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4. Jesrys Geburtstag

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Bereits um sieben Uhr war ich wach und machte mich für den Tag zurecht. Der Himmel zeigte sich wieder von der schönsten Seite. Darüber war ich froh, ich hatte ja eine größere Fahrradtour vor mir. Ich packte ein paar Tafeln Schokolade aus meinem Vorrat ein, schlich durch die Wohnung hinaus und machte mich auf den Weg. Ich fuhr die 49th-Straße entlang, bis ich die Oak Street erreichte. So hatte es Monika beschrieben. Zwei Querstraßen weiter befand sich schon die Laurel Street, in der Monika zu Hause war. Die Laurel Street war allerdings länger, als ich gedacht hatte. Es waren gut zehn Blocks, bis ich endlich Monikas Adresse erreichte. In dieser Stadt war es sehr einfach, sich zurechtzufinden. Die meisten Straßen verliefen gerade und wurden durch nummerierte Querstraßen unterbrochen. Man konnte sich wirklich nicht groß verirren. Das Haus selbst war, wie die meisten anderen auch, klein und aus Holz. Etwas weiße Farbe hätte es durchaus vertragen können. Die Nachbarhäuser waren ihm ähnlich, etwas größer zwar, aber sie hatten auch alle diesen einmaligen Hüttencharakter.

Ich stellte mein Fahrrad vor der Haustreppe ab und ging zur Tür. Keine Klingel! Ich klopfte heftig an die Holztür und hoffte, dass sie standhielt. Bald darauf vernahm ich die weinende Stimme eines Kleinkindes, die immer lauter wurde. Monika öffnete die Tür, und auf ihrem Arm saß ein etwa neun Monate alter hübscher Junge, der mit sich und der Welt nicht ganz zufrieden war.

»Hallo, komm rein, Johnny hat Kohldampf! Ich muss ihm schnell die Flasche geben, sonst gibt er keine Ruhe!«

Sie lief mit dem Schreihals zur Küche. Ich stand im Wohnzimmer und schaute mich um. Es war sehr hübsch und geschmackvoll eingerichtet. Überall standen Pflanzen und schöne Gegenstände als Dekoration rum. Sie verliehen dem Wohnzimmer einen sehr gemütlichen Charakter. Das Highlight des Wohnzimmers war aber zweifellos die geblümte, orangefarbene Polstergruppe.

»Darf ich mich etwas umschauen?«, rief ich in die Küche.

»Ja, klar, mach nur, ich bin auch gleich so weit!«

Links vom Wohnzimmer befand sich Johnnys Schlafzimmer. An der Decke hingen überall kleine Figuren, die sich im Wind bewegten. Alles war in Blau gehalten. Im Raum nebenan befand sich das Badezimmer. Es war modern und sah ziemlich neu aus. Es war ganz in Weiß, mit silbernen und schwarzen Zierleisten. Dahinter befand sich das Elternschlafzimmer. Da fand ich dann auch meine heiß geliebten Rüschen wieder vor. Alles war aufeinander abgestimmt und in hellem Gelb gehalten. Im Vergleich zur Wohnung von Roxanne und Carl war dieses Haus ein Palast. Ich ging in die Küche. Monika war eifrig mit dem Frühstück beschäftigt, während Johnny auf dem Boden lag und in großen Zügen seine Flasche leerte. Ich gab ihr die Hand und bedankte mich für die Einladung. Sie war etwa gleich groß wie ich, trug ihre blond gelockten Haare schulterlang, und hatte, oh Wunder, blaue Augen. Sie war kräftig gebaut, so wie man sich Bergtypen vorstellt. Ihre schneeweißen Zähne fielen mir gleich auf. Ich half ihr, so gut ich konnte, da ich mich ja in dieser Küche nicht auskannte. Diese war viel größer als jene meiner Gastfamilie. Sie war viel heller, da sie ein Fenster und eine Glastüre zum Garten hin hatte. Es gab einen riesigen, zweitürigen Kühlschrank und einen Herd mit Spiralplatte.

Monika deutete auf die Glastür und sagte: »Wir essen am besten draußen. Es ist so schön warm und ich muss danach keine Krümel aufwischen.«

»Ja, gut, ich trage schon mal was hinaus.«

Eine steile Holztreppe führte auf die kleine Wiese neben dem Haus. Sie war umgeben mit einem etwa zwei Meter hohen Holzzaun, der die Blicke der Nachbarn wohl verbergen sollte. In der hintersten Ecke der Wiese gab es einen kleinen Sandhaufen und ein paar Spielgeräte für Johnny. Mitten in der Wiese stand ein klobiger Holztisch mit jeweils einer stabilen Holzbank zu beiden Längsseiten. Ich stellte mein Tablett ab und begann, den Tisch zu decken. Plötzlich spürte ich, wie mich etwas Kaltes, Nasses am Bein berührte. Ich schoss herum und sah in die treuherzigen Augen eines schwarzen Riesenhundes, mit langen, zotteligen Haaren.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Das ist Abraham. Der ist zu doof, seine eigenen, vergrabenen Knochen wiederzufinden. Betteln ist sein Hobby. Er hat vermutlich die Croissants gerochen«, erklärte mir Monika lachend.

Sie setzte den kleinen, mittlerweile zufriedenen Johnny in den Sandhaufen und vollendete unsere üppige Tafel, indem sie schöne Papierservietten und einen kleinen Blumenstrauß dazustellte. Das Frühstück war eine Wucht. Wir genossen es ausgiebig und tauschten dabei rege unsere Erfahrungen über die Familien aus. Ich erzählte ihr vom Gespräch mit Roxanne über Carls Verhalten. Monika wirkte danach etwas bedrückt. Sie bestätigte meine Meinung, dass Roxanne sich vermutlich zu ängstlich verhielt. Sie hätte zudem noch nie etwas von Kindesentführung gehört. Das hätten ihr Rita und Jo sicher erzählt.

Wie wir so ins Gespräch vertieft waren, bemerkten wir nicht, dass der gute Abraham die restlichen zwei Croissants aus dem Körbchen klaute und sie genüsslich in einer Ecke des Gartens verspeiste. Als Monika ihn dann schmatzend daliegen sah, waren die Croissants nicht mehr zu retten. Mit tief hängendem Kopf trabte Abraham ins Haus und ließ sich von Monika in gutem Schweizerdeutsch beschimpfen.

»Er weiß ganz genau, dass er das nicht darf. Ich bin mir sogar sicher, dass er mittlerweile Schweizerdeutsch versteht. Übrigens auch Johnny.«

»Magst du Schokolade? Ich habe dir welche mitgebracht.«

»Mm, Schweizer Schokolade?«, fragte sie neugierig.

»Ja, natürlich! Ich gebe sie dir später, wenn wir drinnen sind. Hier draußen würde sie schmelzen. Wo ist eigentlich dein Zimmer?«

»Ach ja, das hast du noch nicht gesehen. Ich bin da offensichtlich sehr privilegiert. Jo hat extra vor meiner Ankunft den Kellerraum ausgebaut. Komm, wir gehen runter!«

Sie führte mich zu einer kleinen Tür, einem Seiteneingang, wie es schien. Schon standen wir in ihrem riesigen Zimmer. Es war wirklich grandios. Die gesamte Hausfläche stand ihr als Zimmer zur Verfügung. Ein riesiges Doppelbett stand mittendrin. An den Wänden hatte sie viele Poster. Wayne Gretzky, einen bekannten kanadischen Eishockeyspieler, konnte ich auf einem erkennen. Die anderen Typen kannte ich nicht. Ein großes Bücherregal stand gegenüber dem Bett an der Wand, auf dem sie ihre Souvenirs ausgebreitet hatte. Dazwischen standen noch ein kleines Fernsehgerät und ein Radio. Gleich daneben gab es eine kleine Tür, die in ihr kaum 3 m² kleines Badezimmer führte. Es war die kleinere Ausführung des großen Badezimmers in der Wohnung über uns. Und eine kleine schmale Treppe führte zur Küche hinauf.

»Du hast es hier wirklich gediegen«, seufzte ich.

»Ja, ich hab es sehr gut getroffen. Ich kann vor allem nach Hause kommen, wann ich will. Sie hören mich nicht.«

»Gehst du oft aus?«, fragte ich sie neugierig, während wir wieder in den Garten gingen.

