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8. Das Wochenende

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Am Donnerstagmorgen unternahm ich mit den Kindern einen längeren Spaziergang. Ich wollte die nähere Umgebung weiter erkunden. Wir spazierten bei schönem Wetter bis zum Flussufer des Fraser River. Mich faszinierte diese Weite des Landes, die Größe der Stadt. Doch Vancouver kam mir nicht vor wie eine Großstadt. Die Hektik hielt sich in Grenzen. Und außerhalb, also da, wo ich wohnte, war es sehr angenehm. Die Farben der Landschaft, der Pflanzen und des Wassers empfand ich kräftiger und leuchtender als in der Schweiz. Mich faszinierten der Fluss, das Meer und die Berge. Wie gerne würde ich in die Berge gehen. Vielleicht ließe sich das ja mal machen, wenn Josh Ferien hatte. Ich träumte vor mich hin, schob die Kinder im Wagen umher, bis sie schließlich beide einschliefen. Ich setzte mich ans Ufer des Flusses und genoss einfach die Aussicht. Auf der angrenzenden Insel konnte man die Flugzeuge landen und starten sehen. Dort hatte ich zum ersten Mal meinen Fuß auf kanadischen Boden gesetzt und überhaupt keine Ahnung gehabt, was mich hier erwarten würde. Und jetzt, nach einer Woche, fühlte ich mich hier bereits zu Hause und hatte kein bisschen Heimweh.

Ich genoss meine Freiheit. Ich hatte keine lästigen Hausaufgaben mehr zu erledigen, sondern viel Freizeit. Laut Vertrag musste ich jeweils von Montag bis Freitag, von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags, arbeiten, und an den Wochenenden und Feiertagen bekam ich frei. Zusätzlich erhielt ich während des Jahres zwei Wochen Ferien, die aber üblicherweise erst am Ende des Aufenthaltes bezogen wurden. Ich erhielt jeden Monat ungefähr 300 CDN-$ ausbezahlt, was für mich viel Geld bedeutete, wenn man betrachtete, dass Essen und Unterkunft gratis waren. Ja, und dann war da Josh. Er hatte viel Anteil daran, dass es mir gut ging. Ich war froh, mich nicht nur mit Schweizerinnen herumschlagen zu müssen. Da fiel mir plötzlich wieder ein, dass Monika gestern ihr Rendezvous gehabt hatte. Ich wollte sie heute noch anrufen, um sie danach zu fragen. Da ich ziemlich weit zu Fuß gegangen war, beschloss ich, mit dem Bus zurückzufahren. Rebecca freute sich immer, wenn sie mit dem Bus fahren konnte. Es war anscheinend etwas Besonderes für sie.

Als ich am Mittag kurz Zeit hatte, rief ich Monika an: »Hallo Monika, ich wollte dich fragen, wie es gestern war.«

»Oh, frag lieber nicht. Es war grauenhaft.« Sie hörte sich weinerlich an.

»Was ist denn passiert? Hast du mit Roy gesprochen?«

»Ja, ich habe mit ihm sogar etwas getrunken. Er hat mich eingeladen. Und da hat er mir dann gesagt, dass er zwar eine Freundin habe, aber trotzdem gerne mit mir ausgehen würde. Toll, nicht?«

»Nicht sehr. Und wie hast du reagiert?«

»Ich habe ihm gesagt, ich ginge nicht mit Jungs aus, die Freundinnen hätten.«

»Das war gut. Und was hat er dann gesagt?«

»Er hat gelacht und gemeint, dass da nichts dabei sei. Er wolle ja nichts von mir.« Sie hustete, aber es klang eher so, als wollte sie das Weinen unterdrücken.

»Na ja, vielleicht meint er es wirklich so, wie er es gesagt hat. Aber dann wäre es angebracht, wenn du nicht alleine mit ihm ausgehen würdest, meinst du nicht? Vielleicht ist er ja ein ganz guter Kumpel. So wie Jesry für mich.«

»Ich möchte aber keinen Kumpel, sondern jemanden für mich alleine.«

»Das kannst du doch nicht erzwingen. Da spielen Gefühle mit. Bei mir war das zumindest so, als ich Josh kennen lernte. Und wenn da keine Gefühle sind, dann ist er eben ein Kumpel. Oder nicht?«

»Ich sehe das etwas anders, aber was soll’s. Ich habe jetzt ein Auge auf Dillon geworfen.«

»Wer ist denn Dillon?«

»Ein Masseur im Karateklub.«

»Oha! Na ja, du musst wissen, was du tust. – Sehen wir uns nächste Woche?«

»Mal sehen, vielleicht ruf ich dich an. Mach’s gut.«

»Ja, du auch. Bis dann.«

Ich war total verwirrt.

Monika wirkte kalt und unfreundlich, als ob sie mich abwimmeln wollte. Ich hatte in der Tat nicht immer das Heu auf der gleichen Bühne wie sie, aber so schlecht verstanden wir uns doch auch nicht. Vielleicht war sie etwas neidisch auf mich und Josh. Ja, das würde es wohl sein. Sie brauchte Zeit, um ihre Enttäuschung zu verdauen. Sicher würde sie mich nächste Woche anrufen.

Kaum war Roxanne wach, begann sie mich über den gestrigen Abend auszufragen: »Na, wie war’s?«

Ich spielte die Dumme. »Wie war was?«

»Na, dein Date mit Josh?« Sie grinste.

»Es war gut.«

Ich stand auf und räumte den Tisch ab. Sie schaute mir dabei aufmerksam zu, als ob sie auf eine weitere Erklärung warten würde. Als die nicht kam, bohrte sie weiter: »Gut? Ist das alles? Und nichts passiert?«

Das reichte! Ich hatte keine Lust, jedes Mal einen Rapport abliefern zu müssen. Und schon gar nicht über mein Sexualleben. »Hör zu, Roxanne. Ich mag dich wirklich, aber ich möchte einen Teil meines Liebeslebens für mich behalten. Josh ist mir zu wichtig. Ich bitte dich, das zu verstehen.« Fragend sah ich sie an. Wie würde sie reagieren?

