, daß Frank keine Mädchen bumst.«

»Er macht, was er will. Wo ist er jetzt?«

»Im Bett, vermutlich. Er ist fertig. Laß ihn.«

»Wenn er im Bett wäre, hätte Mary ihn erreicht.«

»Dann ist er eben woanders. Was willst du überhaupt, Artie?«

»Wissen, warum du ihn vor der Polizei versteckst«, hätte Artie am liebsten gebrüllt. Er ahnte, wo Frank sich aufhielt: in dem Häuschen auf dem Land, das sein Portraits malender Vater ihm hinterlassen hatte. Sie waren dort gewesen. Kein Telefon, kaum eine Straße weit und breit. Er versteckte sich, um nachzudenken. Artie wartete nur darauf, daß Steve ihm beiläufig steckte, daß er an diesem Wochenende beschäftigt sei. Wenn er das tat, würde Artie ihn am Kragen packen und in den Rinnstein schleudern.

Aber Steve sagte das nicht. Statt dessen fragte er: »Was wollte die Polizei?«

»Das weißt du doch«, entgegnete Artie. »Eine Liste aller Personen, die am Drehort waren.«

»Hast du sie ihnen gegeben?«

»Ja. Nach bestem Wissen und Gewissen. Frank war nicht dabei, oder?«

»Großer Gott!« sagte Steve.

Sie hatten mittlerweile das Restaurant erreicht.

»Okay«, sagte Artie. Damit ließ er Steve stehen und ging hinein.

Drinnen aßen alle Ente.

»Ah, le poète en personne«, begrüßte Serge ihn. »La muse est parmi nous.«

»Que pouvons-nous lui offrir?« fragte Marc. »Qu’est-ce qui va inspirer son âme et son palais aujourd’hui?«

Artie sagte ihnen, was sie ihn könnten.

Steve überquerte die Albert Bridge in einem Taxi. Auf dem anderen Flußufer ließ er sich absetzen und eilte zurück ins Studentenheim.

Eigentlich hatte er kein Anrecht auf diese Vorzugs-Unterkunft, aber er hatte es geschafft, als Student immatrikuliert zu bleiben.

Er schloß die Tür zu seiner Wohnung auf und knipste das Licht an. Die Tür zu Bad und Schlafzimmer hatte er verschlossen gelassen. Auch hier schloß er auf und machte Licht.

Frank wälzte sich im Bett hin und her.

»Steh jetzt auf, Frank«, sagte Steve.

Tod in Chelsea

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