»Nein, eigentlich nicht so viel. Ich habe mit dem Haushalt genug zu tun. Dann habe ich zusätzlich noch einen Karatekurs begonnen. Der Klub befindet sich übrigens ganz in deiner Nähe. Da habe ich auch einen tollen Jungen getroffen, der da unterrichtet.« Sie kam ins Schwärmen. »Er ist ganz nett und ich hoffe, dass noch etwas daraus wird.«

Also stimmte das wohl doch mit den blonden Haaren und den blauen Augen. Ich sprach sie darauf an. Das hätte ich wohl lieber nicht getan. Sie lachte mich regelrecht aus. Roxanne sei wohl ein bisschen durcheinander, meinte sie schelmisch. »Nebenan wohnen Studenten oder zumindest einer, ich weiß nicht so genau, wer wohin gehört, aber egal. Die lassen mich in Ruhe. Sie wollten mich einmal zum Pizzaessen einladen, aber da musste ich zum Karatetraining. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Die sind nicht aufdringlich.«

Das beruhigte mich sehr, obwohl ich eigentlich ganz gerne Jungen und Mädchen in meinem Alter kennen lernen wollte. Es interessierte mich, wie sie hier lebten und wie ihre Lebenseinstellung war. Vielleicht ergäbe sich ja irgendwann einmal eine Gelegenheit, vertröstete ich mich.

Nachdem wir die Küche zusammen aufgeräumt hatten, machten wir uns zu Fuß auf den Weg zum Botanischen Garten. Er lag ein paar Blocks nördlich. Johnny schlief während unseres langen Spazierganges ein und erwachte erst wieder, als wir bereits im Park waren. Es war eine wirklich schöne Anlage mit vielen Blumen und Pflanzen. Große und kleine Wasserbecken mit Springbrunnen lockerten die vielen Blumenrabatten auf. Eine große Wiese mitten im Park lud zum Faulenzen ein. Wir ließen Johnny darauf etwas herumkriechen. Im nahe gelegenen Café bestellten wir uns Kaffee und »Cheesecake«. Monika meinte, ich solle den probieren, der sei sehr gut.

Nun, Cheesecake übersetzte ich mit Käsekuchen, welchen ich überhaupt nicht mochte. Monika erklärte mir dann, dass es sich dabei um eine Quarktorte handle und eigentlich nichts mit Käse zu tun habe. Ich war beruhigt. Die Kellnerin stellte uns zwei leere Tassen auf den Tisch, nahm den mit Kaffee gefüllten Glasbehälter der Kaffeemaschine und schenkte uns ein.

»Möchten Sie Zucker oder Milch?«, fragte sie launisch.

»Nur Milch bitte!«, antwortete ich. Und Monika fragte ich: »Trinkst du ihn schwarz?«

»Ja, diesen Kaffee hier kann ich nur schwarz trinken. Er ist so dünn, dass du kaum etwas davon spürst. Er ist leider überall so.«

Die Kellnerin kam mit einem kleinen Milchkrug zurück und stellte ihn mir vor die Nase. Ich versuchte den Kaffee zuerst ohne Milch und dann mit. Ich stellte ziemlich schnell fest, dass ich in Zukunft auch zu den Schwarztrinkern gehören würde. Der Cheesecake schmeckte mir ausgezeichnet. Den wollte ich mir merken. Als die Tasse leer war, kam die Kellnerin wieder und fragte, ob ich noch mehr wolle. Ich verneinte ihre Frage, worauf sie den halb vollen Krug auf unserem Tisch stehen ließ. Monika schenkte sich noch einmal ein.

»Hier musst du nur die erste Tasse bezahlen. Alle weiteren sind gratis«, erklärte sie mir. »Also, wenn du noch mal willst, greif zu!«

Komische Sitten, dachte ich und fand das Ganze ziemlich witzig.

Monika verschwand kurz im Wickelraum und kam mit einem strahlenden, putzmunteren Johnny wieder zurück.

»Sollen wir aufbrechen?«, fragte sie, »Johnny müsste noch einen Mittagsschlaf halten. Und ich habe es lieber, wenn er im Bett schläft.«

Wir spazierten in der warmen Sommersonne Richtung Süden und plauderten munter. Zu Hause angekommen legte sie Johnny ins Bett und sang ihm ein Schlaflied auf Schweizerdeutsch.

Ich ging in der Zwischenzeit die Schokolade holen, die ich mitgebracht hatte. Ich gab ihr zwei Tafeln. Monika bedankte sich und meinte aber, wir sollten uns die Schokolade für den Abend vor dem Fernseher aufbewahren. Ein Abend vor dem Fernseher? Ich schaute zwar gern fern, aber hier hatte ich wirklich keine Lust dazu. Vielleicht kam uns bis dahin ja noch eine andere Idee.

Mit einer kühlen Limonade setzten wir uns draußen an den Tisch und tratschten weiter. Laute Stimmen drangen dann aus dem Nachbarsgarten. Da schien ein Fest im Gange zu sein, dachte ich, und ließ mich dadurch nicht weiter stören. Monika aber wurde immer unruhiger und ging zum Zaun, wo sie laut rief: »Jesry, könntet ihr bitte etwas leiser sein? Johnny schläft!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, kam sie wieder zum Tisch zurück. Der Lärm verstummte. Doch kurze Zeit später beobachtete ich Monika, wie sie ihre Augen verdrehte und murmelte: »Das darf doch nicht wahr sein.«

Energisch stand sie auf und ging erneut zum Zaun, dem ich meinen Rücken zugewandt hatte. Ich drehte mich um und ergötzte mich an einem ziemlich lustigen Anblick. Die ganze Festgesellschaft stand anscheinend etwas erhöht auf einem Podest und streckte sämtliche Köpfe über den Zaun. Es waren drei Jungs und ein Mädchen, alle um die zwanzig Jahre alt. Monika erklärte ihnen nochmals ihr Anliegen und meinte, sie sollten uns in Ruhe lassen.

»Sei nicht böse, Monika, aber wir feiern heute Geburtstag. Cathy hat eine große Torte mitgebracht. Möchtet ihr beide nicht mitessen?«, bettelte ein dunkelblonder, braunäugiger Junge. Er wirkte sympathisch und hatte ein freches Lächeln.

Alle Augen waren nun auf mich gerichtet. Freiwild, dachte ich gleich. Ich lächelte ihnen zu und hoffte, Monika würde ja sagen.

»Wir können Johnny nicht allein lassen!«, schoss es ihr ziemlich rüde aus dem Mund, doch sogleich fragte sie auch: »Wer hat denn heute Geburtstag?«

»Na ich!«, erwiderte derselbe Junge und verschwand plötzlich unter lautem Gepolter hinter dem Zaun. Allgemeines Gelächter ertönte und bald darauf erschien sein Kopf leicht zerzaust wieder zwischen den andern.

»Jesry, du bist und bleibst ein Riesenschussel! Und so was soll mein bester Freund sein! Kann sich nicht mal vor Damen richtig benehmen!«, gluckste ein braunhaariger Junge hinter dem Zaun hervor.

Sein Charme fesselte mich gleich. Er war mir, wie Jesry, gleich sympathisch. Er hatte feine, schüchterne Gesichtszüge, ein spitzbübisches Lächeln und eine unglaubliche Ausstrahlung. Ich lachte mit den anderen mit, nur Monika schien nicht sehr erpicht darauf zu sein.

»Sollen wir sie nicht rüberbitten, Monika?«, fragte ich sie ganz bewusst in Englisch. »Wir können die Torte doch auch hier essen. Es ist ja Platz genug!«

Erwartungsvoll starrten die vier Köpfe Monika an. Doch sie warf mir einen erstaunten und bösen Blick zu. Ich beantwortete auch gleich die Frage, die auf ihrem Gesicht geschrieben stand: »Wir räumen nachher zusammen auf!«

»Also gut, kommt rüber! Ich hole die Teller!«

Sie verschwand in der Küche und kam kurz danach mit einem Stapel Teller und Besteck zurück. Ich machte mich ebenfalls nützlich und kümmerte mich um die Gläser und die Getränke. Mit dem Tablett voll beladen versuchte ich, die Treppe ohne Unfall hinter mich zu bringen. Die anderen waren in der Zwischenzeit eingetroffen und beobachteten meine Jongliereinlage. Cathy, das einzige Mädchen der Gruppe, hatte Mitleid mit mir und half mir, das Tablett heil zum Tisch zu bringen.

