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5. Am Strand

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Zum Glück hatte ich den Wecker auf acht Uhr gestellt. Ich hätte sonst verschlafen. Zu meiner Erleichterung war das Badezimmer frei und ich konnte duschen. Danach zog ich mich sommerlich an und packte meine Badesachen ein. Roxanne war inzwischen nach Hause gekommen. Wir machten gemeinsam das Frühstück, während sich Carl um die Kinder kümmerte. Roxanne fragte mich natürlich aus. Ich hielt es für ratsam, ihr nicht gleich alles auf die Nase zu binden und erzählte ihr nur das Notwendigste. Auch nur, dass ich nachher von ein paar Freunden abgeholt würde, die ich bei Monika kennen gelernt hatte, und mit ihnen an den Strand ginge. Sie wollte mehr erfahren, war aber anscheinend zu müde, um groß nachzuhaken.

Nach dem Frühstück schnappte ich meine Tasche und verabschiedete mich. Es war genau neun Uhr. Ich ging nach draußen und wartete außer Sichtweite des Wohnzimmerfensters. Ich war ziemlich aufgeregt und sehr gespannt, wie sich Josh im Beisein der anderen mir gegenüber verhalten würde. Kurz darauf fuhr der Wagen vor. Aus den offenen Wagenfenstern strahlten mich drei fröhliche Gesichter an und alle wünschten mir fast gleichzeitig einen guten Morgen.

»Steig ein, Lisa«, rief Josh.

Cathy öffnete die hintere Wagentür und bot mir den Sitz neben ihr an. Ich stieg ein und war gespannt auf irgendeine Reaktion. Im Rückspiegel beobachtete mich Josh lächelnd. Ich schmunzelte ihm zu und erfreute mich anschließend an der Aussicht. Cathy stupste mich und fragte: »Hast du schon gefrühstückt?«

Ich wollte ihr gerade antworten, als Jesry sich auf dem Beifahrersitz zu mir umdrehte und eine seiner zu erwartenden Bemerkungen loswurde: »Vielleicht hättest du Lust auf einen Doughnut.« Er gluckste triumphierend, während Cathy ihm einen bösen Blick zuwarf.

Josh fragte dann listig: »Soll ich dich gleich hier rauswerfen oder hättest du es lieber an der nächsten Bushaltestelle?«, und lächelte mir durch den Rückspiegel zu.

Er war schon unverbesserlich, dieser Jesry.

Cathy zog mich am Arm zu sich hin und fragte mich kaum hörbar: »Jesry drohte ihm an, sämtliche Mädchen in der Schule auf ihn zu hetzen, wenn er uns nicht erzählen würde, was geschehen sei. Josh ist ein ziemlicher Charmeur, nicht wahr?«

»Ja, das ist er«, hauchte ich ihr belustigt ins Ohr.

»Du kannst ihm vertrauen. Er spielt nicht mit Mädchen. Er hatte nichts mehr mit einem Mädchen, seit das mit seiner Schwester passiert ist«, flüsterte sie weiter.

»Ich weiß nicht, was da war, er hat mir nichts darüber erzählt«, flüsterte ich.

Da war also doch etwas, das ich vielleicht wissen sollte. Ich entschied mich aber, nicht weiter zu fragen. Ich wollte es von Josh hören. Irgendwann würde sich die Gelegenheit ergeben, ihn danach zu fragen.

»Was flüstert ihr beide denn die ganze Zeit? Josh, die reden bestimmt über uns!«, vermutete Jesry und wollte ihn dazu anstacheln, auch etwas zu sagen.

Als wir dann Richtung Down Town fuhren und die Wolkenkratzer in Sicht kamen, war ich hin und weg. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Die anderen versuchten sich abwechselnd als Reiseleiter und erklärten mir alles. Wir fuhren mitten durch die Innenstadt, bis wir den Stanley Park erreichten. Es war eigenartig – gerade eben hatten wir nur Hochhäuser gesehen und ein paar Sekunden später war alles grün um uns herum. Den Strand konnte man durch die Bäume hindurch erkennen.

Josh parkte und zeigte in Richtung Strand. »Ist der Parkplatz nah genug?«

Cathy meinte: »Ja, der ist gut und nahe bei der Eisdiele. Es sind anscheinend noch nicht viele Leute da.« Sie nahm ihre Tasche aus dem Wagen und sagte: »Kommt!«

Wir liefen alle hinter ihr her. Sie schien es eilig zu haben. Vielleicht hatte sie so etwas wie einen Lieblingsplatz. Auf einer kleinen Wiese unter einem großen Ahornbaum fanden wir ein hübsches Plätzchen. Ich legte meine Tasche hin, zog meine Schuhe aus und ging zum Wasser, ohne auf die anderen zu warten. Kniend beobachtete ich das Spiel der Wellen. Das Wasser war ziemlich kalt. Es roch nach Salz und Meertang. Das Meer zog mich in seinen Bann. Weit draußen am Horizont warteten Tanker und Containerschiffe auf die Erlaubnis, in den Hafen einfahren zu dürfen. Eine kühle Brise wehte vom Meer her und mir war ein bisschen kalt.

»Na, was sagst du? Gefällt dir das Meer?«, fragte Josh und setzte sich zu mir in den Sand.

»Es ist herrlich! Ich konnte es mir nie so richtig vorstellen.«

»Möchtest du baden?«

»Nein, ich glaube nicht, es ist mir zu kalt. Zudem mag ich es nicht, wenn ich nicht den Boden sehen kann.«

Josh fand das sehr amüsant. »Es wird dich schon kein Fisch beißen.« Er versuchte, mir Mut zuzusprechen.