Sie betrachtete ihre Hände und suchte vermutlich nach den richtigen Worten. »Ich habe gedacht, wir seien Freundinnen. Ich wollte doch nicht alles erfahren, nur ... ob ...« Sie schaute mich schuldbewusst an. Sie wollte offenbar die Worte »zusammen schlafen« nicht laut aussprechen. Sie meinte es ja im Grunde gut. Also gab ich ihr die erlösende Antwort: »Also gut, Roxanne. Nur, damit du beruhigt bist, es ist nichts passiert.«

Sie lächelte verlegen.

»Aber bitte lass in Zukunft solche Fragen.«

»Ja, gut.« Sie blickte beschämt auf den Tisch.

Jetzt tat sie mir fast ein bisschen Leid. Ich legte ihr meine Hand auf die Schulter und sagte: »Ich frage dich auch nicht aus, wann und wo du mit Carl schläfst, nicht wahr?«

Sie sah in mein grinsendes Gesicht und fing an zu lachen. »Ja, du hast natürlich Recht. Tut mir Leid.«

»Schon gut. Ach, übrigens, wenn wir schon bei diesem Thema sind, und bitte frag nicht weiter, ich werde am Samstagabend nicht nach Hause kommen.«

Ich wartete auf eine Reaktion.

Roxanne lächelte, stand auf, und sagte: »Geht in Ordnung.«

Der Freitag verlief wie gewöhnlich ruhig. Mit den Mädchen machte ich einen kleinen Spaziergang zur Bibliothek, um neue Bücher zu besorgen. Wir verbrachten beinahe eine Stunde dort. Ich borgte mir ein Buch mit wunderschönen Bildern über die kanadischen Rocky Mountains aus. Die anderen gingen auf das Konto der Kinder.

Carl war an diesem Abend unausstehlich. Es war nichts recht. Anscheinend lief es ihm bei der Arbeit nicht gut. Sein Training wurde abgesagt, Roxannes Essen schmeckte ihm nicht, und der Wein hatte Korken. Man muss dazu erwähnen, dass die Weinflasche einen Drehverschluss hatte! Dies amüsierte Roxanne und mich natürlich. Carl bemerkte offenbar seinen Fehler, ließ sich aber nichts anmerken. Bald darauf fing er an, an mir rumzunörgeln: »Lisa, ich möchte nicht, dass du nochmals so weit mit den Kindern spazieren gehst! Sie können so keinen Mittagsschlaf halten. Du siehst ja, wie müde sie jetzt sind. Sie können kaum aufrecht sitzen.«

»Sie haben doch im Wagen geschlafen. Und müde sind sie wahrscheinlich von der frischen Luft«, erklärte ich ihm.

»Ja, kann sein, aber in Zukunft gehst du mit ihnen nur noch hier in der Gegend spazieren. Und bei Regen gar nicht mehr.« Er aß weiter.

Ich sah Roxanne an. Wir verstanden offenbar beide nicht, was jetzt los war.

»Was soll ich denn mit ihnen anstellen, wenn ich nicht spazieren gehen kann? Roxanne braucht doch ihre Ruhe.«

»Das ist mir egal, du hast den Job gewollt, also lass dir etwas einfallen!« Er meinte es ernst.

Ich wusste darauf nichts mehr zu antworten. Mir fehlten die Worte, nicht nur auf Englisch.

Roxanne setzte ihr süßestes Lächeln auf und sagte: »Carl, meinst du nicht, dass du doch etwas unfreundlich zu Lisa bist?«

Das war zu viel für ihn. Er schmiss seine Gabel auf den Teller, stand auf und schrie: »Jetzt bist du mutiger, nicht wahr, Roxanne! Jetzt hast du jemanden gefunden, der dir hilft! Das wird aber nicht klappen. Du solltest dir gut überlegen, auf welcher Seite du stehst!« Er schnappte seine Jacke, ging zur Tür, drehte sich aber nochmal zu uns um: »Und noch was, Lisa, ich mag meine Hemden nicht mit Bügelfalte! Roxanne soll dir zeigen, wie man richtig bügelt!«

Er knallte die Tür hinter sich zu. Wir waren geschockt. Was war nur mit ihm los? War der Frieden in diesem Haus bis jetzt nur gespielt gewesen? Ich verstand gar nichts mehr. Auch Roxanne saß immer noch mit geöffnetem Mund da und bekam langsam wässrige Augen.

»Lisa, geht’s dir gut?«, fragte sie mich plötzlich.

»Ja, es geht.«

Roxanne fasste sich sehr schnell und räumte den Tisch ab, als ob nichts geschehen wäre. Ich hingegen sammelte immer noch meine Gedanken.

»Roxanne, was sollte das eben sein? Hab ich so viel falsch gemacht?«

»Nein, Lisa, hast du nicht. Aber ich habe dir erzählt, dass Carl sehr aufbrausend sein kann.«

Ja, das hatte sie mir erzählt. Aber einfach so? Ohne triftigen Grund? Das Wochenende stand glücklicherweise bevor.

Als Roxanne zur Arbeit ging, versicherte ich ihr, dass ich hier bleiben und nach den Kindern sehen werde. Sie verabschiedete sich dankbar und meinte gelassen: »Lisa, ich bin sicher, Carl kommt bald nach Hause. Und er wird sich sehr schlecht vorkommen, dass er dich so behandelt hat. Nimm ihn nicht zu ernst. Er ist nun mal so.«

»Ja, vielleicht. – Ich werde morgen übrigens erst um neun abgeholt. Wir sehen uns dann noch. Bis dann. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Lisa!« Sie ging und ließ mich mit den Kindern alleine.

Die Kleinen hatten von alldem nichts mitbekommen. Sie schliefen bereits tief.

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich überlegte mir, was wohl wäre, wenn Carl nach Hause käme und mich wieder beschimpfen würde? Und was, wenn er auf die Kinder losginge? Vor Letzterem hatte Roxanne am meisten Angst. Ja, Angst, das war genau das, was auch ich im Moment empfand. Ich hatte Angst vor Carl. Schnell packte ich meine Sachen für das Wochenende und verbarrikadierte mich in meinem Zimmer. Unter das Bett legte ich Carls alten Baseballschläger, den er in meinem Zimmer aufbewahrte. Ich wollte sicher sein und beruhigt schlafen können.

Es dauerte lange, bis ich eingeschlafen war, und wachte am Morgen vor acht Uhr wieder auf. War Carl zurück? Ich schlich zum Kinderzimmer und spähte kurz hinein. Bei den Kindern war alles in Ordnung. Beide schliefen noch. Dann ging ich ins Badezimmer, duschte und machte mich fertig. Carls Jacke hing an ihrem Platz. Er war also wieder hier.