»Vielen Dank«, sagte ich, und ergänzte gleich noch: »Ich bin ab und zu auch etwas ungeschickt!«

Sie lächelte mich an. Auch sie hatte ein freundliches Gesicht. Sie trug lange, dunkelblonde Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie hatte braune Mandelaugen, war etwas pummelig, aber sehr hübsch.

Sie stellte sich mir vor: »Ich bin Cathy und der Schusselige da, das ist Jesry.« Sie zeigte auf den groß gewachsenen, zerzausten Jungen, der die Torte wie eine Statue hielt. »Und das ist Mark«, sie deutete auf einen schwarzhäutigen, kleineren Jungen, der mit seiner kurzen Rastafrisur eher wie ein Sänger aussah und nicht wie ein Student. Er hatte ein breites, schneeweißes Lachen. In den Ohren steckten mindestens zehn Ringe und an den Händen ebenso viele. Er wirkte sehr cool und auch ganz nett.

Ich stellte mich als Lisa vor und gab allen die Hand. Mit ihrem Gesicht näher zu mir kommend, flüsterte Cathy mir zu: »Und der charmante Lümmel da ...«, dann sprach sie wieder in normaler Lautstärke weiter, »das ist Josh, Jesrys bester Freund. Er ist das arme Schwein, das meinen Liebeskummer anhören muss, wenn ich mit Jesry gestritten habe. Er ist ein hervorragender Tröster.« Sie lächelte ihm amüsiert zu.

Er winkte ab: »Du darfst nicht glauben, was sie dir alles erzählt. Die beiden sind immer ziemlich gemein zu mir.« Er lachte verschmitzt und zwickte sie mit den Fingern in den Oberarm.

Er war nur wenig größer als ich. Seine Augen waren groß, unverschämt blau und klar wie ein Bergsee. Auf Anhieb war ich von ihm fasziniert, und dies machte sich auch gleich in meinem Magen bemerkbar. Zu allem Übel setzte er sich auch noch neben mich, was die Situation nicht unbedingt entschärfte. In der Zwischenzeit hatten Monika und Cathy die Torte angeschnitten und verteilten sie auf die Teller. Diese Torte war nicht so aufwändig gestaltet wie diejenigen, die ich im Supermarkt gesehen hatte. Sie war einfach nur bunt und mit einem großen »Happy Birthday« verziert.

Monika war mit Jesry in ein Gespräch über Kindererziehung vertieft, während Marc irgendetwas mit Cathy besprach. Für mich war es recht schwierig, aus dem Stimmengewirr heraus etwas zu verstehen. Ich war froh, als Josh mich ansprach: »Bist du auch eine Nanny?«

»Ja, das bin ich.« Mehr kam nicht aus mir heraus. Ich war sehr nervös.

»Woher kommst du? – Nein, lass mich raten. – Du kommst aus Deutschland.«

Ich musste lachen. Er war enttäuscht, nicht richtig geraten zu haben.

»Nein, ich bin Schweizerin. Warum hast du gedacht, ich käme aus Deutschland?«

»Dein Akzent!«, lächelte er und steckte sich eine große Gabel voll Torte in den Mund.

»Spreche ich so schlecht Englisch?«, fragte ich ihn beleidigt.

»Nein, das hab ich nicht gesagt. Du sprichst sehr gut. – Wie lange bist du schon hier?«

»Seit Mittwoch!«

»Seit welchem Mittwoch?«, seine Augen bohrten sich in meinen Blick.

»Seit letztem Mittwoch.«

Verblüfft schaute er mich mit vollem Mund an. »Du sprichst wirklich sehr gut. Wo hast du das gelernt?«

»In der Schule. Ich hatte fünf Jahre Englischunterricht. Ich habe sehr viel Grammatik gebüffelt. Jetzt will ich den Wortschatz noch vergrößern und fließend sprechen lernen.«

»Was für eine Sprache sprichst du zu Hause?«

»Deutsch, daher vermutlich mein Akzent!«

»Ich wäre froh, so Deutsch reden zu können, wie du Englisch sprichst. Ich plage mich mit Französisch an der Uni rum. Das ist schon schwierig genug. Ich habe gehört, Deutsch soll noch viel schwieriger sein.« Fragend sah er mich an.

»Ja, das kann schon stimmen, aber mit Französisch habe auch ich Mühe.«

»Was, du sprichst auch Französisch? Wie viele Sprachen kannst du eigentlich?«

»In der Schule lernen wir zuerst Hochdeutsch, das ist die Schriftsprache, zu Hause sprechen wir Schweizerdeutsch, das ist der Dialekt, der wiederum von Gegend zu Gegend verschieden ist. Wenn wir dann einigermaßen sicher in Hochdeutsch sind, lernen wir Französisch und Englisch. Wenn du gute Noten hast, kannst du auch noch Italienisch, Spanisch oder sonst eine Sprache lernen.«

»Wow, das hab ich nicht gewusst. Wie unterscheidet sich denn Hochdeutsch von Schweizerdeutsch?«

Ich stupste Monika an und erklärte ihr kurz, was ich demonstrieren wollte. Sie fand es witzig und machte mit. Die anderen hatten anscheinend unser Gespräch mitverfolgt und waren nun gespannt auf unsere Vorführung.

»Monika stammt aus einer Bergregion in der Mitte der Schweiz. Ich hingegen wohne nahe der deutschen Grenze, ganz im Norden«, erklärte ich.

Monika und ich einigten uns auf ein paar typische Sätze, um den Unterschied zur Schriftsprache und zu unseren verschiedenen Dialekten zu demonstrieren. Die anderen fanden es äußerst lustig, vor allem, weil ich das »ch« extrem rau aussprach. Sie wollten die Sätze dann sprechen lernen, was natürlich schwierig bis unmöglich war.

»Tut dir der Hals beim Reden nicht weh? Das ist ja eine unglaublich raue Sprache. Hört sich an wie das Grunzen eines Schweins«, meinte Marc, und alle begannen zu lachen.

»Nein, ich habe gelernt, mit dieser Krankheit zu leben«, scherzte ich.

Wir plauderten noch lange über Sprachen, Schulen und über die Schweiz. Ich vergaß meine anfänglichen Magenbeschwerden völlig und fühlte mich wohl in der Gesellschaft dieser Studenten.

Ich war mit Josh in ein Gespräch über Schweizer Schokolade vertieft, als mir eine Idee kam: »Josh, kannst du mir bitte schnell helfen?«, fragte ich ihn und wusste eigentlich nicht, warum ich das tat.

Ich deutete ihm an, mich in die Küche zu begleiten. Verwundert stand er auf und folgte mir.

»Wo geht ihr denn hin?«, hörten wir Jesrys neugierige Stimme.

»Wir holen die Stripteasetänzerin für deine Geburtstagsparty!«, antwortete Josh schlagfertig.

»Du hast keine Stripteasetänzerin bestellt, oder?«, wollte ich mich flüsternd vergewissern.

»Nein, natürlich nicht. Jesry ist immer sehr neugierig, was meine Bekanntschaften betrifft. Er möchte mich seit Jahren verkuppeln.«

»Und, hat er es geschafft?« Warum fragte ich das bloß? Es ging mich ja nichts an.

»Nein, er wird es nie schaffen! Ich suche meine Freunde selber aus.«

Er war keineswegs beleidigt, sondern neugierig, warum ich ihn in die Küche gelockt hatte. »Jesry hat vorhin erwähnt, dass er Schokolade mag. Ich habe welche mitgebracht. Meinst du, er nimmt sie als kleines Geburtstagsgeschenk an?«

»Ja, ganz bestimmt! Er ist verrückt nach Schokolade!«

»Ich möchte sie aber nicht einfach so geben, kannst du mir helfen, sie mit irgendetwas einzupacken?«

»Ja, wie wär’s mit Klopapier? Das würde zu ihm passen!«

Ich warf ihm einen verächtlichen Blick zu, worauf er anfing zu lächeln.

»War nur ein Scherz! Wie wär’s damit?« Er hielt ein leuchtendes Stück Papier hoch, das er bei den Servietten in der Schublade gefunden hatte.