Von der Sonne beschienen wirkten seine Augen noch klarer als sonst. Ich hätte ihn jetzt gerne geküsst, wollte aber Jesry nicht schon wieder einen Grund zum Spötteln geben. Ich spürte seinen Blick im Rücken. Und Josh ging es vermutlich ähnlich.

»Geht ihr nicht rein?«, rief er auch schon von hinten.

»Warum machst du es nicht vor?«, fragte Josh, und wir schauten beide zu Jesry, der neben Cathy sein Badetuch ausbreitete.

»Nein, es ist mir zu kalt. Ich mag es nicht so kalt! Nicht wahr, Cathy?« Er fiel über sie her und alberte mit ihr herum.

Josh und ich beobachteten die beiden amüsiert. Sie waren schon ein ulkiges Paar. Wir gesellten uns zu ihnen und breiteten ebenfalls unsere Badetücher aus. Es war wirklich zu kühl, um in Badehosen dazuliegen. Wir hatten alle unsere T-Shirts übergezogen und ließen uns von der Sonne wärmen. Dabei sprachen wir kaum miteinander.

Nach einer Weile drehte sich Josh zu mir um und flüsterte: »Jesry ist wohl eingeschlafen.«

In die Sonne blinzelnd bestätigte ich seine Annahme.

Cathy war in ein Buch vertieft und bemerkte es nicht. Josh hielt meine Hand und lächelte mich an. Sollte ich ihn jetzt küssen? Er nahm mir die Entscheidung ab, indem er mich küsste. Mein Magen war wieder arg beschäftigt und die Wärme der Sonne hätte ich wohl in diesem Moment nicht mehr benötigt.

Auf einmal ertönte Cathys Stimme im Hintergrund: »Schade, dass Jesry euch nicht sehen kann. Das würde ihm gefallen!« Sie lächelte verschmitzt zu uns rüber und beschäftigte sich dann wieder mit ihrem Buch. Sie schien sich für uns zu freuen.

Vom Gespräch aufgeweckt fragte Jesry: »Hab ich irgendetwas verpasst?«

»Ja, hast du«, bestätigte Cathy, ohne von ihrem Buch aufzusehen.

»Was denn?«, bohrte er weiter und schaute zu Josh und mir rüber.

Wir grinsten ihn an, und Josh meinte, er habe gerade eben den Anblick einer braunen Schönheit am Strand verpasst.

»Schade, wieso hast du mich nicht geweckt? Autsch!« Das war Cathys Ellbogen gewesen.

Josh meinte mit unschuldiger Miene: »Vielleicht gehst du mal zum Strand runter, sie ist in diese Richtung verschwunden«, und zeigte ins Nichts.

Cathy schien zu wissen, was Josh vorhatte, und sagte: »Komm Jesry, ich führ dich hin.«

»Das ist nicht dein Ernst!«, staunte er.

»Nein, ist es nicht, aber komm trotzdem mit!«

Widerwillig folgte er ihr. Wir sahen ihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren.

»Komm, zieh dich an, ich möchte dir etwas zeigen!« Josh sprang auf und schlüpfte in die Schuhe.

Ich tat dasselbe. Er war ein ausgekochtes Schlitzohr! Er hatte das so eingefädelt und Cathy hatte verstanden. Sie kannten sich anscheinend wirklich sehr gut. Wir verließen den Strand und gingen auf einem kleinen Pfad in den Wald. Die Bäume waren sehr hoch, wesentlich höher als in der Schweiz. Selbst an Joshs Hand hatte ich Mühe, mich auf den Weg zu konzentrieren, da ich immer wieder zu den Baumkronen hochstarren musste.

»Was willst du mir zeigen?«, fragte ich ihn atemlos.

»Du wirst es gleich sehen, nur noch ein Stück weit.«

Nach gut zehn Minuten erreichten wir eine kleine Lichtung, auf der mittendrin ein großer, knorriger Ahornbaum stand. Er musste uralt sein. Josh zog mich zum Baum hin und suchte den Stamm nach irgendwas ab.

Ich blickte mich um und beobachtete einige umhertollende Eichhörnchen.

»Schau, hier ist es!« Er zeigte auf eine kaum mehr erkennbare Einkerbung in der Rinde. Schwach konnte ich die Umrisse eines Herzens ausmachen, und mittendrin standen die Buchstaben J. R. und P. M.

»Wessen Herz ist das?«, fragte ich.

»Das meiner Eltern«, erklärte er stolz. »Meine Mutter hat es mir einmal gezeigt.«

»Für welche Namen stehen die Buchstaben?«

»J steht für Julie-Anne und R für Ritcharts. P steht für Patric und M für Melville.«

»Du heißt also Melville.«

»Joshua Patric Melville!«

»Hört sich gut an. Wann haben deine Eltern dies eingekerbt?«

»Kurz vor ihrer Hochzeit. Das ist jetzt ungefähr einundzwanzig Jahre her.«

»Dann bist du also einundzwanzig.«

Er lachte. »Nein, ich war kein Unfall! Ich werde nächsten Monat erst zwanzig. Am 1. Juli. Du siehst, ich bin ein waschechter Kanadier.«

Ich verstand nicht, was er damit meinte, und wartete auf eine Erklärung.

»Am 1. Juli ist der kanadische Nationalfeiertag.«

Er war offenbar stolz darauf.

»Und wie alt ist deine Schwester?« Das war die Gelegenheit für mich.

»Sie ist jetzt achtzehn.« Er wirkte wieder deprimiert und setzte sich mit dem Rücken lehnend an den Baum und starrte auf den Boden.

»Josh, willst du mir nicht sagen, was mit deiner Schwester passiert ist, bevor es jemand anders tut?« Ich war mir sicher, Cathy und Jesry wussten Bescheid und würden mir alles erzählen, wenn ich nur danach fragte.

