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ОглавлениеDrei Wochen zuvor: Für Artie gab es nur noch Mord. Er war mit Blut beschäftigt, das bis an die Decke gespritzt war. Die tödliche Waffe mußte also eine bereits blutende Wunde getroffen haben.
»Herr im Himmel«, sagte er.
Trotzdem schrieb er alles auf. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
»Das Gasleitungsrohr sei völlig deformiert und blutbesudelt gewesen, hieß es heute vor dem Coroners Court in Westminster. Die Blutflecken im Zimmer, von derselben Blutgruppe wie die, die man in Lord Lucans Wagen gefunden hatte ...«
»Wären Sie vielleicht so freundlich, Ihre Kommentare für sich zu behalten?« schnappte der alte Herr neben ihm. »Verbindlichsten Dank.«
»Kein Problem«, antwortete Artie. Er hatte das atemlose Gebrabbel des Alten gar nicht verstanden, vorsorglich »Kein Problem« gesagt und einfach weitergeschrieben. Seine Zeit war knapp.
Artie saß in der Handbibliothek von Chelsea. »Die Blutflecken im Parterre gehörten ausnahmslos zur Blutgruppe A (Lady Lucan). Ausnahme: ein blutiges Haarbüschel im Badezimmer. In dem von Lord Lucan gemieteten und in Newhaven herrenlos aufgefundenen Ford Corsair stellte man Blutspuren sicher, die der Blutgruppe sowohl von Lady Lucan als auch von dem ermordeten Kindermädchen Sandra Rivett entsprachen.«
Artie war völlig high (bis zur Bewußtlosigkeit abgedröhnt; er hatte die ganze Nacht mit Speed durchgemacht); trotzdem registrierte er irgendwo in seiner Nähe ein heftiges Schnauben und sah auf. Vor ihm hatte sich der alte Mann aufgebaut und bewegte sprachlos vor Wut die Lippen. Sein altes Gesicht sah gesund aus, rosige Haut und silbergraues, dichtes Haar. Alles daran war in Bewegung. Artie hatte zwar schon von zuckenden Gesichtsmuskeln gehört, aber so etwas hatte er noch nicht gesehen. Dieses Gesicht war unbeschreiblich.
»Sie brabbeln! Sie brabbeln unaufhörlich vor sich hin«, keuchte der alte Mann schließlich. »Sie brabbeln, seit Sie hier sind. Hier muß Stille herrschen. Es ist unmöglich, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.«
Artie warf einen Blick auf die Arbeit des Alten. Es war die »Times« von 1875. Auf den kleingedruckten Spalten lag ein Vergrößerungsglas. Die Überschrift unter der Linse lautete: »Mr. Disraeli kauft Suez-Kanal-Aktien.«
»Lesen Sie mal das Zeug, das ich hier lesen muß, Kumpel«, riet Artie. »Dann fangen Sie auch an zu brabbeln.«
Arties Lektüre war heißer als die über Disraeli. Er hatte einen Stapel »Evening Standards« vom Juni 1975 vor sich.
»Werden Sie nicht frech. Ich bin nicht Ihr ›Kumpel‹!« schnaubte der alte Herr. Seine Gesichtsmuskeln zuckten so heftig, daß er kein Wort mehr herausbrachte. Er schob den Sammelband einen Platz weiter, setzte sich und rückte dann alles auf den übernächsten Platz. Bebend sah er über die beiden leeren Stühle zurück. Nicht die Spur eines rosigen Schimmers lag auf Arties Haut, geschweige denn ein silbriger auf seinem Haar. Alles an ihm war schwarz wie die Haare, die er im Afro-Look trug. »Unverschämtheit«, zischte der alte Mann empört in seine Richtung.
»War nicht so gemeint«, sagte Artie.
Er starrte aus dem Fenster ins Leere. Er hätte heute im Bett bleiben sollen. Aber es gab noch so viel zu erledigen, und er hatte es Steve versprochen.
Seine Augen brannten jetzt, und er zitterte am ganzen Körper. Daran waren die Amphetamine schuld. Seit Stunden hatte er sich mit Aufputschmitteln vollgepumpt. Zwar hielten die Tabletten das Gehirn in Funktion, ansonsten aber schienen sie etliche Kreisläufe zu unterbrechen.
Außerdem fand er Blut heute widerlich. Es faszinierte ihn, aber eigentlich war es ekelerregend. Wie konnte es überhaupt grün sein?
Er spielte kurz mit dem Gedanken, es doch lieber rot zu lassen. Unsinn! Es war unmöglich. Rot war in jeder Beziehung Schrott. Rot war gleichbedeutend mit Hitchcock und einer Tussi, die schon beim Gedanken an Blut durchdrehte; bedeutete psychedelischen Quatsch in sämtlichen Variationen. Rot war nicht drin.