»Das ist gut. Jetzt brauchen wir nur noch ein Band.« Ich begann, die Schokoladentafel einzupacken.

Aus irgendeinem Schrank zauberte er ein Stück Band hervor, das eher an Schnürsenkel erinnerte. Entzückt betrachtete er, wie aus der Tafel Schokolade ein schön verpacktes Geschenk wurde.

Ich versteckte das Geschenk hinter meinem Rücken und stellte mich hinter Jesry, wo er mich zunächst nicht bemerkte. Josh setzte sich wieder an seinen Platz gegenüber von Jesry.

»Wo ist Lisa? Was hast du mit ihr gemacht?«, schoss es aus Jesrys Mund.

Alle lachten.

»Sie steht hinter dir, du Großmaul!«, kläffte ihn Josh an.

Jesry drehte sich um und sah mich erwartungsvoll an. Ich nahm das Geschenk hervor, streckte es ihm hin und wünschte ihm »Happy Birthday«.

Sichtlich überrascht stand er auf und meinte mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen: »Wenn man hier in Kanada jemandem ein Geburtstagsgeschenk überreicht, gibt man ihm auch einen Kuss! Stimmt’s Josh?«

»Äh, ja ... aber weißt du, du bist ja nicht irgendjemand, sondern eben Jesry. Dann gilt das hier vielleicht nicht ...« Weiter kam Josh nicht, denn Jesrys Kuchengabel hatte gerade knapp seinen Kopf verfehlt.

Ich fasste mir ein Herz, gab ihm einen Kuss auf die Wange und hauchte: »Happy Birthday, Jesry.«

Die anderen fingen an zu klatschen und drängten ihn, das Paket zu öffnen.

Ich setzte mich wieder neben Josh und verfolgte Jesrys wilde Versuche, den Schnürsenkel vom Paket zu entfernen. Unter allgemeinem Gelächter hatte er es dann doch noch geschafft, die Schokolade ans Tageslicht zu bringen.

»Toll, richtige Schweizer Schokolade!«, freute er sich. »Die gehört ganz allein mir!«, bestimmte er und hielt sie von Cathy fern, worauf diese enttäuscht ihren Mund verzog.

Inzwischen war Johnny wieder wach und gesellte sich zu unserer fröhlichen Runde. Auch Monika hatte sich mittlerweile mit der Situation abgefunden und genoss das Fest.

Während wir Mädchen den Tisch abräumten, versuchten die Jungs Johnny beizubringen, wie man auf Abraham reitet. Es war höchst amüsant und der kleine Johnny gluckste vor Freude.

Ich setzte mich auf die Schaukel und verfolgte das Geschehen. Sie waren alle sehr nett und ich hatte das Gefühl, voll akzeptiert zu werden. Keine Eifersucht, kein Neid. Sie gaben sich einfach, locker, und offen. Und sie waren alle ziemlich witzig. Nach einer Weile setzte sich Josh neben mich auf die Wiese und ließ die beiden anderen Jungs mit Johnny herumtollen. Cathy und Monika waren inzwischen im Zimmer verschwunden. Vermutlich zeigte ihr Monika die Postersammlung. Ich schaute immer noch den beiden Jungs zu. Sie versuchten jetzt Johnny dazu zu bringen, unter Abraham hindurchzukrabbeln. Entweder wollte aber Johnny nicht krabbeln oder Abraham nicht stehen bleiben. Ich spürte Joshs Blick. »Hättet ihr beide Lust, heute Abend mit uns ein Pizzaessen zu veranstalten?«

»Wir haben doch gerade erst die Torte gegessen! Ich bin noch nicht hungrig.«

»Wir essen an unseren Geburtstagen immer Pizza. Wenn Jesry Geburtstag hat, zahle ich sie, und wenn ich Geburtstag habe, ist er dran. Das ist bei uns inzwischen zur Tradition geworden. Es wäre schön, wenn ihr beide da teilnehmen könntet.« Er ließ seinen unglaublichen Charme spielen.

»Ich würde gerne dabei sein, aber ich weiß nicht, wie Monika darüber denkt. Wir sollten sie zuerst fragen«, meinte ich vorsichtig.

»Ja, Johnny wird ja irgendwann schlafen müssen und Monika kann ihn ja von hier draußen hören, wenn er zu schreien anfinge. Ich gehe sie fragen.« Siegesgewiss stand er auf und marschierte zu Monikas Zimmer. Er blieb an der Tür stehen und rief etwas Unverständliches hinein. Kurz darauf kam er strahlend zu mir zurück. »Sie ist einverstanden. Möchtest du mitkommen, wenn ich die Pizza hole?«

»Äh, ich weiß nicht, wie weit ist das von hier?«

»Oh, nicht weit, vielleicht zehn Minuten zu Fuß? Ich kann dir auf dem Weg dorthin zeigen, wo Cathy wohnt.«

Ich überlegte, ob ich nicht lieber Monika helfen sollte, den Tisch zu decken. Aber ein kleiner Fußmarsch würde mir nach dieser Torte gut tun. Zudem wollte ich unbedingt mitgehen. Ich vertraute Josh und hatte Spaß daran, mich mit ihm zu unterhalten. »O. k., ich komme gerne mit.«

»Wie bist du eigentlich hierher gekommen? Hast du ein Auto?«

»Nein, ich kann noch nicht fahren. Ich bin mit dem Fahrrad gekommen.«

»Mit dem Fahrrad?« Er sah mich ungläubig an. »Du kannst aber heute Abend nicht mit dem Fahrrad zurück!«, sagte er energisch.

»Warum denn nicht? Es hat doch Licht!«

»Äh, Lisa, Josh hat schon Recht.«

Ich war so in unser Gespräch vertieft, dass ich nicht bemerkt hatte, wie die anderen Jungs bereits wieder neben uns standen und uns zuhörten. Es war Jesry, der sich eingemischt hatte. Ich schaute fragend zu ihm auf.

»Nein, wirklich Lisa, es ist gefährlich, nachts mit dem Fahrrad umherzufahren«, bekräftigte er, und Marc nickte.

»Aber, ich fahr doch auf Nebenstraßen, da ist der Verkehr harmlos!«

»Äh, Lisa, es ist nicht ... wegen des Verkehrs, weißt du, wir leben in einer Großstadt ... und da geschehen nun mal ab und zu schlimme Dinge«, versuchte mir Josh zu erklären.

Ich wusste, was er damit sagen wollte, und blickte beschämt zu Boden. Wie konnte ich nur so naiv sein. Sie hatten Recht! Ich war hier nicht in der Provinz.

»Wie soll ich denn sonst nach Hause kommen?«

»Oh, wie ich Josh kenne, wird ihm schon etwas einfallen. Er ist sozusagen ...«

Jesry hielt inne, da er von Josh einen ausgesprochen bösen Blick zugeworfen bekam. Marc drehte sein Gesicht ab und kicherte vor sich hin. Auch Jesry begann wieder zu grinsen. Als Josh eine Hand voll Sand aus dem Sandhaufen nahm und sie nach den beiden schmeißen wollte, ergriffen sie lachend die Flucht und kümmerten sich wieder um Johnny, der sich mittlerweile krabbelnd bis zu Monikas Zimmertür durchgeschlagen hatte und bald den kleinen Absatz hinunterzufallen drohte. Schmunzelnd beobachteten wir, wie Jesry den Kleinen kurz davor packte und ihn in Sicherheit brachte, wobei er selber über den Absatz stolperte und sich nur mit größter Mühe vor einem Sturz retten konnte.

»Er ist der Weltmeister im Schusseln!«, schäkerte Josh und schüttelte den Kopf. Er schaute mich dann, so schien es mir, etwas verlegen an und sagte: »Ich würde dich wirklich gerne nach Hause fahren, wenn du möchtest. Ich muss dann sowieso noch weiter.«

Entweder Josh oder das Fahrrad. Ich hatte keine Wahl. Also willigte ich dankbar ein. »Du fährst dann nach Hause?«

»Ja, heute schon. Ich muss die Katzen füttern.«

»Du hast Katzen?«

»Ja, zwei! Magst du Katzen?«

»Oh ja, ich liebe sie. Sie sind meine Lieblingstiere. Wir hatten immer Katzen zu Hause. Auch jetzt haben wir noch eine. Ich vermisse sie ein wenig. Sie hat immer auf meinem Bett geschlafen.«

Wir führten dann noch lange Gespräche, an denen sich auch wieder Jesry, Marc und die beiden Mädchen beteiligten. Wir stellten dabei fest, dass wir alle Katzenliebhaber waren und die Berge, das Skifahren und die Natur liebten. Als es etwas kühler wurde und Johnny sich mühsam die Augen rieb, verabschiedete sich Monika für eine halbe Stunde. Sie wollte Johnny baden und ihn dann ins Bett stecken.