Er nahm meine Hand, zog mich an sich, umarmte mich und gab mir einen langen Kuss. Er war sich im Klaren darüber, dass er nicht länger ausweichen konnte, und fasste sich ein Herz.

Er atmete tief durch und begann: »Vor ungefähr zwei Jahren wurde meine Schwester auf dem Heimweg überfallen.« Er legte eine kurze Pause ein, atmete wieder durch und fuhr fort: »Sie war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen.« Er schaute mich lange an.

Ich war entsetzt. Darum also die gestrige Überreaktion.

»Was ist mit ihr geschehen?« Ich schien die Antwort zu erahnen.

»Sie wurde auf der Straße vergewaltigt. Anscheinend konnte sie niemand sehen oder hören. Erst als sie schreiend vor dem Haus umhertorkelte, merkten wir, dass etwas Entsetzliches geschehen war. Ich war als Erster bei ihr. Sie stand unter Schock und reagierte nicht auf uns. Sie war mit blauen Flecken übersät. Sie sah schlimm aus!« Er schluckte leer und atmete wieder tief durch. Seine Augen wurden wässrig.

Was sollte ich jetzt sagen? »Ist dies der Grund, warum sie von hier fortwollte?«, fragte ich.

»Ja, sie hat sich nie davon erholt. Wir hatten vorher eine wunderbare Beziehung, haben uns immer alles erzählt, lachten viel und gingen zusammen mit unseren Freunden aus. Aber danach kam alles ganz anders. Sie ließ all ihre Freunde sausen, von mir wollte sie sich nicht mehr berühren lassen. Ich konnte sie nicht tröstend in die Arme nehmen. Das war für mich das Schlimmste. Es dauerte sogar mehrere Tage, bis sie mich überhaupt wieder in ihre Nähe ließ. – Ich vermisse sie sehr.« Tränen kullerten ihm über die Wangen. »Sie würde dich bestimmt mögen.«

»Wie geht’s ihr heute, in England?«

»Am Telefon sagte sie mir, es gehe ihr gut und ich solle mir keine Sorgen machen. Aber von meiner Mutter weiß ich, dass sie immer noch Mühe mit dem Erlebten hat. Meine Mutter meint sogar, sie sei niemals mehr fähig, einen Mann zu lieben. Sie geht nur noch mit Mädchen aus.«

»Hat man den Täter gefasst?«

»Nein, sie konnte ihn nicht gut genug beschreiben. Sie suchen ihn noch immer.« Er schaute mich an. »Darum wollte ich nicht, dass du mit dem Fahrrad nach Hause fährst! Ich habe immer noch Angst, dass er irgendwo lauert!«

Ich umarmte ihn. Lange Zeit saßen wir da und küssten uns immer wieder.

»Ich verstehe nicht ganz, warum du deswegen keine Freundin haben konntest.«

»Ich bin da wohl etwas eigenartig. Jesry versteht es bis heute auch nicht. Ich habe davor Angst, einem Mädchen wehzutun. Natürlich möchte ich nie jemandem wehtun, aber die Gewalt beginnt doch schon viel früher. Ich will einfach nicht mit Gefühlen spielen. Ich weiß, dass ich auf Mädchen wirke, aber was nützt mir das, wenn ich keine Gefühle für sie aufbringen kann?«

Ich konnte es nicht recht nachvollziehen, war mir aber sicher, dass Josh wusste, wovon er sprach.

»Willst du mich immer noch?«

»Ja, natürlich«, und wie ich ihn wollte, mehr als je zuvor. Aber, warum wollte er mich? Was war bei mir anders? Ich fragte ihn: »Josh, warum ich? Warum ausgerechnet ich? Ich bin sicher, dass du tausend andere Mädchen haben könntest!«

Ich konnte mir das wirklich nicht erklären. Ich war nicht hübsch, war viel zu dünn, hatte unmögliche X-Beine und trug eine Brille. Noch trug ich sie!

Er sah mich erstaunt an. Offenbar genoss er meinen kleinen Ausbruch an Unverständlichkeit und fing an zu lachen.

»Tausend ist schon etwas übertrieben! Ich hatte tatsächlich ein paar Angebote von zum Teil bildhübschen Mädchen. Aber was soll ich mit denen? Die himmeln mich doch nur an, weil sie untereinander Wetten abgeschlossen haben, welche es zuerst schafft, mich ins Bett zu kriegen! Nein, solche, die nicht nur dies wollen, sind auch hier sehr rar.« Er machte eine kurze Pause. »Bei dir stimmt einfach alles. Ich war mir gleich sicher, dass wir uns verstehen würden ... und solche Gefühle wie für dich, hatte ich ... noch nie.« Er wurde verlegen und errötete.

Mein Kribbeln meldete sich wieder. »Was war mit denen zuvor?«

»Du meinst diejenigen, bevor das mit Maria passiert ist?«

Ich nickte.

»Das war nichts Ernstes. Ein bisschen Knutschen, sonst nichts.«

Ich war völlig verwirrt und starrte auf den Boden. Die Gedanken irrten hoffnungslos in meinem Kopf umher. Er nahm mich in seine Arme und versuchte, mich zu beruhigen: »Hey, das war wohl alles ein bisschen viel, nicht wahr?«

»Ja, allerdings. Ihr scheint hier kein einfaches Leben zu führen.« Ich war bedrückt. »In unserer Familie haben wir nie solche Dinge erfahren. Bei uns war immer alles in Ordnung. Ich habe bis jetzt anscheinend sehr viel Glück gehabt!« Ich kuschelte mich an ihn und fühlte mich geborgen.

Nach einer Weile meinte er: »Wir sollten zu den anderen zurück, bevor sie uns suchen!«

Ich gab ihm Recht.