Ich richtete für alle das Frühstück, obwohl ich dies eigentlich am Wochenende nicht hätte tun müssen. Aber Roxanne war bestimmt froh darüber.

Als sie kurz vor neun Uhr nach Hause kam, strahlte sie mich an. Ich wunderte mich darüber, denn sonst sah sie immer sehr müde aus.

»Guten Morgen, Roxanne. Dir geht’s anscheinend sehr gut!«

»Ja, Carl hat mich gestern Nacht noch angerufen und sich entschuldigt. Er meinte, er müsse sich wohl auch bei dir entschuldigen.«

Das tat gut. Er wusste also, dass er sich unmöglich benommen hatte. »Ist schon o. k.«, sagte ich und würgte mein letztes Stück Toast hinunter.

Ich eilte ins Badezimmer, um meine Zähne zu putzen. Ich war sehr aufgeregt.

Roxanne saß am Tisch, als ich meine Tasche schnappte und ihr ein schönes Wochenende wünschte: »Genießt es. Ich werde es auch tun.«

Draußen war es sommerlich warm, doch es zeigten sich am Horizont die ersten dunklen Wolken. Ich starrte zum Himmel, hoffte, dass es heute und morgen nicht regnen würde, als auch schon Josh rasant vorfuhr.

»Hallo Lisa. Bin ich zu spät?!«

Ich sah auf die Uhr. »Ja, zwei Minuten. Schäm dich!« Lachend stieg ich ein.

Wir gaben uns nur einen flüchtigen Kuss. Ich war mir sicher, dass Roxanne ihre Froschaugen ausgefahren hatte und uns auch die Oma vermutlich hinter den Vorhängen belauerte. Josh wirkte irgendwie ernst.

»Stimmt was nicht?«

Ertappt sah er mich an. »Nein, alles in Ordnung. Ich bin nur etwas müde.« Doch dann wieder dieser ernste Blick.

Ich wechselte das Thema. »Ich freue mich auf dein Zuhause«, und etwas spöttisch sagte ich noch: »Ich hoffe, du hast extra wegen mir aufgeräumt.«

»Ja, deshalb bin ich so müde. Hab die ganze Nacht geputzt!«

»Das ist nicht wahr!«

»Nein, ist es nicht.« Er lächelte mich an. »Wir haben eine Putzfrau, die immer freitags vorbeischaut und alles in Ordnung bringt. Es ist also heute prima sauber.«

»Eine Putzfrau? Toll, das hätte ich auch mal gerne.«

»Sag das nicht. Ich weiß nicht, wie viele Male ich meine Schultasche am Montagmorgen schon suchen musste, weil Carla sie weggeräumt hat.«

Wir fuhren auf dem Highway 99 Richtung Süden, überquerten den Nordarm des Fraser River und fuhren durch eine, so fand ich, langweilige Wohngegend namens Richmond. Beim Anblick dieser Siedlungen fielen mir unweigerlich Hollywoodfilme ein. Wie die Häuser der gesitteten Normalbürger in unzähligen Filmen, mit einem gepflegten Rasen, einer großen Garage und einem glänzenden Mittelklassewagen davor. Am Haus ein Basketballnetz und in den Fenstern Rüschenvorhänge. Nein, Richmond gefiel mir nicht besonders.

Dann unterquerten wir den Südarm des Fraser Rivers durch einen Tunnel und erreichten Delta. Auf der rechten Seite des Highways konnte ich eine Meeresbucht erkennen. »Wie heißt die Bucht? Ist das die, welche du aus deinem Zimmer siehst?«

»Ja, das ist die Mud Bay. Sie ist leider nicht besonders schön, daher vermutlich der Name. Es gibt schönere.«

»Zeigst du sie mir alle?«

»Wenn du möchtest. Dann musst du aber länger als ein Jahr hier bleiben, sonst reicht die Zeit nicht.« Er lächelte. »Es gibt sicher hunderte von schönen Buchten hier. Morgen wirst du eine davon sehen. White Rock ist bekannt für seinen schönen Strand.«

Wir verließen den Highway und fuhren Richtung North Delta. Hier gefiel es mir schon wesentlich besser. Es schien eine gediegene Gegend zu sein. Die meisten Grundstücke und Häuser waren größer, die Garagen und Wagen ebenso. Es war auch grüner. Die Gärten waren gepflegt, und zwischen den Häusern wuchsen große, alte Bäume.

Bald erreichten wir die Clark Street. Hier also wohnte Josh. Er stoppte vor einem schönen, geräumigen Haus. Auch ein wenig hollywoodlike. Es war ebenerdig gebaut und hatte große Fenster. Keine Rüschenvorhänge! Eine große Doppelgarage mit Vorplatz war am Haus angebaut. Und ringsherum sah ich den üblichen hohen Holzzaun.

Das Haus war völlig von alten Bäumen beschattet. Es gefiel mir sehr gut. Die Nachbarhäuser waren im ähnlichen Stil gebaut.

»Möchtest du nicht reinkommen?« Er hielt mir anscheinend schon länger die Tür auf, was ich nicht bemerkt hatte.

Durch die große, doppelte Eingangstür erreichten wir einen riesigen Korridor. Ein einladendes Sofa stand an einer Wand. An der anderen war eine große Garderobe befestigt.

»Wow, Josh, das ist ja eine richtige Villa.« Ich staunte nicht schlecht.

»Übertreib es nicht. Es ist einfach ein bisschen größer als das von Jesry. Zudem hat mein Onkel ja keine Familie. Da kann er sich das leisten.«

»Ja, aber, er hat nicht viel davon, weil er nie da ist.«

»Da hast du Recht. Umso mehr jetzt wir.« Er grinste.

Was dachte er sich wohl dabei? Ich fragte lieber nicht.