Außerdem hatten sie alles auf das Grün abgestimmt; ein herrliches altes Grün, bizarr, sehr chemisch. Es sollte nächtliche Stimmung vermitteln. Ein paar Sequenzen hatten sie aus dem Mary-Pickford-Clip der Akademie geklaut. Sie wollten den Stil der Filmuntertitel der zwanziger Jahre kopieren, die sich auf Zelluloid aufblähen und zusammenziehen, abbröckeln, grell aufflimmern und wieder ins Trübe tauchen.
Sie hatten vereinbart, neben Schwarz und Weiß nur eine Farbe zu verwenden; Steve, Frank, alle waren einverstanden gewesen. Frank war der Art Direktor. Er behauptete, das wichtigste sei, die Finger von den beknackten psychedelischen Effekten zu lassen. Das fand Artie auch. Trotzdem war er der Meinung, Frank könne allmählich die zündende Idee für das Blut entwickeln. Wo zum Teufel steckte Frank überhaupt? Gestern war er nirgends aufgetaucht. Und vergangene Nacht war er nicht am Drehort gewesen. Heute hätte er eigentlich hier sein müssen.
Artie blätterte das restliche Material durch und packte zusammen. Er sah, daß das Mädchen hinter der Theke ihm zulächelte, und blieb bei ihr stehen.
»Fertig?« fragte sie.
»Fix und fertig.«
»Was ist morgen dran? Jack the Ripper?«
»Genau.« Er grinste so irre wie möglich. Morgen war bei ihm das Bett angesagt. Und zwar den ganzen Tag lang. »War Frank da?« wollte er wissen.
»Nicht, daß ich wüßte.«
Er sah an ihr vorbei zu der Abteilung mit den Sonderbänden hinauf, wo Frank normalerweise an seinem Manuskript schrieb.
»Da oben ist er jedenfalls nicht.«
Sie mochte Frank nicht. Artie wußte das.
»Arbeitet er heute vielleicht woanders?«
»Was für ein Tag ist heute, – Mittwoch?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wo ich bin.«
»O Mann! Du bist voll drauf, was?«
Sie sprach leicht lispelnd mit Cockney Akzent. Ihr Grübchen kam zum Vorschein, als sie lächelnd auf ihre Hände hinabsah. Artie begriff, daß sie etwas mit ihrem Haar gemacht hatte, und daß er es bemerken sollte. Sie hatte etwas von den Frauendarstellungen der Präraffaeliten. Frank behauptete, wenn sein Buch erst eingeschlagen hätte, würden alle so rumlaufen.
»Versuch’s doch mal gegenüber.«
»Mal sehen. Bis dann.«
Auf der Treppe hatte er das Gefühl, so neben sich zu stehen, daß er beschloß, die Suche nach Frank zu verschieben. Unten auf der Straße allerdings überlegte er es sich anders. Es regnete in Strömen, daß die Tropfen vom Pflaster hochspritzten. Der Glas- und Betonkasten der Kunstakademie auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah aus, als sei er gerade aus dampfender Urmasse entstanden. Der Bau deprimierte ihn, wie immer. Trotzdem hastete er mit hochgezogenen Schultern darauf zu.
Frank war in der ganzen verdammten Akademie nicht aufzutreiben. Schließlich stand Artie wieder auf der Manresa Road. Er war spät dran.
Aus dem strömenden Regen war ein leichter Nieselregen geworden. Er mußte einen Bus in der King’s Road erwischen. Als er dort ankam, stand der Verkehr. Die Busse saßen reihenweise im Stau fest.
Artie machte sich zu Fuß auf den Weg, schlängelte sich zwischen aufgespannten Regenschirmen hindurch, die Hände über den Kopf verschränkt. Er fühlte den Regen nicht, wußte nur, daß er da war. Auf nasse Haare konnte er verzichten.
Hier an der frischen Luft und in Bewegung fühlte er sich völlig losgelöst. Alles um ihn herum hatte etwas Unwirkliches, das ganze Chelsea stand schief über tanzenden Regenschirmen, eine Puppenstadt. Minutenlang wußte er nicht, warum und wohin er lief. Im Vorbeigehen sah er auf dem Plakatanschlag eines Zeitungsverkäufers, daß ein Mord passiert war. Bevor er das jedoch recht begriffen hatte, war er schon ein ganzes Stück weiter.
Ihr Mord konnte es nicht sein. Den hatten sie bereits in der vergangenen Nacht abgedreht. Am Morgen hatte er alles abgeliefert: Kostüme, sämtliche Ausrüstung, einfach alles. Er hatte den Generator und die Scheinwerfer zurückgebracht, hatte die Kassetten mit dem abgedrehten Material im Labor abgegeben. Das war heute morgen gewesen, vor einer Ewigkeit.
Er war seit vierzig Stunden auf den Beinen. Noch acht Stunden, und er hatte es geschafft. Um es durchzustehen, brauchte er mehr Speed; allerdings nicht auf nüchternen Magen. Er mußte zuerst essen und mit Steve sprechen.