Wir standen auf, warfen nochmals einen Blick auf das Herz und gingen zurück zum Strand. Der Himmel hatte sich mittlerweile bedeckt. Jesry und Cathy lagen wieder auf ihren Badetüchern und musterten uns, als wir kamen. Jesry öffnete bereits seinen Mund, um wohl zu fragen, wo wir gewesen seien. Er kam aber gar nicht zu Wort. Cathy packte seinen Arm und sagte resolut: »Sei ruhig! Sie sagen dir sowieso nicht die Wahrheit!«

»Recht hat sie, Jesry!«, bestätigte Josh und legte sich auf sein Badetuch. Er grapschte, für Jesry nicht zu sehen, nach meiner Hand und hielt sie fest. Es tat richtig gut. Eine Weile lagen wir da, bis dann Cathy sagte, sie habe Lust auf ein Eis.

»Tolle Idee!«, rief Jesry und sprang auf. Dabei erwischte er uns händchenhaltend. Er suchte offenbar immer noch nach einem Beweis für Joshs Schilderung vom Vorabend, denn auf einmal schrie er: »Ha, Cathy, schau mal, es ist also wahr!« Er stupste sie und zeigte auf unsere Hände. Wir ließen einander nicht los und genossen schmunzelnd seinen Anfall.

»Natürlich ist es wahr, was hast denn du gedacht?«, sagte Cathy, während sie sich die Schuhe anzog.

»Na ja, Josh lügt mich doch die ganze Zeit an, wieso sollte ich gerade das glauben?«

»Weil du eigentlich deinen Freund kennen solltest, um zu wissen, dass er mit solchen Dingen keine Scherze treibt! Und du willst Psychologe werden!«, herrschte sie ihn an und tätschelte ihm wie einem Hund den Kopf.

Wir lachten alle über Jesrys Benehmen und spazierten anschließend zur nahe gelegenen Eisdiele. Die Einrichtung war schmucklos. Wir setzten uns an einen länglichen Tisch und studierten das Angebot, das jenseits meiner kühnsten Träume lag. Wofür sollte ich mich nur entscheiden? Es gab Eis in den unmöglichsten Farben und Geschmacksvarianten. Blau, violett, schwarz, gepunktet, gestreift! Ich entschied mich für einen Walnussbecher mit Schokoladentopping und Nussstreuseln. Bevor wir aber bestellen konnten, stellte uns der Kellner vier große, mit Eiswasser gefüllte Gläser auf den Tisch und nahm erst dann unsere Wünsche entgegen. Wir verbrachten gute zwei Stunden in der Eisdiele und hatten viel Spaß. Ich erzählte von meinem Zuhause, meiner Schulzeit und meiner Ausbildung. Sie hörten aufmerksam zu. Vor allem Josh. Er wusste ja bis jetzt noch nicht sehr viel über mich. Im Vergleich zu den anderen schien ich ein langweiliges Leben zu führen.

Dann schlenderten wir alle, mit unseren Füßen halb im Wasser, gemeinsam am Strand entlang, wobei Josh und Jesry die ganze Zeit mit ihrem Frisbee herumalberten. Jesry stellte sich dabei nicht einmal schusselig an. Irgendwann wurde uns Mädchen dies zu bunt und wir setzten uns auf einen herumliegenden Baumstamm.

»Wart ihr beim Baum?«, fragte mich Cathy.

Verdutzt blickte ich sie an. »Ja, kennst du ihn?«

»Josh hat ihn einmal erwähnt. Das war während der Zeit, als es Maria nicht gut ging. Jesry und ich gingen den Baum dann suchen und fanden ihn schließlich. Das Herz haben wir allerdings nicht entdeckt.«

»Es ist auch nicht mehr gut zu erkennen. Sogar Josh musste suchen.«

»Was hat er dir bis jetzt von seiner Schwester erzählt?«

Ich war froh, die Geschichte von Josh erfahren zu haben. Cathy hätte sie mir bestimmt jetzt erzählt. »Er hat mir beim Baum alles erzählt. – Ich bin jetzt noch am Grübeln. – Kanntest du Maria gut?«

»Ja. Maria und Josh waren unzertrennlich. Wir witzelten oft darüber, ob sie immer noch so aneinander kleben würden, wenn einer von ihnen einen Partner hätte. Dass es dann so enden würde ... – Josh hatte große Probleme. Er konnte dieses Verbrechen nie begreifen. Normalerweise tut er keiner Fliege etwas zuleide, aber wenn er damals diesem Schwein begegnet wäre, er hätte ihn mit Sicherheit umgebracht! Er war extrem wütend! Er hat seinen Schreibtisch zu Kleinholz zertrümmert, so viel Wut musste raus. Ich habe ihn nur damals so erlebt! Er brauchte lange, um einigermaßen zu begreifen, dass sein Verhalten niemandem, und vor allem nicht seiner Schwester, helfen konnte. Als sie ihn dann wieder in ihrer Nähe duldete, kümmerte er sich rührend um sie. Aber es war kein Vergleich zu früher. Sie blockte jeglichen Körperkontakt ab. Meiner Meinung nach war das ein großer Fehler. Er hätte ihr bestimmt noch besser helfen können. Vielleicht wäre sie dann heute noch hier.« Traurig starrte sie zu Boden. »Aber jetzt hat er ja dich!« Sie lächelte mich an.

»Meinst du, ich bin so was wie eine Ersatzschwester?« Eigentlich wusste ich, dass es nicht so war, und wollte nur eine Bestätigung dafür.

»Nein, bestimmt nicht! Du hättest ihn sehen sollen, als er von gestern Abend erzählte! Er war so was von nervös! Anscheinend hat es ihn bös erwischt!«

»Nicht nur ihn!«

Sie redete wie eine langjährige Vertraute mit mir. Niemand hätte ahnen können, dass wir uns erst gestern kennen gelernt hatten.