Er führte mich durchs ganze Haus. Das riesige Wohnzimmer hatte einen offenen Kamin, und wuchtige bequeme Sessel luden zum Verweilen ein. Die rustikale Holzküche war in einem großen Erker untergebracht und zum Wohnzimmer hin nur durch eine Theke getrennt. Im hinteren Teil befand sich das Schlafzimmer des Onkels, mit Sicht in den Garten und mit eigenem Badezimmer. Gleich nebenan war ein kleines Gästezimmer, das aber noch immer größer war als mein Zimmer. Gegenüber lag ein kleines Badezimmer und nebenan war Joshs Reich. Sein Zimmer war ebenfalls sehr groß. Das Bett stand in der Mitte nahe der dreiflügeligen Glastür zum Garten. An der Wand gegenüber stand eine große Schrank- und Regalwand mit integriertem Schreibtisch. Im Regal waren ein kleines Fernsehgerät, das Radio und der Plattenspieler mit einer kleinen Plattensammlung untergebracht. Daneben befand sich die Tür zum Badezimmer.

»Du hast ein eigenes Badezimmer?«, staunte ich.

Er strahlte und nickte.

»Wow, Josh, dieses Haus ist ein Traum.« Ich war tief beeindruckt. Für mich war das ein halbes Schloss.

Es klingelte an der Tür.

»Warte, ich bin gleich wieder da.« Er ließ mich im Zimmer allein.

Ich ging zum Regal, wo Josh viele Familienfotos aufgestellt hatte. Auf einem sah ich ein lächelndes Paar. Der Mann hatte Joshs Augen. Das mussten also seine Eltern sein. Sie sahen sehr sympathisch aus. Seine Mutter hatte dieselben Haare und die gleichen Gesichtszüge wie Josh. Die wunderschönen Augen hatte er offensichtlich vom Vater geerbt. Daneben stand ein Foto eines Mädchens mit gekrausten, dunkelbraunen langen Haaren. Wieder sah ich Joshs Augen. Das musste Maria sein. Sie war sehr hübsch. Ich war völlig in die Fotos vertieft, als Josh mich anstupste: »Lisa, wenn du dich einen Moment von meiner Bildergalerie trennen könntest, würde ich dir gerne Jenny vorstellen.«

Ich blickte in ein strahlendes Mädchengesicht. Sie trug kurze, blonde Haare und hatte Sommersprossen im Gesicht.

»Hallo, Jenny, freut mich, dich kennen zu lernen.« Ich reichte ihr die Hand.

»Ja, hallo! Ich wohne nebenan.«

»Ich weiß. Du bist diejenige, die aufpasst, dass Josh keinen Mist baut, nicht wahr?«

Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand und errötete leicht. »Nein, ich schaue nach den Katzen und gieße den Garten. Ich bekomme dafür Geld. Ich kann mir bald ein eigenes Telefon kaufen.«

»Das ist toll. – Hast du auch Geschwister?«

»Ja, einen Bruder. Aber der ist doof. Er plagt mich die ganze Zeit und stellt dauernd seine Zinnsoldaten in den Weg.« Sie verdrehte die Augen und machte eine Grimasse.

»Jenny wollte wissen, ob sie dieses Wochenende die Katzen füttern muss. Sie möchte nämlich lieber bei einer Freundin übernachten.«

»Ich habe während meiner Schulzeit auch oft bei Freundinnen übernachtet. Ich wünsche dir viel Spaß.«

Sie verabschiedete sich. Josh begleitete sie hinaus.

Als er zurückkam, lehnte er sich an die offene Zimmertür und beobachtete mich mit verschränkten Armen, als ich mir die restlichen Bilder ansah. Ein hübscher kleiner Junge war auf einem zu sehen. Das war bestimmt Josh. Gleich daneben war er mit seiner Schwester in einem Planschbecken zu sehen. Sie hatten sichtlich Spaß.

»Wie alt bist du auf diesen Bildern?«

Er kam näher.

»Da muss ich ungefähr fünf gewesen sein. Ein hübscher Junge war ich!« Er lächelte.

»Das bist du noch immer.« Dann zeigte ich auf das Bild seiner Schwester. »Ist dies Maria?«

»Ja, das ist sie, kurz bevor es passierte.« Er wurde wieder traurig. »Heute sieht sie anders aus.«

»Wie meinst du das?«

»Sie hat ernste Gesichtszüge bekommen und eine gewisse Angst steht in ihren Augen geschrieben, und sie hat sich die Haare abgeschnitten.« Es fiel ihm schwer, darüber zu reden.

Ich lenkte ab: »Und das sind bestimmt deine Eltern, nicht wahr?«

»Ja, du bist gut.«

»Das ist auch nicht sehr schwer zu erraten. Du bist ihnen sehr ähnlich.«

Ich war so fasziniert von seiner Welt, dass ich ihn noch nicht einmal umarmt hatte. Ich holte dies sogleich nach und fühlte mich in seinem Haus, in seinem Zimmer und in seinen Armen unglaublich wohl.

Wir standen lange Zeit so da, bis vom Boden her ein lautes Miauen zu hören war.

»Hallo, Butcher! Hast du Hunger?«

Der schwarze Kater schnurrte heftig und schlich um Joshs Beine herum. Dabei drückte er seine gelben Augen zu Schlitzen zusammen.

»Wie heißt er, hast du gesagt?«

»Butcher!«

»Ein ungewöhnlicher Name, warum Butcher?«

»Ganz einfach, weil er zu ihm passt. Schon am ersten Tag, als er bei uns war, präsentierte er uns ganz stolz einen Vogel, den er gefangen hatte. Ich schimpfte mit ihm und nahm ihm den Vogel weg, worauf er wieder in den Garten rannte. Kurze Zeit später kam er mit einem jungen Eichhörnchen zurück. Seitdem heißt er Butcher. Er hat oft was gefangen. Seit wir hier wohnen, findet er allerdings nicht mehr viel. Die Bäume sind viel höher. – Nicht wahr, Kleiner?«

Er streichelte ihn und setzte ihn aufs Bett. Butcher stampfte die halbe Bettdecke durch. Er war ein wirklich süßer Kater.

»Wo ist die zweite Katze?«, wunderte ich mich.

»Theresa wird draußen sein. Sie ist sehr scheu. Das vollkommene Gegenteil von Butcher. Sie lässt sich nicht so gerne streicheln und kommt meistens nur zum Fressen und Schlafen rein. – Was möchtest du heute unternehmen?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht zeigst du mir ja die Gegend hier ein bisschen?«

»Ja, das könnte ich tun.«

Ich ging zum Fenster und warf einen Blick in den Garten. Der Himmel hing düster über der Wiese und den Bäumen.