»Kommst du jetzt mit?«, fragte mich Josh noch einmal.

»Ja, gern.«

»Ich hol nur schnell meinen Geldbeutel, bin gleich zurück!« Und schon verschwand er hinter dem Gartenzaun.

Cathy lächelte verschmitzt zu Jesry und wandte sich dann mir zu. Sie packte mich am Arm und führte mich ein Stück von den anderen fort.

Was sollte denn das? Hatte ich was falsch gemacht? Fragend sah ich sie an. Sie flüsterte mir kaum hörbar zu: »Sei vorsichtig! Ich glaube, Josh hat sich in dich verguckt! Er ist sonst eher schüchtern gegenüber Fremden. Also sei gewappnet!« Sie lächelte mir freudenstrahlend zu und klopfte mir auf die Schulter.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Plötzlich fing mein Magen wieder an, sich seltsam zu benehmen. Ich beschloss, ihre Worte mal so stehen zu lassen und selbst herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Ich verstand mich wirklich gut mit Josh und er sprach auch die meiste Zeit nur mit mir. Aber was sollte das denn schon bedeuten? Wir kannten uns ja erst wenige Stunden. So schnell konnte das auch wieder nicht gehen. Mein Magen hatte sich wieder beruhigt, als Josh zurückkam.

Wir schlenderten ein kurzes Stück der Laurel Street entlang und bogen dann in eine noch kleinere Nebenstraße, der wir bis zu unserem Ziel folgen konnten. Ich erinnerte mich an eine Frage, die ich ihm schon vorher stellen wollte: »Wo wohnst du eigentlich?«

»In Delta!« Er sah mich kurz an, um zu ergründen, ob ich wusste, wo das war. Ich hatte keine Ahnung. »Delta ist etwa eine Dreiviertel-Autostunde südlich von hier. Es ist ein Vorort von Vancouver. Eine ruhige Wohngegend nahe am Meer und an der Grenze«, erklärte er mir geduldig.

»Kannst du das Meer von deinem Haus aus sehen?«

»Von meinem Zimmer aus kann man ein kleines Stück davon sehen. Aber wirklich ein sehr kleines. – Warum fragst du? Magst du das Meer?«

»Ich weiß nicht, ich habe das Meer noch nie gesehen! Das heißt, vom Flugzeug aus schon, aber ich war noch nie an einem Strand«, gestand ich verlegen.

»Du warst also noch nie am Meer? Eigentlich wundert mich das nicht, die Schweiz ist doch ein Binnenland, nicht wahr?«

Ich war erstaunt, dass er das wusste, wenn ich an Roxannes Kenntnisse über die Schweiz dachte. »Ja, das stimmt. Hast du das in der Schule gelernt?«

»Nein, in der Schule lernt man nicht sehr viel über die Länder Europas. Europa wird meistens als Ganzes angesehen. Ich weiß es, weil bei uns zu Hause eine große Europakarte hängt. Meine Eltern lehrten mich einiges über Europa. Sie kommen ursprünglich aus England.«

»Ach, so ist das. Und wann sind sie denn hierher gekommen?«, fragte ich höchst interessiert.

»Sie waren etwa sechzehn oder siebzehn, als sie mit meinen Großeltern einwanderten. Sie gingen an dieselbe Uni, an der ich auch studiere. Dort lernten sie sich kennen. Sie verliebten sich und heirateten später. Zuerst kam ich auf die Welt und dann meine Schwester Maria.« Sein lächelnder Gesichtsausdruck nahm plötzlich traurige Züge an. Ich war wohl etwas zu neugierig geworden, dachte ich. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Vor ungefähr einem Jahr sind sie wieder nach England zurückgegangen. Mein Vater hatte immer gesagt, wenn er genügend Geld habe, um sich zur Ruhe setzen zu können, werde er wieder nach England zurückkehren. Dort seien seine Wurzeln. Er hatte sich hier nie ganz wohl gefühlt. Und meine Mutter auch nicht. Sie wohnen jetzt in der Nähe von London.«

»Und deine Schwester?«

»Sie ist mitgegangen«, sagte er kurz und deutete auf die Pizzeria vor uns. »Wir sind da!«

In Gedanken versunken folgte ich ihm.

»Welche sollen wir denn bestellen?«, fragte er mich. Ich hatte den Eindruck, als wäre er leicht verwirrt. Ich hatte noch nie eine kanadische Pizza gegessen und wusste nicht, welche die beste wäre.

»Vielleicht nimmst du einfach diejenige, welche Jesry am liebsten mag. Es ist ja schließlich sein Geburtstag!«, half ich ihm.

»Ja, gut. Dann nehmen wir die mit Pilzen.«

Er ging zur Theke und bestellte eine Sonderausgabe einer Riesenpizza. Ich war gespannt, wie groß die wohl sein würde.

»Es dauert etwa zwanzig Minuten«, erklärte der Pizzabäcker und bot uns an, in der Zwischenzeit drüben am Tisch Kaffee zu trinken. Dankend nahmen wir an. Als wir den heißen Kaffee vor uns stehen hatten, wagte ich Josh zu fragen: »Warum bist du nicht auch mit deiner Familie nach England zurückgegangen?«

»Weil ich hier zu Hause bin. Ich habe alle meine Freunde hier. Und ich bin mitten im Studium. Ich wollte dieses auf gar keinen Fall aufgeben. Ich fühle mich als waschechten Kanadier. Zudem regnet es in England sehr viel, hab ich gehört.« Er zeigte wieder sein strahlendes Lächeln. »Mein Vater hat meinen Entschluss verstanden. Er war viele Jahre Professor für Maschinenkunde an der Uni gewesen. Er wusste, wie ich mich fühlte. Allerdings musste ich meiner Familie versprechen, dass ich sie in den Ferien besuchen komme. Mein Vater hat mir extra Geld für ein Flugticket geschickt.«

»Wohnst du denn nun ganz alleine mit deinen Katzen?«

»Nein, ich wohne bei meinem Onkel. Er ist der Bruder meines Vaters. Er arbeitet sehr viel im Ausland als Maschinenbauingenieur. Deshalb bin ich oft allein. Ich mag das zwischendurch ganz gern. So kann ich meine Hausaufgaben in Ruhe erledigen.« Er musterte mich an seiner Tasse nippend und schien zu wissen, was ich fragen wollte. »Er ist geschieden. Sein Beruf ist nicht gut für eine Ehe. Er ist manchmal wochenlang weg. Im Moment ist er in Japan, zusammen mit Jesrys Vater. Sie arbeiten in derselben Firma.«

»Ach, daher sieht man Jesrys Eltern nicht. Ich habe mich schon gewundert.« Mir wurde einiges klarer. »Aber, was macht denn Jesrys Mutter?«

»Sie ist vor ein paar Jahren gestorben. Sie hatte Krebs. Für Jesry war das sehr schlimm. Er liebte sie sehr. Er hatte sonst niemanden. Keine Geschwister. Seine Mutter war die Einzige, die zu Hause war. Sein Vater war ja schon damals sehr viel im Ausland gewesen. Als sie gestorben war, vergrub sich Ernie, so heißt sein Vater, noch mehr in seine Arbeit und kümmerte sich noch weniger um seinen Sohn. Cathy und ich brachten es irgendwie fertig, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Seitdem sind wir eine verschworene Gemeinschaft, wie du vielleicht gemerkt hast.« Er lächelte mich an.

Ja, das war wirklich so. Sie waren enge Freunde.

»Seit wann sind Cathy und Jesry zusammen?«, wollte ich wissen.