Überall waren die Lichter angegangen. Schnell und ohne müde zu werden lief er an unzähligen erleuchteten Boutiquen, Antiquitätenläden und Restaurants vorbei. Die Scheiben glitzerten vor Nässe. Er betrat das »Blue Stuff«.
Drinnen sank seine Stimmung augenblicklich auf Null. Dicht gedrängt, naß und unangenehm ausdünstend standen die Kunden, die dem Regen entflohen waren. Mr. Blue Stuff persönlich war anwesend. Der Chinese hatte nur die Andeutung einer Nase und keinerlei Ausdruck im Gesicht. Er bequatschte ein junges, fettes Mädchen, das eine Cowgirljacke anprobierte. Im ganzen Laden befummelten schräge Typen aufgestapelte Jeanswaren, durchsuchten Kleiderständer und betrachteten sich in den Spiegeln. Steve hatte einem älteren Semester ein komplettes Jeansoutfit verpaßt. Der schräge Vogel hielt die Arme im 45-Grad-Winkel von sich und grinste komisch, während Steve, der aussah wie ein bleicher Gnom, an ihm herumzupfte.
Steve wirkte schmaler und zerbrechlicher denn je. Er ließ den Typ mit den ausgestreckten Armen stehen und kam auf Artie zu.
»Hast du alles rechtzeitig abgeliefert?« wollte er wissen.
»Klar.«
»Den Generator, die Scheinwerfer, alles?«
»Klar doch.«
Sie mieteten die Ausrüstung tagesweise. Eine Stunde Verspätung beim Abgabetermin bedeutete die Miete für einen weiteren Tag.
»Was ist mit den Filmspulen?«
»Im Labor. Ich hab’ die Begleitzettel ausgefüllt. Sie wissen also, daß wir unterbelichtet haben.«
»Gut. Du siehst kaputt aus, Artie.«
»Ja.« Artie zog ein paar Zettel aus der Tasche. »Hier! Und das grüne Blut ist ein Problem. Ich bin auf der Suche nach Frank.«
»Laß Frank in Ruhe, Artie. Er ist fertig.«
»Ich hab’ mir die Hacken nach ihm abgelaufen. Wo zum Teufel ...«
»Laß ihn. Es ist wegen der Tante, die sie aus dem Fluß gefischt haben.«
»Was für ’ne Tante?«
»Liest du keine Zeitung?«
»Mann, ich hatte keine Zeit ...«
»Die vom ›Gold Key‹. Die Bardame. Ertrunken. Laß ihn wenigstens ...«
»He, was los?« sagte Mr. Blue Stuff. »Kunden walten.«
»Nur noch ’ne Minute, Denny.« Blue Stuffs Name war Ogden, nach einem Baptisten-Pfarrer in Hongkong. Aber alle nannten ihn Denny oder gelegentlich »Großer Vorsitzender«, denn er war auch Chef seines Unternehmens »Wu Enterprises«. Wu hatte ’ne Menge Unternehmen. Das stand fest.
»Nichts Minute. Kunden. Was willst du, Artie. Blauchst du Klamotten?«
»Wollte nur mal reinschaun, Denny.«
»Kein Stehimbiß hier. Flank leinschauen, Alabel leinschauen. Kleiderladen hier. Schau andelswo lein.«
»Schon gut. Nur morgen muß ich schlafen«, verteidigte sich Artie. Dann wurde ihm klar, daß er das eigentlich Steve sagen wollte. »Also ruf mich nicht an«, wandte er sich an Steve. »Ich wollte dir das nur bringen. Wir sehen uns heute abend.«
»Du willst doch jetzt nicht arbeiten?«
»Muß ich aber. Ich hab’ vergessen, denen zu sagen, daß ich die Nacht durchmachen muß.«
»Sehen sehl hübsch aus. Sehl schick«, sagte Denny, als Artie ging. Er hatte den schrägen Vogel persönlich übernommen und verwechselte die R’s und L’s wie üblich.
Artie hatte seinen chinesischen Sprachfehler noch im Ohr, als er in den Regen hinaustrat. Glünes Blut. Walum Flank in Laden? Walum Alabel? Artie fiel, Selbstgespräche führend, ins Französische. Den Großteil des vor ihm liegenden Abends würde er sowieso Französisch sprechen. Sein Gehirn begann allmählich müde zu werden. Es funktionierte zwar noch, fühlte sich jedoch wie eine träge Masse an. Es wollte ihm etwas sagen, aber dazu brauchte es mehr Speed.
Bevor er zur Arbeit ging, kam er an einem weiteren Zeitungsplakat vorbei. Diesmal schaltete er sofort. Erwürgt, lautete die Schlagzeile. Ertrunken, hatte Steve gesagt.
War die Rede von derselben Person? Es gab so viele von der Sorte. Ob wach oder im Schlaf, in letzter Zeit drehte sich bei ihm fast alles um Mord.