»Ihr habt einen Whirlpool?«

»Ja, ich hab ihn erst vor zwei Wochen gefüllt. Es tut gut, nach der Schule kurz hineinzuspringen.«

»Ich war noch nie in einem Whirlpool. Ist der warm?«

»Ja, er ist geheizt. Möchtest du ihn ausprobieren?«

Sein listiges Lächeln gefiel mir gar nicht.

»Nein Josh, ein andermal gerne. – Wo ist denn nun das Meer?«

Er bat mich, auf sein Bett zu steigen und den Hals zu strecken. So konnte ich ein sehr kleines Stückchen der Mud Bay erkennen.

Ich stieg wieder hinunter, stolperte und fiel in Joshs Arme.

»Hey, nicht so stürmisch! Du machst sonst Jesry noch Konkurrenz«, lachte er.

»Das liegt daran, dass dein Bett zu weich ist. Ich bin das nicht gewohnt. Zu Hause habe ich ein ganz hartes Bett«, wollte ich mich aus der Affäre ziehen.

»Tun dir die Knochen dann nicht weh am Morgen?«

»Nein, überhaupt nicht. – Du hast es hier wirklich schön, Josh. Ich fühle mich sehr wohl.«

Wir schmusten weiter.

»Was würde wohl dein Onkel sagen, wenn er uns so sähe?«

»Nichts! Du lernst ihn bald kennen. Er ist ein sehr ruhiger und sehr sympathischer Kerl. Er ist froh, dass ich im Haus wohne, sonst hätte er mich nicht freiwillig hier aufgenommen. Als es darum ging, mich hier wohnen zu lassen, hat er nur eine Bedingung gestellt: Ich musste ihm versprechen, dass Jesry nicht auch noch einzieht, da er sonst Angst um sein Inventar haben müsste.«

Ich himmelte Josh an und fragte: »Und wo schlafe ich heute?«

Leicht erstaunt sah er mich an und schmunzelte: »Oh, äh, wenn dir mein Bett zu weich ist, kann ich dir eine Decke holen und du kannst am Boden schlafen. Vielleicht finde ich ja noch ...«

Ich schubste ihn aufs Bett, wo er liegen blieb und mich dann lachend, mit verschränkten Armen hinter dem Kopf, beobachtete. – Ich durchstöberte seine Plattensammlung. Er hatte verschiedene Interpreten, davon einige John-Denver-LPs.

»Du magst John Denver?«

»Ja, ich mag seine Stimme und die Lieder. Kennt man ihn bei euch auch?«

»Natürlich, wir wohnen doch nicht im Dschungel.«

»Nein, aber in den Bergen.«

Ich sah ihn erstaunt an und verbesserte ihn: »Warum glauben eigentlich alle, die Schweiz bestünde nur aus Bergen?«

»Stimmt das denn nicht?«

»Nein, ich komme aus einer Region, die nur hügelig ist. Um in die Berge zu kommen, fahren wir bis zu zwei Stunden mit dem Auto.«

»Das ist doch in den Bergen. Hier braucht man auch so lange, um in die Berge zu kommen.«

»Aber hier kannst du sie schon von der Wohnung aus sehen. Wir können das nicht. Da sind etliche Hügel dazwischen. – Zeigst du mir die kanadischen Berge?«

»Wenn du mir später einmal die Schweizer Berge zeigst?«

»Das würde ich gerne tun, das dauert aber noch mindestens ein Jahr, und wer weiß, vielleicht sind wir ja bis dahin gar nicht mehr zusammen ...«

»Schhh«, machte er. »Daran solltest du nicht einmal denken, Lisa! Ich zeige dir zuerst unsere Berge. – Was machst du am nächsten Wochenende?«

»Ich werde mit einem gut aussehenden, jungen Mann essen und anschließend ins Kino gehen. Dort wird er mich mit seinen unglaublichen Augen betören, und ich werde nichts von dem Film mitkriegen.«

Er grinste. Sein Charme kreiste wie ein Geier über mir. »Das muss aber ein ganz besonderer Mann sein.«

»Ja, das ist er.«

»Meinst du nicht, dieser Mann sollte dich heute einladen?«

»Und warum?«

»Weil er am nächsten Wochenende noch etwas Besseres bieten möchte.«

Vielleicht wollte er mir wirklich die Berge zeigen. Ich liebte solche Überraschungen und fragte nicht weiter.

An diesem trüben Morgen entschlossen wir uns zu einem Bummel über die Scott Road. Die Regenwolken verdichteten sich und wurden dunkler. Unser junges Glück störte das wenig. Eng umschlungen schlenderten wir an den Häusern, an den Läden und Restaurants vorbei. Als es plötzlich wie aus Eimern zu regnen begann, konnten wir uns gerade noch in ein Café retten. Dort bestellten wir uns Kaffee und Sandwiches. Wortlos aßen wir und sahen den Leuten draußen zu, wie sie versuchten, so rasch wie möglich dem sintflutartigen Regenguss zu entkommen. Da fiel mir wieder die Sache mit Carl ein. Ich war froh, dieses Wochenende nicht mit der Familie verbringen zu müssen. Ich fürchtete mich immer noch ein wenig vor Carl. Ich überlegte hin und her, bis Josh mich aus den Gedanken riss.

Er hielt meine Hand. »Was ist los? Deine Hand ist ganz kalt. Frierst du?« Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn.

»Es ist nichts. Ich war nur in Gedanken«, beschönigte ich.

Er musterte mich ungläubig. »Das glaube ich nicht. Du hast doch was.«

Verwundert sah ich ihn an. Stand irgendetwas auf meiner Stirn geschrieben? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und senkte den Kopf. Ich wollte ihn nicht belügen.

»Hör zu, Lisa, du vergisst, dass ich Psychologie studiere. Deine kalten Hände und dein Ausdruck in den Augen sagen mir, dass du vor irgendetwas Angst hast.«

Überrascht starrte ich ihn an. Mir fehlten immer noch die Worte.

»Lisa, du hast doch nicht etwa Angst vor mir?«

»Nein, Josh, das hab ich nicht.«

»Wovor aber dann?«

»Vor Carls Wutausbrüchen.« Ich erzählte ihm die ganze Geschichte über den gestrigen Abend.