»Das müssten jetzt ungefähr drei Jahre sein. Jesry liebt sie über alles, obwohl er jedem hübschen Mädchen hinterherschauen muss und manchmal auch die Finger nicht von ihnen lassen kann. Aber Cathy kennt ihn gut genug, um zu wissen, wie er es meint. Und er genießt es momentan, der Einzige unserer Bande zu sein, der eine feste Freundin hat.«

Ich wollte das Thema wechseln, weil mir dieses Gebiet doch etwas heikel vorkam. Mein Magen fing auch wieder an, sich sehr seltsam zu benehmen. Also fragte ich: »Was studiert ihr eigentlich?«

»Psychologie, als Hauptfach!«, antwortete er prompt.

»Psychologie, wow, ist das nicht sehr schwierig und komplex?«

»Ja, das ist es. Aber es ist äußerst interessant. Du lernst sehr viel über das Verhalten von Menschen.« Während er das sagte, blickte er mich durchdringend an.

Ich fühlte mich durchschaut. Vermutlich spürte er, wie mein Magen immer wieder mal einen Salto vollführte. Und gerade jetzt wurde mir ziemlich heiß. Ich musste etwas sagen: »Ist es nicht so, dass die Erfahrung erst zeigt, wie Menschen sind?«

»Ja, natürlich, wir lernen die Grundregeln. Wir lernen, die verschiedenen Eigenschaften eines Charakters zu deuten und Probleme zu erkennen. Ich bin auch der Meinung, dass man erst Erfahrung haben muss, bis man einem Menschen helfen kann, der in argen Problemen steckt.«

»Seid ihr alle in der gleichen Klasse?«

»Ja, mit Jesry ging ich schon in den Kindergarten. Mit meinen Eltern habe ich früher in seiner Nähe gewohnt. Ich kann dir nachher zeigen, wo. Cathy wäre heute meine Nachbarin. Ihre Familie ist aber erst vor etwa einem halben Jahr dorthin gezogen.«

»Die Pizza ist gleich fertig!«, ertönte es hinter der Theke hervor.

Wir beeilten uns mit Kaffeetrinken und nahmen anschließend die Pizza entgegen. Sie war riesig! Die Schachtel hatte etwa die Maße von Monikas Badezimmer. Josh bezahlte und wir machten uns auf den Rückweg. Diesmal gingen wir eine andere Straße entlang.

Ich wollte noch mehr über Joshs Familie erfahren: »Warum ist deine Schwester fortgegangen? Sie ist doch auch hier geboren.«

Wieder kam dieser traurige Blick. »Sie hatte ein paar Probleme und zog es vor, dieses Land zu verlassen.«

Mir schien, als wollte er nicht darüber sprechen. Also ließ ich ihn in Ruhe. Vielleicht war sie ja mal drogenabhängig gewesen. Ich kannte das ja mittlerweile von Carls Vergangenheit.

»Dort ist Cathys Haus.« Er zeigte auf ein hübsches, kleines, rosarot bemaltes Haus, das dem von Monikas Familie glich.

Es war nicht viel größer und hatte denselben Charakter.

»Welches war deines?«

»Das rechts daneben«, antwortete er wehmütig. »Es sieht immer noch gleich aus. Nur die Vorhänge unterscheiden sich von denen, die wir hatten.«

Es war ein wirklich schönes Haus, sehr groß, mit riesigen Fenstern, zweistöckig, und es hatte eine große Veranda. Der Garten wirkte sehr gepflegt. Josh wollte nicht stehen bleiben, was ich akzeptierte. Erstens wirkte er traurig und zweitens wurde die Pizza langsam kalt. Wie sollte ich ihn nun aufmuntern?

Ich überlegte, was ich ihm erzählen könnte. Mir fiel für den Moment nichts ein. Zudem beschäftigte mich mein Magen immer noch.

Ich war innerlich so nervös und aufgeregt, dass ich mich ernsthaft fragte, ob ich mich jetzt tatsächlich in diesen tollen Typen verknallt hatte. Nach einer langen Pause beendete er das Schweigen und fragte mich: »Was hat dir eigentlich Cathy vorhin gesagt?«

Ich war völlig erstarrt. Woher wusste er das? Ich sah ihn wohl ziemlich erschrocken an, worauf er mich spitzbübisch angrinste. Er spürte, dass mir nicht wohl war. Hitze stieg in mir auf und mein Magen war weit davon entfernt, sich zu beruhigen.

»Woher weißt du das?«, fragte ich erstaunt.

»Ich hab euch aus Jesrys Zimmer beobachtet«, sagte er fast entschuldigend.

Sollte ich zum Angriff starten und ihm die Wahrheit erzählen? Oder sollte ich ihn hinhalten? Ich versuchte es erst mal damit: »Weibergetratsche!«, gab ich ihm mal zur Antwort.

»Ja, das glaube ich dir gern«, grinste er mich an, und ich wusste, dass er sich mit dieser Antwort nicht zufrieden gab. »Ich habe dir einiges erzählt, jetzt wärst du einmal an der Reihe. Also, was hat sie dir über mich erzählt?«

Ich saß wohl in der Falle. Er war schon die ganze Zeit über offen und ehrlich zu mir gewesen, und ich wollte dies ebenfalls sein. Zum Glück war es mittlerweile dunkler geworden, sodass er meine geröteten Wangen kaum erkennen konnte. Also wiederholte ich Cathys Worte und starrte dabei auf den Boden. Es war mir höchst peinlich. Ich vernahm ein Kichern. Er schien sich köstlich zu amüsieren. Daraufhin meinte er immer noch sehr belustigt: »Na ja, Cathy scheint mich gut zu kennen.«

Wir blickten uns an und konnten uns ein Lächeln nicht mehr verkneifen.

Inzwischen waren wir wieder bei Monika angekommen. Der Garten lag verlassen da. Monika und die anderen hatten sich viel Mühe gegeben, den Tisch hübsch herzurichten. Viele kleine Gläser mit Kerzen erhellten das Gedeck. Als wir in die Küche kamen, waren alle versammelt und bastelten an einem Fruchtsalat herum.

»Wo wart ihr denn so lange?«, fragte Jesry vorwurfsvoll, worauf er Cathys Ellbogen in seinen Rippen spürte. »Darf ich denn nie was fragen?«, maulte er nicht ganz ernst.

»Nein, du hast heute schon genug gefragt!«, kläffte Cathy zurück und warf ihm einen, ebenfalls nicht ganz ernst gemeinten, warnenden Blick zu.

»Wir mussten auf die Pizza warten«, erklärte Josh und bat Monika, diese im Backofen aufzuwärmen.

»Wie soll ich die denn reinbringen? Die ist ja riesig!«, sagte Monika entsetzt.

»Wir können sie ja halbieren«, schlug Josh vor.

Marc übernahm diese Arbeit, während ich den anderen beim Früchteschneiden half. Cathy drückte Jesry eine Schüssel mit Sahne in die Hand, die er zu schlagen hatte. Er schaute ziemlich verdutzt aus der Wäsche und fragte Monika, wo sie den Mixer habe.

»Er ist drüben im Schrank, neben dem Tisch«, antwortete sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.

Jesry schlenderte zum Schrank.

Josh grinste vor sich hin, als er ihn fragte: »Bist du sicher, dass du dieses Gerät beherrschst?«

Allgemeines Gelächter. Nur Jesry fand es nicht besonders komisch und nahm trotzig die Arbeit in Angriff. Nach kurzer Zeit schrie Cathy laut: »Jesry, was zum Teufel machst du da? Du sollst die Sahne in der Schüssel schlagen und nicht die Wand damit weißeln!«

Riesengelächter! Cathy riss ihm den Mixer aus der Hand. Sie erklärte ihm, wie er ihn richtig halten sollte und streckte ihm kurz darauf einen Lappen hin, um die Sahne an der Wand zu entfernen. Das Gelächter hatte noch nicht ganz aufgehört, als Jesry stolz die geschlagene Sahne in der Schüssel präsentierte.

Aus dem Backofen begann es, herrlich zu duften. Ich freute mich auf die Pizza. Sie sah überwältigend gut aus.

Bald darauf saßen wir alle vergnügt am Tisch und verdrückten die Pizza.

Josh, Cathy und Marc erzählten uns, was Jesry schon alles passiert war. Er war wirklich ein unglaublicher Schussel. Ich stellte mich manchmal auch fahrig an, aber er war kaum zu übertreffen. Der arme Jesry war diese Erzählungen anscheinend gewohnt. Tapfer lachte er mit. Allerdings verging ihm dies kurze Zeit später, weil Abraham ihm sein Pizzastück vom Teller klaute, als er gerade nicht hinsah.