»Ich habe immer gewusst, dass er sich irgendwann einmal verlieben würde. Es dauerte allerdings sehr lange.« Sie lachte plötzlich laut auf. »Weißt du, dass Marc einmal versucht hat, ihn zu verführen?«

»Was? Marc? Wie denn das? Wie meinst du das?«

»Marc ist doch homosexuell. Er bekam das Ganze mit Maria nicht so recht mit, weil er nur selten mit uns zusammen ist. Und weil Josh so lange keine Freundin hatte, fragte er ihn eines Tages, ob er an ihm interessiert sei!« Sie kicherte vor sich hin.

»Das ist nicht dein Ernst! Derselbe Marc von gestern?«

»Ja, genau der!« Sie gluckste.

Ich begann zu lachen. Das war zu komisch. »Wie hat Josh denn darauf reagiert?«

»Ich weiß nur, dass er ihm ... einen Korb gegeben hat!« Sie wieherte drauflos.

So was von peinlich, dachte ich und lachte noch mehr. Wir steigerten uns dermaßen, dass die Tränen nur so kullerten.

Die Jungs unterbrachen ihr Spiel und kamen näher. Wir beruhigten uns ein wenig und versuchten, unsere Tränen abzuwischen. Aber als wir den unschuldig dreinblickenden Josh ansahen, konnten wir uns nicht mehr halten und brüllten wieder drauflos. Die beiden Jungs starrten uns kopfschüttelnd an und hatten natürlich keine Ahnung, worüber wir lachten. Als wir endlich unseren Anfall hinter uns hatten und wir wieder zu Besinnung kamen, fragte Jesry, ob es uns nun wieder besser ginge.

»Nein«, sagte Cathy und »ja«, sagte ich zur selben Zeit. Wir schauten uns an und erlitten einen Rückfall, worauf Jesry meinte: »Josh, mein Freund, die Frauen werden wir nie verstehen können.« Er legte dabei seinen Arm wichtig über Joshs Schultern.

Bald darauf spazierten wir gut gelaunt zu unserem Platz zurück. Bevor wir uns aber wieder setzten, fragte Josh, wer alles einen Hotdog wolle. Drei Hände erhoben sich.

»O. k., ich gehe sie holen. Kommst du mit, Lisa?«

Ich sagte ja und wir zogen los.

»Du scheinst dich mit Cathy gut zu verstehen. Ich habe sie selten so lachen gehört!« Fragend sah er mich an. »Was war denn so lustig?«

»Das ist im Moment unser Geheimnis. Vielleicht erzähl ich’s dir mal!«

Beim Hotdogstand mussten wir anstehen und wir vertrieben uns das Warten mit Schmusen. Dieser Junge war mir so vertraut, als ob ich ihn schon Wochen oder Monate gekannt hätte. Aber ich ahnte, dass der jetzige Zustand nicht immer so bleiben würde. Irgendwann wollte er mehr und ich auch. Also wäre es wohl an der Zeit, Vorkehrungen zu treffen. Ich überlegte, ob ich Roxanne nach einem guten Gynäkologen fragen sollte, der mir die Pille verschreiben könnte. Ja, das würde ich tun, auch wenn ich ihr dann natürlich von Josh erzählen müsste.

Ich half Josh dabei, die Hotdogs zu tragen. Und als wir unseren Platz wieder erreichten, hatte ich mehr Ketchup und Senf auf meinen Armen als in den Hotdogs. Jesry und Cathy lachten mich aus, als sie meine bunten Arme sahen, und ich wusste zum ersten Mal, wie Jesry sich fühlen musste, wenn er sich ungeschickt anstellte. Jesry selbst fand es natürlich herrlich, einmal nicht der Dumme zu sein. Er half mir schleunigst, die Kleckereien auf meinem Arm zu entfernen.

»Weißt du Lisa, es beruhigt mich, dass ich nicht mehr der Einzige bin, dem solche Dinge passieren«, meinte er dann und biss genüsslich in seinen Hotdog.

Wir saßen lange zusammen und plauderten. Mein Englisch verbesserte sich rasant. Ich konnte beinahe alles verstehen. Und, wenn ich mal beim Reden nicht weiterwusste und mir das gesuchte Wort nicht einfiel, halfen mir die anderen mit viel Geduld und Vorschlägen aus der Patsche.

Es war bereits später Nachmittag, als ich mit Josh noch einmal zum Wasser hinunterging. Wir spazierten eng umschlungen durch die schwachen Wellen und sprachen kaum ein Wort. Dabei beobachtete uns Jesry gespannt. Er wollte nicht, dass ihm etwas entging. Als wir dann stehen blieben und uns lange küssten, sahen wir zwischendurch, wie Cathy an seinem Ärmel zupfte und etwas, anscheinend Unfreundliches, zu ihm sagte, worauf er seinen Kopf wieder einzog. Meine Gefühle hatte ich mittlerweile besser im Griff. Doch ich hatte den Eindruck, dass sie immer stärker wurden.

Als wir wieder zu den anderen zurückkamen, ließ sich Jesry nichts anmerken und hatte auch keinen dummen Spruch auf Lager. Offenbar fiel Josh das auch auf, denn er fragte ihn gleich: »Was ist, bist du krank? Wir warten auf deine Kritik. Verträgst du die Sonne nicht mehr?«

Jesry drehte sich zu ihm um, während Cathy immer noch in ihr Buch vertieft war.