Er wurde noch ernster, musterte mich lange und meinte dann: »Lisa, das hört sich nicht gerade nach einer glücklichen Beziehung an. Hat er dich irgendwie bedroht ... oder angefasst?«

»Nein, das hat er nicht. Ich glaube, dass es sich schlimmer angehört hat, als er es meinte. Er rief in der Nacht Roxanne an und entschuldigte sich. Bei mir wollte er dies auch noch tun. Das Ganze hat mich erschreckt.«

Auch das Gespräch mit Roxanne über Carl erzählte ich ihm. Josh hielt verkrampft meine Hand.

»Hält Roxanne denn zu ihm oder zu dir?«

Was sollte denn diese Frage? »Sie hält natürlich zu mir. Sie ist sehr nett und wie eine Freundin.«

Josh schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht gut. Wenn sie zu Carl stünde, wäre das besser für dich, weil er dann keinen Grund zur Eifersucht hätte. Er würde vielleicht ab und zu etwas ausrasten, aber er wäre mit Roxanne in der Überzahl. Aber wenn Roxanne auf deiner Seite steht, ist er ganz allein. Das ist in diesem Fall eine gefährliche Situation. Das könnte nicht gut ausgehen. Du solltest gut aufpassen!«

Er predigte auf mich ein und wirkte dabei sehr überzeugend.

»Von dieser Seite hab ich das nicht betrachtet. Was soll ich denn jetzt tun?«

»Du musst dafür sorgen, dass Roxanne auf seiner Seite ist, auch wenn es für dich dann etwas unangenehmer wird. Vielleicht legt sich das Ganze dann wieder.« Er lächelte gezwungen.

»Ja, du könntest Recht haben.« Ich sah ihm tief in die Augen. »Ich glaube, du wirst ein guter Psychologe werden.«

Er lachte verschmitzt. »Das solltest du mal meinem Lehrer sagen. Von ihm hör ich eher das Gegenteil.«

»Nein, das glaub ich dir nicht.«

»Frag Jesry! Er steht übrigens auch nicht auf seiner Hitliste. Dieser Lehrer erzählt vieles über alle möglichen Theorien, aber selber hat er nie irgendetwas Schlimmes erlebt. Das spürt man, und wir haben ihn auch einmal darauf angesprochen. Er hat nie einen Verlust erlitten oder mit einem Verbrechen zu tun gehabt, so wie Jesry oder ich. Wir beide betrachten das eben aus einem anderen Blickwinkel. Wir haben ein paar Dinge selbst erfahren. Dies ist mit der Theorie nicht vergleichbar.«

»Josh, erzähl mir mehr über dich.«

»Was möchtest du denn wissen? Meine Schuhgröße?«

»Nein, nicht unbedingt. Ich möchte dich einfach besser kennen lernen.«

»Noch besser? Du weißt doch schon alles über mich. – Und was ist mit dir?«

»Mit mir?«

»Ja, erzähl mir doch mehr von dir. Warum bist du ausgerechnet nach Kanada gekommen?«

»Weil ich dich treffen wollte.«

»Ja, das ist ein guter Grund.« Er lächelte zufrieden und wurde dann wieder ernst. »Nein, Lisa, du hast uns erzählt, dass du während der Schulzeit schüchtern warst und dich gerne zurückgezogen hast. Dann hast du dir irgendwann gesagt, jetzt fliege ich um die halbe Welt und schau mal, was die Kanadier so treiben? Das passt aber nicht zu einem Mauerblümchen.« Fragend sah er mich an.

Ich begann zu überlegen und suchte die passenden Worte: »Ja, vielleicht. Ich war immer schüchtern. Ich traute mich als Mädchen nicht einmal Guten Tag zu sagen. Ich war die Erste in der Klasse, die eine Brille trug und eine Zahnspange. Dies belastete mich zusätzlich, obwohl ich von den anderen nicht ausgelacht wurde. In der Schule war ich immer die Ruhige und machte pflichtbewusst meine Arbeit. Ich ging gerne zur Schule und war auch eine gute Schülerin. Ich brachte immer ein gutes Zeugnis nach Hause. Lernen, das war meine Stärke. Ich klammerte mich daran fest. Je älter ich wurde, umso größer war jedoch mein Drang, aus der Einsamkeit auszubrechen. Ich wollte auch mal mit den anderen dumme Sprüche klopfen oder Streiche spielen. Ich brachte das nie richtig fertig. Ich war einfach zu schüchtern und vermutlich zu anständig.«

Josh lauschte aufmerksam, während ich meinen hintersten englischen Wortschatz hervorholen musste: »Auch während der Lehre konnte ich mich nicht so geben, wie ich eigentlich wollte. Ich musste dafür sorgen, dass ich die Schule gut überstand. Das war mir wichtig. Dann kam hinzu, dass wir eine reine Mädchenklasse waren, was auch nicht sehr hilfreich war. Alle, und ich meine wirklich alle, hatten nur ein Thema: Jungs, Schminke, und Tanzen. Da konnte ich überhaupt nicht mitreden. Jungs gab es keine, die mir gefielen, und Zeit dazu hatte ich auch nicht. Schminke interessierte mich nicht und war mir auch zu teuer. Und Tanzen mochte ich noch nie. Ich stelle mich viel zu blöde an.«

Josh grinste übers ganze Gesicht und meinte dazwischen: »Ich mag Tanzen auch nicht. Ich hasse die Bälle der Schulklasse. Das ist nichts für mich.«

In Gedanken stellte ich ihn mir vor, wie er dauernd von Mädchen um den nächsten Tanz gebeten wurde und dann der Reihe nach Körbe verteilte. Er wusste, dass er gut aussah, aber er nutzte es überhaupt nicht aus. Darin war er, zu meiner Beruhigung, sehr außergewöhnlich.

»Wir haben sehr viel gemeinsam, Josh.«

»Ja, das stimmt. Aber, erzähl weiter.«

»Ein halbes Jahr vor der Abschlussprüfung habe ich es beinahe nicht mehr ausgehalten. Ich wollte nach der Lehre etwas Besonderes machen. Etwas, was keiner aus unserer Familie oder meinen Freunden tun würde. Ich spürte, dass ich jetzt die Chance bekam, um aus meiner Welt auszubrechen. Da ich Englisch lernen wollte und auch musste, entschied ich mich zuerst für einen Sprachaufenthalt. Das war an sich noch nicht speziell. Viele gehen für ein paar Wochen in eine Sprachschule nach England oder Frankreich oder bewerben sich für eine Stelle als Au-pair in der Schweiz, Frankreich oder England. Aber selten entscheidet sich jemand, so weit fortzugehen. Kanada faszinierte mich schon immer. Vermutlich wegen der Natur und der Menschen. Ich bewarb mich bei einer Stellenvermittlung und hatte Glück. Ich freute mich riesig, endlich aus meinem Mauerblümchendasein entfliehen zu können. Seit ich kanadischen Boden unter den Füßen habe, bin ich ein anderer Mensch. Ich durfte endlich so sein, wie ich immer sein wollte.« Ich sah ihm in sein interessiertes Gesicht. »Und dank dir, Jesry und Cathy, ist es für mich so einfach und so schön geworden. Im Moment habe ich überhaupt kein Verlangen danach, in meine frühere Welt zurückzukehren.«

Ich wusste nicht, ob er alle meine holprigen Sätze verstanden hatte.