Ich hatte schon lange nicht mehr so viel gelacht und fühlte mich unglaublich wohl.

»Was machen wir morgen?«, fragte Jesry in die Runde. Es war verständlich, dass er das Thema wechseln wollte.

»Wir könnten Lisa und Monika die Stadt zeigen oder zum Strand fahren«, schlug Cathy vor.

»Das ist eine gute Idee, Lisa hat nämlich den Strand noch nie gesehen«, warf Josh ein, worauf ihm Jesry einen erstaunten Blick zuwarf.

Monika sagte traurig: »Ich kann morgen nicht, ich muss doch Johnny hüten und ich weiß nicht genau, wann Jo und Rita zurück sein werden.«

Sie tat mir ein bisschen Leid. Sie wäre sicher gerne dabei gewesen.

»Was ist mit dir Lisa, hast du morgen frei?«, fragte Cathy und strahlte mich an.

Sie wollten mich wirklich in ihre verschworene Gemeinschaft aufnehmen. Ich war gerührt. »Ja, hab ich, ich würde sehr gerne das Meer sehen. Und auch die Stadt. Überhaupt alles!«, plapperte ich drauflos.

»Ich kann leider morgen auch nicht, ich habe Familientreffen. Mein Großvater hat morgen Geburtstag«, sagte Marc und wirkte auch ein bisschen traurig. Er war ein sehr ruhiger Typ und sagte nie viel. Sein Äußeres passte nicht zu seinem Charakter.

»Ja stimmt, du hast mir mal erzählt, dass er fast am gleichen Tag wie ich Geburtstag habe«, warf Jesry ein. »Wo feiert ihr denn?«

»Bei uns zu Hause, die ganze Verwandtschaft wird eintrudeln!«, entsetzte sich Marc und verdrehte die Augen. Offensichtlich freute er sich nicht allzu sehr darauf.

»Übernachtest du heute hier?«, fragte Jesry Josh.

»Nein, ich muss die Katzen füttern.«

»Ich dachte, das übernimmt Jenny?«, wunderte sich Jesry.

»Sie ist übers Wochenende in die Berge gefahren«, erklärte Josh.

Ich wagte nicht zu fragen, wer Jenny war. Es ging mich überhaupt nichts an. Bestimmt war sie eine uralte, gebrechliche Oma.

»Also, was ist?«, wollte Josh wissen. »Wann soll ich euch morgen abholen?«

»So früh wie möglich, der Strand füllt sich schnell mit Leuten an solchen Tagen!«, meinte Cathy.

»Ich möchte aber ausschlafen!«, warf Jesry ein.

»Du kannst am Strand weiterschlafen«, bestimmte Cathy und schlug neun Uhr vor.

»Von mir aus, wie ist’s bei dir, Lisa?«, fragte Josh.

»Kein Problem, ich werde bereit sein. Holt ihr mich ab?«

»Natürlich«, sagte Josh.

Mittlerweile war das ganze Essen verputzt und wir begannen das entstandene Chaos aufzuräumen, was mangels Licht etwas schwierig wurde. Abraham half uns unaufgefordert, den Boden von den Krümeln zu befreien.

Als alles wieder sauber an seinem Platz stand, verabschiedeten wir uns voneinander.

»Vielen Dank, Monika. Es ist schade, dass du morgen nicht dabei sein kannst. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich trotzdem gehe. Ich ruf dich unter der Woche an. Was hast du am Dienstag vor? Würdest du mich zum Optiker begleiten? Ich möchte mir Kontaktlinsen anschaffen«, redete ich auf sie ein.

»Ich habe am Dienstag und Mittwoch frei. Ja, das könnten wir machen. Ruf mich doch noch mal vorher an. Machs gut und danke für die Schokolade!«

»Gern geschehen, mach’s auch gut!«

Ich verabschiedete mich von Marc und hoffte, ihn bald wiederzusehen.

Cathy umarmte mich, als ich ihr Auf Wiedersehen sagte. Ich fand das etwas übertrieben, da wir uns ja in ein paar Stunden wieder treffen sollten. Prompt kam dann auch Jesrys Kommentar: »Darf ich auch mal?« Er streckte seine Arme aus und setzte ein verschmitztes Lächeln auf.

»Untersteh dich!«, hörte ich Josh ihm zuflüstern, worauf Jesry ihm einen Aha-so-ist-das-also-Blick zuwarf.

Ich gab ihm die Hand und wünschte ihm eine schöne letzte Stunde seines Geburtstages.

Josh und ich gingen ums Haus rum. Er steuerte auf eine große, glänzende, rotbraune Limousine zu.

»Ist das dein Wagen?«, fragte ich erstaunt.

»Nein, er gehört meinem Vater. Er hat ihn mir überlassen, als er nach England ging. – Steig ein.«

Ich thronte regelrecht auf dem mit braunem Leder bezogenen Beifahrersitz. »Seid ihr eigentlich reich?«, kam es ungewollt aus meinem Mund.

»Nein, es geht uns zwar finanziell gut, aber reich sind wir noch lange nicht. Mein Vater hat all die Jahre hier in Kanada wie ein Verrückter gespart. So konnte er sich zwischendurch Dinge leisten, die andere nicht haben. Ein schönes Haus, einen großen Wagen, und vor allem sorgte er für uns Kinder. Er hat meiner Schwester und mir ein Konto eröffnet, über das wir frei verfügen können. Das ermöglicht mir, hier zu studieren, ohne dass ich nebenbei noch arbeiten muss.«

Wir fuhren los.

»Wo sagtest du, wohnst du?«

»In der Elm Street. Fahr auf der Oak Richtung Norden bis zur 49th. Dort musst du links abbiegen«, erklärte ich, als wäre ich schon Jahre hier.

»Und wie ist’s bei euch? Seid ihr reich? So ein Aufenthalt kostet doch sicher nicht wenig.«

»Ich habe mir das Geld während meiner Ausbildung selbst zusammengespart. So konnte ich den Flug bezahlen. Das übrig gebliebene Geld soll als Taschengeld dienen. Meine Eltern sind nicht reich.«

»Hast du die Schule bereits abgeschlossen?«

»Ja, schon vor drei Jahren. Ich habe dann eine kaufmännische Lehre absolviert und könnte jetzt Geld verdienen.«

»Warum tust du’s nicht?«

»Weil ich zuerst Sprachen lernen möchte. Ich brauche sie in meinem Beruf. Ich möchte gerne in einer Exportabteilung arbeiten. Dafür benötige ich Englisch und Französisch.«

Er schien zu überlegen. Ich blickte nach draußen und sah schon zum zweiten Mal ein Schild auf dem »Doughnuts« stand.

»Was ist das, Doughnuts?«

»Du weißt nicht, was Doughnuts sind?«

»Nein, tut mir Leid, ich habe nun schon zweimal ein Schild gesehen, auf dem das geschrieben steht. Aber ich habe keine Ahnung.«

»Bist du sehr müde oder soll ich dir zeigen, was es ist?«, fragte er erwartungsvoll.

Müde war ich keineswegs, eher nervös. »Wenn es deinen Katzen egal ist, würde ich sehr gerne wissen, was das ist.«

»Sie werden es mir verzeihen.«

Er lächelte und schwenkte in eine Seitenstraße ein, an der ein kleines, hell erleuchtetes Ladenlokal stand.

»Komm«, sagte er, nachdem er den Wagen geparkt hatte, »da müssen wir hinein.«

Ich war gespannt, was mich erwartete.

Josh führte mich vor eine große Glasvitrine, in der sich eine Vielzahl von Gebäckkugeln in allen Variationen zur Schau stellten. Ich war fasziniert.

»Hier, das sind Doughnuts«, verkündete er freudestrahlend.

»Das sind ja mindestens dreißig verschiedene Sorten«, staunte ich.

»Dreiundvierzig«, korrigierte mich freudig der Ladeninhaber hinter der Theke.

»Such dir einen aus«, bat mich Josh.

Das fiel mir schwer. Ich konnte mich beinahe nicht entscheiden. Alle sahen sie gut und verlockend aus. »Den da, mit dem Schokoladeüberzug und den Pistazien, bitte«, bestimmte ich schlussendlich.

»Ja, der ist besonders gut«, meinte Josh und bestellte für sich einen mit Bananenfüllung.