»Mir geht’s ausgezeichnet. Ich habe mir nur gerade in Erinnerung gerufen, wie es früher einmal war, als Cathy und ich so frisch verliebt waren. Ich überlege mir gerade, wie ich es anstellen könnte, sie wieder an den Strand zu kriegen, um sie auch so innig zu küssen.« Er zog den Kopf etwas ein, um sich vor Cathys möglichem Angriff zu schützen und grinste.

Sie starrte aber immer noch in ihr Buch und ließ sich nichts anmerken.

Jesry drehte sich zu ihr um und fragte: »Was liest du da eigentlich?«

Ohne aufzublicken, antwortete sie: »Es trägt den Titel: Wie ein Mann nach drei Jahren seine Frau verführt! – Kleiner Ratgeber für den Sonntag am Strand!«

Josh und ich konnten nicht mehr vor Lachen. Jesry kniff Cathy ins Bein. Sie warf ihm das Buch an den Kopf und zog ihn an der Hand runter zum Strand, wo sie einander genau an der gleichen Stelle, wie wir zuvor, innig küssten. Wir beobachteten die Szene amüsiert. Jesry wäre aber nicht er selbst gewesen, wenn er nicht versucht hätte, Cathy anschließend ins Wasser zu werfen und dabei über seine Füße stolperte, sodass am Ende er der Nasse war. Jesry war urkomisch. Als mir Josh dann noch erklärte, dass Jesrys Nachname Sunday, also Sonntag war, begriff ich erst die Zweideutigkeit des kleinen Ratgebers. Jesry schlenderte triefend nass zum Platz zurück, gefolgt von einer triumphierenden Cathy. Fast mütterlich wickelte sie ihn in ihr Badetuch ein.

»Ich gehe mich besser umziehen«, meinte er schlotternd und verschwand.

Als er wieder trocken bei uns erschien, fragte er, ob wir nicht langsam aufbrechen sollten. Wir könnten bei ihm zu Hause essen.

Es wurde wirklich langsam Zeit. Die Luft kühlte sich merklich ab. Also brachen wir auf und stiegen in den Wagen. Josh fuhr extra einen Umweg, damit ich eine andere Perspektive der Großstadt sehen konnte. Wieder spielten sie die Reiseleiter. Sie erklärten mir viele Sehenswürdigkeiten, die ich mir in nächster Zeit genauer ansehen wollte.

Cathy schlug dann vor: »Wir könnten doch bei Kentucky Halt machen und was mitnehmen. Dad hat auch bestimmt noch einen Salat übrig.«

»Du meinst also, ich hätte nicht genug Essbares zu Hause!«, klang es verächtlich aus Jesrys Mund.

»Wann ist dein Kühlschrank jemals gefüllt?«, witzelte Josh.

»Wenn mein Vater zu Hause ist.«

»Na also, dann ist er jetzt leer. – Hast du es mal mit Einkaufen versucht?«

»Cathy bringt mir immer alles mit. Warum sollte ich einkaufen gehen?«

»Oh Jesry, was würdest du nur ohne Cathy machen.«

»Danke, Josh«, meinte Cathy zufrieden und schaute zu mir: »Magst du Huhn?«

»Ja, sehr gern. Hat dein Vater denn einen Laden?«

»Ach ja, das weißt du noch nicht. Er leitet den Supermarkt«, erklärte sie stolz.

»Aber, das ist nicht derjenige in meiner Nähe?«

»Nein, dieser befindet sich drei Blocks westlich unserer Straße.«

An der Granville-Straße hielten wir bei einem Fastfood-Restaurant an. Ich war gespannt, was dieser Laden zu bieten hatte. Wir bestellten alle unsere Lieblingsvariante Huhn und gingen voll bepackt zum Wagen zurück. Ein wunderbarer Duft verbreitete sich im Auto.

Während der Fahrt nahm ich mir vor, Monika kurz zu besuchen, um ihr das mit Josh zu erzählen, bevor sie es von Jesry zu hören bekäme.

»Geht das in Ordnung, wenn ich euch direkt zum Supermarkt fahre?«, fragte Josh nach hinten. Offensichtlich wollte er uns nicht zu Fuß dorthin gehen lassen.

»O. k.«, meinte Cathy nur.

Kurz danach fuhr Josh auf den großen Parkplatz des Supermarktes.

»Wartet ihr im Wagen?«, fragte Cathy die Jungs.

Beide nickten.

Wir Mädchen stiegen aus und gingen hinein.

»Hallo Dad«, rief sie einem kleinen, ziemlich dickbauchigen, blonden Mann zu, der sich hinter der Kasse aufhielt.

»Hallo, Mädchen! Schön, dich mal wieder zu sehen«, sagte er mit erhobenen Augenbrauen und schaute sie mit vorwurfsvollem Blick über seine schwarze Hornbrille an.

»Äh, ... ich möchte dir Lisa vorstellen.« Sie zeigte auf mich und er musterte mich genau.

»Sie ist erst seit ein paar Tagen hier. Sie kommt aus der Schweiz!«, fügte sie stolz hinzu.

»Freut mich«, wusste ich nur zu sagen und streckte ihm meine Hand entgegen.

Er nahm jetzt seine Brille ab, musterte mich lächelnd und schüttelte mir kräftig die Hand. »Freut mich Lisa, ich heiße Tom. Bist du Jesrys Nachbarmädchen?«

Ich wollte ihm antworten, doch Cathy war schneller. »Nein, sie ist Joshs Freundin!«

Sie freute sich offensichtlich, diejenige zu sein, die es ihm erzählen durfte.

Ich hätte es nicht erwähnt.

»Ach ja? Der gute alte Josh. Hat es ihn doch noch erwischt. Das ist gut. Das ist sehr gut. Wie gefällt es dir bei uns?«

»Oh, sehr gut! Cathy und die Jungs haben mir schon einiges gezeigt.«

»Äh ... Dad, ... hast du einen Salat übrig? Wir wollen bei Jesry essen.«

»Ja, natürlich. Wirst du heute mal wieder zu Hause schlafen? Oder soll ich dein Bett verkaufen?« Tom lächelte ihr verschmitzt zu, während er sich auf den Weg zum Gemüsestand machte.