Er saß nur da und lächelte mich an.

»Nun?«, fragte ich ihn schließlich.

»Nun was?«

»Bist du mit der Erklärung zufrieden?«

»Natürlich. Ich finde, dass du sehr außergewöhnlich bist. Wie gesagt, du bist keine typische Schweizerin, du bist eine von uns. Du bist natürlich und unkompliziert, was ich ganz besonders mag. Ich kenne keinen Menschen, der sich so plötzlich verändern konnte. Außer Maria vielleicht.« Traurig senkte er den Kopf.

»Sie konnte ja nichts dafür.«

»Nein«, kam es traurig aus seinem Mund.

»Du vermisst sie sehr, nicht wahr?«

»Ja, sie fehlt mir.« Seine Mundwinkel verzogen sich, so, als ob er das Weinen unterdrücken wollte.

Ich nahm ihn in die Arme und versuchte, ihn zu trösten, worauf er sich gehen ließ und still vor sich hinweinte.

Die Leute um uns schienen nichts zu bemerken.

Als er sich wieder gefasst hatte, meinte er: »Lisa, du bist das Beste, was mir passieren konnte. Du scheinst die Einzige zu sein, die mich versteht. Nicht ich, sondern du solltest Psychologie studieren.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein Josh, das ist nun gar nichts für mich. Das kannst du sicher besser. Und übrigens versteht dich zumindest Cathy ganz gut.«

»Woher weißt du das?«

»Nun, ich weiß das eben. Cathy hat mir einiges über dich erzählt.«

»Was hat sie denn über mich erzählt?«

»Vieles, zum Beispiel, dass du damals deinen Schreibtisch demoliert hast.«

»Na toll, da musst du ja einen schönen Eindruck von mir bekommen haben. Das war, weil ich ...«

»Josh, ich weiß doch warum. Ich kann das sogar gut verstehen.«

»Jesry hat das nie verstanden. Was hat sie dir denn sonst noch erzählt?«

»Zum Beispiel das mit Marc.«

Fragend sah er mich an. Er wusste offenbar nicht, wovon ich sprach. »Von Marc? Was denn?«

Ich hob meine Augenbrauen und schmunzelte. Langsam schien es ihm zu dämmern. Er fing an den Kopf zu schütteln und sagte: »Oh nein, das hat sie nicht ..., Lisa, sag mir, dass das nicht wahr ist!«

Ich konnte mein Lachen nicht mehr verkneifen. Auch er konnte sich nicht länger beherrschen. Verlegen erzählte er mir, wie Jesry und Cathy tagelang über diese Geschichte gelacht hatten und er die größte Mühe hatte, Marc abzuschütteln. Später verhielt sich Marc ihm gegenüber wieder normal, und die Sache wurde unter den Tisch gekehrt.

Als der Regen nachließ, begaben wir uns auf den Heimweg. Zu Hause studierten wir das Kinoprogramm und entschieden uns für »ET«.

Wir fuhren wieder in die Stadt, was ungefähr eine Stunde dauerte. Josh nahm diesmal den Weg über den Vorort New Westminster. Die große Brücke, die wir dort überquerten, hatte auf jeder Seite einen riesigen Bogen. Sie beeindruckte mich sehr. In New Westminster sah ich ein Haus, wahrscheinlich ein Hotel, das ausgebrannt war. Man konnte noch die zusammengeknoteten Laken erkennen, die aus dem Fenster hingen.

In Down Town angelangt, parkte Josh auf einem bewachten Parkplatz, und wir gingen zu Fuß zum Kino.

Josh fragte mich, ob ich Popcorn oder Cola mitnehmen wolle.

»Darf man das denn?«, fragte ich. »Bei uns isst man nur in der Pause.«

»Was für eine Pause?«

»Na, bei halber Filmlänge. Da gibt’s zehn Minuten Pause, um etwas zu essen, auf die Toilette zu gehen oder zu rauchen«, erklärte ich ihm.

Er grinste abschätzig. »Meine Güte, ist das kompliziert bei euch. Du kannst doch jederzeit den Saal verlassen, wenn dir danach ist, oder nicht?«

Ich probierte das Popcorn. Im Gegensatz zu unserem gezuckerten oder gesalzenen gab es hier eine Buttersoße dazu. Die Butter war gesalzen, wie überall in Kanada. Es schmeckte hervorragend, nur bekam man grauenhaft fettige Finger davon. Das halbe Popcorn hatte ich schon gegessen, als sich die Tür zum Kinosaal öffnete. Eine junge Dame, in einer Art Uniform, verteilte jedem, der hineinwollte, ein Taschentuch.

»Wofür soll das denn sein? Für die fettigen Finger?«, fragte ich Josh.

Er lachte mich aus. »Nein, es scheint ein trauriger Film zu sein. Da machen sie das hin und wieder.«

Wie praktisch, dachte ich. Ich hatte allerdings noch nie bei einem Film weinen müssen. Der riesige Saal war beinahe gefüllt, als der Film begann. Ich musste mich unheimlich konzentrieren, damit ich verstand, worum es ging. Zeit, um mit Josh zu schmusen, hatte ich keine und er anscheinend auch nicht. Vielleicht hatte er auch die gleiche Einstellung wie ich. Schmusen können wir später und erst noch gratis. Der Film gefiel uns beiden gut, und ich hatte die Handlung einigermaßen begriffen. Fernsehen und Filme waren schwierig zu verstehen, da die Schauspieler für mich zu schnell sprachen. Im Radio etwas zu verstehen, war beinahe unmöglich.