Wir nahmen unsere Doughnuts und setzten uns an einen der kleinen runden Bistrotische. Außer uns und dem Ladenbesitzer schien niemand hier zu sein. Das störte mich nicht. Ich biss in den sehr klebrigen Doughnut, während Josh mich gespannt beobachtete. Ich ließ mir nicht anmerken, dass er mir hervorragend schmeckte.

»Du magst ihn nicht«, sagte er enttäuscht, worauf ich anfing zu grinsen. Sofort hellte sich sein Gesicht wieder auf.

»Ich mag ihn sehr. Er schmeckt toll.«

»Darf ich dir etwas sagen, Lisa?«

Jetzt kam nichts Gutes, dachte ich.

»Ich finde, du bist keine typische Nanny. Du bist anders als die anderen.«

Entsetzt starrte ich ihn an. Was war denn jetzt los? Aber, ich wollte ihn zuerst ausreden lassen.

»Ich habe schon ein paar Nannys kennen gelernt. Keine war wie du. Die meisten, vor allem die Schweizerinnen, sind kalt wie Eis. Sie wollen nichts mit uns zu tun haben. Sie interessieren sich nicht für unsere Lebensweise und bleiben unter sich. Manchmal glaube ich sogar, sie haben Angst vor uns.«

Was sollte ich bloß dazu sagen?

Er fuhr fort: »Du hast mir viele Fragen gestellt, du hast mich regelrecht ausgefragt. Ich mag neugierige und offene Menschen. Anscheinend interessierst du dich für ... uns.«

Die kleine Pause in seinem Satz ließ meinen Magen wieder rumoren. Mir wurde warm. Irgendwie musste ich versuchen, das Thema zu wechseln. Aber es fiel mir nichts Passendes ein. Ich suchte nach einer möglichen Erklärung zu seiner Feststellung: »Ich bin nicht nach Kanada gekommen, um mit Schweizer Mädchen zusammen zu sein. Ich will hier Freunde finden. Ich will die Gewohnheiten der Menschen und die Mentalität kennen lernen. Für mich ist das sehr wichtig. Freunde habe ich ja schon gefunden. Ihr seid wirklich toll!«

»Ja, ich habe gemerkt, dass du dich bei uns wohl fühlst.«

»Ach, da spricht der Psychologe!«, meinte ich gespielt schnippisch.

»Leider nicht, sonst würde ich wissen, wie du dich in meiner Gegenwart fühlst.«

Mein Magen wollte schon wieder verrücktspielen. Jetzt kam es. Er schaute mich mit seinem unschuldigen Blick an. Was sollte ich denn jetzt sagen? Ich hatte mich fast nicht mehr im Griff. Meinen halb aufgegessenen Doughnut legte ich hin, damit er mir vor Aufregung nicht runterfiel. Zum Glück hatte ich den Mund voll, so konnte ich nichts sagen. Ich hätte eh nicht gewusst, was. Mein Herz pochte. Mir war, als wollte es vor lauter Aufregung zerspringen.

Er schmunzelte und startete zum Frontalangriff: »Weißt du, Lisa, ich mag dich wirklich sehr. Ich hätte einfach gerne gewusst, ... ob du ... mich auch magst.«

Wieder dieser unglaubliche Blick. Jetzt war’s raus, dachte ich. Es ging mir ein klein wenig besser. Er mochte mich. Er war sehr offen und direkt zu mir. Also erwartete er das Gleiche von mir.

Ich riss mich zusammen, schluckte und sagte: »Natürlich mag ich dich, aber du machst mich ganz nervös.«

Triumphierend schmunzelte er, biss in den Rest seines Doughnuts und sagte dann: »Du hast sicher viele Freunde zu Hause.«

»Nein, hab ich nicht.«

»Nein? Und warum nicht?«

»Na ja, ich mag zwar Menschen so wie du, die sagen, was sie denken, aber solche sind in der Schweiz sehr dünn gesät. Natürlich habe ich ein paar Schulfreundinnen, aber die gehen jetzt alle ihre eigenen Wege, ziehen fort, so wie ich. Und ich bin nicht gerne mit vielen Mädchen zusammen. Jungs sind die besseren Kumpel. Ich wollte immer einen älteren Bruder haben, der mich beschützt.«

»Dann hast du bestimmt einen Freund!«

Lachend verneinte ich.

Sein Gesicht hellte sich auf. »Warum denn nicht? Gibt’s diese Sorte Männer nicht in der Schweiz?«

»Ich habe noch keinen getroffen, der mir gefiel. Zudem hatte ich keine Zeit. Die Ausbildung war für mich wichtiger. Ich wollte meine Schule und das Examen mit guten Noten beenden. Ich wollte mir keine unnötigen Steine in den Weg legen. Aber warum hast du eigentlich keine Freundin?«

Er wurde wieder ernst und seufzte: »Ich habe seit gut zwei Jahren keine mehr. Ich will warten, bis ich die Richtige gefunden habe. Ich bin nicht der, der mit Mädchen spielt. Obwohl Jesry das gerne so hätte, nur um dann genügend Stoff zu haben, um sich über mich lustig zu machen. Auch er ist übrigens nicht der Typ dazu, obwohl es vielleicht den Anschein macht.«

Das wunderte mich wirklich. Aber ich wunderte mich mehr über Josh. Waren denn alle Mädchen in Vancouver blind? Er sah doch blendend aus, war nett und intelligent. Ich konnte mir das nicht erklären. Sollte ich nachhaken? Nein, das wollte ich nicht. Ich war völlig verwirrt. »Du bringst mich ganz durcheinander!«, kam es ungewollt aus meinem Mund.

Meine Güte, was hatte ich bloß gesagt? Ich schaute ihn an und wartete beschämt auf seine Reaktion. Er hob seinen Kopf ein wenig und sah mir tief in die Augen. Er hielt mein Kinn fest und küsste mich. Ich war wie gelähmt, obwohl es in mir wie in einem Vulkan brodelte.

»Geht’s dir gut? Ist alles o. k.?«

»Ja, ich glaube schon. Ich zittere zwar am ganzen Körper. Wie kannst du nur so ruhig sein?«

»Ich bin nicht ruhig. Gib mir deine Hand.«

Er nahm meine Hand und hielt sie auf seine Brust. Ich spürte sein Herz rasen. Doch da war noch was. »Du zitterst ja auch!« Das beruhigte mich.

Wir lachten beide und küssten uns noch einmal.

Dann flüsterte er: »Wir sollten wohl aufbrechen. Ich möchte nicht schuld sein, wenn meine Katzen den Hungertod sterben.«

Er bezahlte und wir gingen Hand in Hand zum Wagen. Es war nicht mehr weit bis zu meiner Wohnung. In der Dunkelheit war die Straße fast nicht zu sehen und wir mussten uns Mühe geben, sie nicht zu verfehlen.

»Hier ist es«, rief ich und er hielt an. »Bis morgen dann«, sagte ich und gab ihm einen Kuss. Eine Frage wollte ich ihm aber noch stellen: »Wirst du es den anderen erzählen?«

Er lächelte und meinte: »Du kennst Jesry ja mittlerweile auch ein wenig. Du kannst darauf wetten, dass er mich morgen als Erstes fragen wird, ob etwas passiert ist zwischen uns.«

»Ja, das befürchte ich auch. Dann gute Nacht ... und sei vorsichtig.«

»Die Katzen werden mich schon nicht beißen!«, versuchte er mich zu beruhigen.

»Die meinte ich nicht, ich meinte den Straßenverkehr!«

»Ach so, ja klar! Keine Sorge!«

Er winkte mir lächelnd zu und fuhr weg. Ich schlich mich in mein Zimmer und versuchte, mich erst einmal zu sammeln. Während meiner Abendtoilette ging mir nochmals alles durch den Kopf. Im Bett liegend starrte ich an die Decke und überlegte weiter. Mein Magen hatte sich inzwischen wieder beruhigt. Nur ab und zu verspürte ich noch ein leichtes Kribbeln. Ich war erst vier Tage in Kanada und hatte schon meine erste Liebeserfahrung hinter mir. Ich hatte tolle Freunde gefunden. Es ging mir gut. Ich war der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt. Und ich freute mich auf den Sonntag.

Sehnsuchtsort Vancouver

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