Sie warf mir einen beschämten Blick zu und flüsterte: »Ich war beinahe die ganze Woche bei Jesry. Dad mag das nicht besonders. Er ist da etwas altmodisch.« Sie verdrehte die Augen.

Tom kam mit einem Salat, zwei Flaschen Cola und einer großen Tüte Kartoffelchips zurück.

»Hier, so wie ich Jesry kenne, hat er sowieso nichts zu Hause.« Er lächelte uns fröhlich an.

»Dad, ich liebe dich!« Cathy küsste ihn stürmisch und nahm die Tüte entgegen. Sie fragte dann noch: »Wo ist Mum?«

»Sie ist zu Hause, heute ist nicht besonders viel los. Vielleicht siehst du sie ja, heute ... Abend?« Wieder dieser vorwurfsvolle Blick. »Grüßt die Jungs von mir. Es hat mich gefreut, dich kennen zu lernen, Lisa. Schau doch mal wieder vorbei.«

»Vielen Dank. Das mach ich. Auf Wiedersehen!«

Wir verließen den Supermarkt. Ich war von Tom beeindruckt und war überzeugt, dass er ein guter Vater war. Wortlos stiegen wir ein und fuhren zu Jesry.

Als wir ausstiegen, erinnerte ich mich, dass ich Monika alles erzählen wollte. »Ich möchte noch kurz bei Monika vorbeischauen, geht das?«

Jesry sagte: »Ja, natürlich, aber mach nicht zu lange. Ich habe Hunger.«

Ich beeilte mich und klopfte an die Tür. Es war ruhig. Ich klopfte nochmals. Es schien niemand zu Hause zu sein, und so ging ich wieder zurück. Josh war damit beschäftigt, mein Fahrrad in dem Wagen zu verstauen. Als er mich sah, meinte er überrascht: »Was, schon zurück?«

»Es ist niemand zu Hause«, sagte ich enttäuscht.

»Du kannst sie ja unter der Woche treffen. Ihr werdet doch sicher etwas zusammen unternehmen wollen.« Er hatte Mühe, das Rad vollständig in den Wagen zu quetschen, und ich versuchte, ihm dabei zu helfen.

»Ich werde sie morgen anrufen.«

Endlich hatten wir es geschafft, das Rad einzuladen.

»Josh, kann ich dich unter der Woche sehen?«, fragte ich ihn erwartungsvoll.

Er schüttelte den Kopf und meinte: »Das wird fast nicht möglich sein, wir haben üblicherweise sehr viele Hausaufgaben. Und die Prüfungen stehen bevor. Ich bin in der Schule kein Genie, weißt du, daher muss ich auch mehr büffeln als andere.«

»Kann ich dich wenigstens anrufen?«

»Ich kann dir meine und Jesrys Nummer geben. Ich weiß noch nicht, an welchen Tagen ich zu Hause oder bei Jesry übernachten werde. Es kommt immer darauf an, was in der Schule so läuft und wie viele Hausaufgaben wir bekommen.«

»Schläfst du denn oft bei Jesry?«, fragte ich ihn auf dem Weg ins Haus.

»Ja, wahrscheinlich mehr als zu Hause. Ich habe hier sogar mein eigenes Zimmer«, erklärte er lächelnd.

»Zeigst du’s mir?«

Er nickte.

»Wer füttert denn deine Katzen, wenn du nicht zu Hause bist?«

»Das macht Jenny.«

Inzwischen waren wir in der Küche bei den anderen angekommen, die das Essen schon vorbereitet hatten.

»Wer ist Jenny?«, fragte ich. Ich war mir nicht mehr sicher, ob sie wirklich eine Oma war.

Doch Jesry schien nur auf seine Chance gewartet zu haben. Er antwortete schneller, als Josh den Mund aufmachen konnte: »Das ist Joshs junge Nachbarin! Sie besucht ihn jeden Tag und gießt den Garten!«

Er war sichtlich erfreut, uns in eine peinliche Lage gebracht zu haben. Daraufhin nahm Josh die leere Papiertüte und stülpte sie Jesry verächtlich über den Kopf und brachte uns alle zum Lachen. Mir war allerdings nicht sehr wohl. Offensichtlich war ich eifersüchtig. Josh bemerkte dies und versuchte mir zu erklären, wer Jenny war, wobei er ständig von Jesry unterbrochen wurde. Die beiden alberten herum und ich wusste immer noch nicht, wer sie wirklich war. Cathy schubste die beiden zur Seite und erklärte es mir endlich: »Sie ist tatsächlich Joshs Nachbarin. Sie ist allerdings erst zehn. Und sie erhält von Joshs Onkel etwas Taschengeld für ihre Arbeit.«

Ich fühlte mich unwahrscheinlich erleichtert und beschämt zugleich. Die Jungs hatten inzwischen aufgehört herumzualbern. Sie waren beide enttäuscht, dass sie mich nicht länger auf die Folter spannen konnten.

»Essen ist fertig!«, rief Cathy.

Es schmeckte herrlich. Ich mochte diese Art Huhn. Wir verbrachten einen weiteren lustigen Abend miteinander. Kurz nach neun hatten wir die Küche schon aufgeräumt. Bevor wir uns auf den Heimweg machen wollten, zeigte mir Josh noch sein Zimmer. Es war aber eher eine Abstellkammer: ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und eine kleine Kommode, mehr nicht. Und es war sehr düster, da es nur ein ganz kleines Fenster gab. Er war wohl wirklich nur zum Schlafen hier. Ich konnte keine persönlichen Sachen herumliegen sehen.