Nach dem Kino überlegten wir, wo wir essen gehen wollten.

»Magst du Chinesisch?«, fragte ich.

»Ja, ich liebe es. Ich bin am Überlegen, wo es einen guten Chinesen gibt.«

Wir spazierten langsam Richtung Innenstadt. Dort gab es eine Fußgängerpassage, die unter dem Boden hindurchführte. Man merkte fast nicht, dass man sich mitten in Down Town Vancouver befand. An einer Ecke der Unterführung entdeckte ich ein Café, das anders aussah als die anderen. Es war sehr europäisch und hatte viel Schnickschnack. »Café Mozart« stand in verschnörkelter Schrift auf den Glastüren.

»Können wir irgendwann mal da hineingehen?«

Er studierte immer noch am Chinarestaurant rum. »Ja, es ist sehr hübsch. Da kriegst du aber einen sehr starken Kaffee.«

»Du meinst, einen richtigen Kaffee. Das, was ihr trinkt, ist doch nur gefärbtes Wasser!«

»Na ja, da hast du Recht. Es ist halt auch nicht alles besser hier. Dafür haben wir die besseren Kinos, nicht wahr?«

»Ja, keine Frage.«

»Jetzt weiß ich, wo wir hinfahren werden. Ich kenne ein feines Restaurant, das sich auf halbem Weg nach Hause befindet. Dort war ich schon zweimal. Es ist wirklich gut. Was meinst du?«

»Ich vertraue dir voll und ganz, Josh.«

Nach einem hervorragenden Essen fuhren wir nach Hause. Nachts sah alles anders aus. Die vielen erleuchteten Fenster verbreiteten eine gemütliche Atmosphäre. Zu Hause angekommen wurden wir von Butcher, und diesmal auch von Theresa, empfangen. Sie war eine weiße, langhaarige Katze mit schwarzen Ohren. Sie strich mir um die Beine und ließ sich ohne Weiteres von mir streicheln, während Butcher begann, Josh in Beschlag zu nehmen.

»Sie scheint dich besser zu mögen als mich. – Kommt, ihr kriegt euer Fressen.«

Beide Katzen marschierten stolz und mit gestrecktem Schwanz hinter Josh zur Küche, wo sie ihre Näpfe stehen hatten.

Josh hatte Mühe, das Futter zwischen den Katzenköpfen aus der Dose in die Teller zu schaufeln. Es war eine zu komische Szene. Endlich waren dann die Katzen zufrieden und fraßen laut schmatzend ihr Futter. Ich grinste vor mich hin.

»Lisa, du lachst mich schon wieder aus.«

»Nein, tu ich nicht.«

»Doch, du hast mich schon im Restaurant ausgelacht, als ich die Stäbchen fallen ließ.« Er kam auf mich zu und nahm mich in die Arme.

»Nein, ich habe mich nur gefreut, dass dir auch mal so was passiert.«

»Das ist dasselbe«, meinte er und wurde ernst.

Lange sah er mich an und überlegte.

Meine Gefühle überschlugen sich. Heute Abend hatte ich mehr Schmetterlinge im Bauch als sonst.

Es wurde immer schlimmer. Mein Herz raste, und ich fing wieder an zu zittern. »Josh, was tun wir jetzt?«

Er grinste gemein. »Möchtest du in den Whirlpool?« Er zog die Augenbrauen hoch.

»Nein Josh, das geht leider nicht. Ich habe meine Tage.«

Er schien nicht nur darüber enttäuscht zu sein, dass ich nicht in den Pool konnte.

Er sah mich fragend an.

»Du meinst, dann geht das heute gar nicht?« Erwartungsvoll stand er da.

Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, leider nicht. Ich möchte es so nicht. Und mit der Pille kann ich erst anfangen, wenn meine Tage vorbei sind. Tut mir Leid.«

Lange sah er mir in die Augen und meinte dann: »Schade, wann wird denn die Luft rein sein?«

»Mal sehen, bis zu deinem Geburtstag sollte es reichen.«

»So lange hast du deine Tage?«

»Nein, aber ich muss doch zuerst wissen, ob ich die Pille vertrage.«

»Ja, natürlich, solange du mich nicht auch drei Monate warten lässt, geht das in Ordnung.«

»Nein, das werde ich nicht. Keine Sorge.«

Er strahlte mich an, zog mich in sein Zimmer und setzte mich auf sein Bett. »Meinst du, du kannst trotzdem bei mir schlafen?« Er sah mich unsicher an.

»Ja, natürlich.«

»Ich dachte, das Bett ist dir zu weich.«

»Um darauf zu stehen, ist es zweifellos zu weich, aber zum Schlafen wird es wohl gehen.«

»Ich verspreche dir, dich nicht anzurühren.« Er streckte seine Hände weit von mir weg.

»Nein, tu das nicht.« Er hielt meine zittrigen Hände. »Ich habe nur gesagt, dass wir nicht miteinander schlafen können. Ich habe damit nicht gemeint, dass du einen Abstand von einem Meter zwischen uns lassen sollst.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Das heißt?«

»Berühr mich, Josh!«, flüsterte ich ihm ins Ohr.

Er zuckte ein wenig zusammen und sah mich unsicher an. »Äh, Lisa ..., ich weiß nicht, ob ich mich dann im Griff haben werde.« Und mit einem Lächeln fügte er hinzu: »Jesry hat schon Recht, du bist heiß, du hast eine unglaubliche Figur.«

»Du hast mit Jesry über meine Figur geredet?«, entrüstete ich mich.

»Nein, Jesry hat damit angefangen. Das ist ein Unterschied, weil ...«

»Und womit hast du nach ihm geschmissen?«, unterbrach ich ihn.

Er fühlte sich ertappt. »Mit einem Kugelschreiber.«

Wir lachten beide und hielten uns innig fest.

»Josh, ich habe keine tolle Figur. Ich habe fürchterliche X-Beine.«

»Doch, du hast eine tolle Figur. Und deine Beine finde ich niedlich.«

Er küsste mich. Und in meinem Bauch begann es zu kribbeln, als wäre ich auf der Achterbahn. Wir legten uns beide aufs Bett und nahmen von der übrigen Welt keine Notiz mehr. Wir bemerkten nicht einmal, dass sich Butcher und Theresa ganz am Fußende des Bettes eingerollt hatten und friedlich schliefen.

Sehnsuchtsort Vancouver

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