»Nichts Besonderes, nicht wahr? Es dient sonst als Gästezimmer.«

Für mich war es etwas Besonderes. Aber das behielt ich für mich. Ich ging zum Fenster. Man sah auf eine Wiese. Monikas Haus war beinahe identisch. Dieses hier war allerdings geräumiger, weil es zweistöckig war. Der Garten sah ähnlich aus.

Josh stand plötzlich hinter mir, schlang seine Arme um mich und küsste mich. In seiner Hand hielt er einen Zettel.

»Hier sind die Telefonnummern. Gibst du mir deine? Ich kann dich vermutlich besser erreichen als du mich.«

Ich nahm den Zettel mit den Nummern und steckte ihn in meine Hosentasche. »Ich werde dich vermissen«, hauchte ich ihm zu.

Ich hatte die größte Mühe, mir vorzustellen, ihn eine Woche nicht mehr sehen zu können. Eine Weile standen wir da und hielten uns eng umschlungen fest. Danach gab ich ihm meine Nummer und wir gingen wieder hinunter.

»Soll ich dich auch nach Hause bringen, Cathy?«, fragte Josh.

»Ja, gern. Ich packe nur noch meine Sachen.« Sie umarmte Jesry, gab ihm einen dicken Kuss und sagte: »Bis morgen.«

Ich ging zu Jesry, bedankte mich und wünschte ihm eine schöne Woche, worauf er mich ebenfalls umarmte. »Macht Spaß mit dir, Lisa. Sehen wir uns am Wochenende?«

Ich wusste es noch nicht und vertröstete ihn auf einen möglichen Anruf.

Bei Monika war alles dunkel. Sie schien noch nicht zurück zu sein.

Bei Cathy angekommen verabschiedete sie sich von mir mit einer großen Umarmung und sagte: »Ruf uns an.«

»Ja, werd ich ganz bestimmt machen.«

Zu Josh sagte sie: »Also dann, bis morgen.«

Wir fuhren weiter. Josh sah ernst aus. Vielleicht war er müde, genau wie ich. Er spürte, dass ich ihn anstarrte. Er blickte kurz zu mir. Lächelnd fragte er mich dann: »Hast du noch Lust auf einen Doughnut?«

»Ich glaube nicht, ich bin satt und müde, genau wie du. Du solltest morgen ausgeruht zur Uni gehen.«

Mein Verstand siegte über meine Gefühle. Ich wäre gerne noch ein wenig länger mit ihm zusammen gewesen. Er war enttäuscht, wusste aber, dass ich Recht hatte. Diesmal fanden wir die Elm Street leichter und er hielt ein gutes Stück vom Haus entfernt an. Ich wollte nicht, dass Carl sah, wie wir sein Fahrrad aus dem Wagen zerrten. Wortlos begleitete er mich zur Tür und stellte das Fahrrad hin. Er sah mir tief in die Augen und flüsterte: »Komm her.«

Lange hielten wir uns eng umschlungen fest und küssten uns innig. Meine Gefühle überschlugen sich. Ich wollte ihn nicht loslassen. Die Aussicht auf eine Woche ohne ihn war schrecklich!

»Lisa, hör zu, am nächsten Samstag muss Jesry seinen Vater vom Flughafen abholen. Ich nehme an, Cathy will ihn begleiten. Wir haben also den ganzen Vormittag für uns. Möchtest du sehen, wo ich wohne?«

»Ja, das wäre schön! Aber was ist mit deinem Onkel? Kommt er denn nicht auch zurück?«

»Nein, noch nicht, er muss anscheinend noch ein paar Tage länger bleiben.«

»Bist du am Dienstag bei Jesry?«

»Ich weiß noch nicht. Wahrscheinlich schon. Warum?«

»Ich hoffe, dass Monika mich am Dienstag zum Optiker begleitet. Ich möchte mir Kontaktlinsen kaufen. Vielleicht gehen wir anschließend noch zu ihr. Wir könnten uns ja dann kurz sehen.«

»Das wäre schön. Würdest du mir mal zeigen, wie du ohne Brille aussiehst?«, fragte er neugierig. »Ich möchte wissen, ob du dann immer noch so hübsch bist!« Er schmunzelte.

»Nein, das tue ich nicht! Das siehst du dann nächste Woche!«, folterte ich ihn und wusste gleichzeitig, dass ich ohne Brille besser aussehen würde. Hübsch wäre ich dann allerdings immer noch nicht. »Auf Wiedersehen, Josh«, drängte ich. Ich war mir sicher, wenn wir noch länger dastehen würden, fiele mir der Abschied noch schwerer.

»Auf Wiedersehen, Lisa, du bist wirklich etwas Besonderes«, flüsterte er und gab mir nochmals einen langen Kuss.

Ich drehte mich um und ging durch die Glastür in den Flur, wo ich mich nochmals umschaute. Doch er war schon weg. Ich wartete, bis sein Wagen am Haus vorbeifuhr und schlich mich dann in die Wohnung. Carl war noch wach und begrüßte mich freundlich: »Oh, hallo Lisa, hattest du einen schönen Tag?« Er hatte ein Glas Wein in der Hand und saß vor dem Fernseher.

»Ja, danke. Wer hat gewonnen?« Mir fiel die Fußballweltmeisterschaft wieder ein.

»Italien. War ein gutes Spiel. Da hast du was verpasst.«

»Du kannst mir ja dann morgen darüber erzählen. Ich bin müde. Dann also gute Nacht.«

»Ja, gut«, meinte er etwas enttäuscht.

Vermutlich hatte er auf etwas Gesellschaft gehofft.

Sehnsuchtsort Vancouver

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