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2. Erster Tag

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Geklapper drang aus der Küche, als ich erwachte. Ich schaute auf die Uhr und sah, dass es bereits neun war. Ich schoss aus dem Bett und schaute kurz zum Fenster hinaus. Es war wieder ein Prachttag. Wolkenloser Himmel ließ sich durch die Baumkronen erkennen. Ich nahm frische Kleider aus dem Schrank und schlich mich dann zum Badezimmer. Erfrischt kam ich zurück in mein Schlafzimmer, öffnete das Fenster und bereitete mich darauf vor, der Familie zu begegnen. Über meine heutigen Gefühle war ich mir überhaupt nicht im Klaren. Ich entschied mich, diese Gedanken zu verdrängen und ging zur Küche, wo ich Roxanne ganz alleine vorfand.

»Good morning«, sprach sie mich freundlich an. »Hast du gut geschlafen?«

»Good morning, ja sehr gut.«

»Wie geht’s deinem Fuß?«, fragte sie weiter.

»Er juckt nicht mehr so stark und ist etwas abgeschwollen. Wo sind die Kinder?«

»Carl ist einkaufen gegangen und hat sie mitgenommen. Er müsste in etwa einer halben Stunde wieder zurück sein. Was möchtest du zum Frühstück?«

Mein Frühstück zu Hause bestand immer nur aus kalter Milch mit Haferflocken und Schokoladenpulver. Ich wusste von Reisenden, dass sich das Frühstück in Nordamerika sehr von unserem unterschied. So fragte ich Roxanne: »Was esst ihr denn am Morgen so?«

»Meistens essen wir gebratene Eier mit Schinken und Toast. Dazu trinken wir eine Tasse Kaffee. Magst du das?«

»Ja klar«, sagte ich etwas zu voreilig.

In Wahrheit wusste ich nicht, ob ich dies wirklich so früh am Morgen mochte. Aber ich hatte mir bereits zu Hause fest vorgenommen, die Gewohnheiten in Kanada nicht nur studieren, sondern auch selber leben zu wollen, sofern dies mit meiner Lebenseinstellung zu vereinbaren wäre. Also stellte ich mich neben Roxanne auf und schaute ihr über die Schulter, wie sie das Frühstück zubereitete. Ich wusste, dass dies in Zukunft meine Arbeit sein würde. Sie erklärte mir alles sehr genau, etwas zu genau, wie mir schien. Offenbar wusste sie nicht, dass ich ein wenig vom Kochen verstand. Ich ließ mir nichts anmerken und half ihr, so gut ich konnte. Sie erklärte mir auch die Bedienung des Herdes, dessen Ausführung mich sehr belustigte. Der Herd sah aus wie ein Gasherd mit vier eingelassenen Mulden. Anstelle der Gasbrenner waren spiralförmige Metallrohre angebracht. Diese gaben die elektrisch erzeugte Hitze an die Pfannen ab. Ich fragte Roxanne, ob dies ein besonderer Herd sei. Sie schaute mich staunend an, also beschrieb ich ihr die Herdplatten bei uns zu Hause. Jetzt begriff sie, dass ich noch nie einen solchen Herd gesehen hatte. Sie erklärte mir, dass hier überall die Herdplatten so aussähen und ziemlich gut funktionierten. Na toll, dachte ich, schon wieder was gelernt. Was ich aber nicht zu fragen wagte, war, wie man diese Spiralen putzen musste, wenn einmal die Milch überkochen sollte.

In diesem Moment kam Carl mit den Kindern zur Tür herein. In der Hand jonglierte er eine große braune, prall gefüllte Einkaufstüte. Ich rief ihm »Good morning« zu und nahm ihm die Tüte ab. Er erwiderte meinen Gruß und bedankte sich für die Hilfe. »Hast du gut geschlafen? Wie geht’s deinem Fuß?«

Das hatten wir doch schon mal. Ich gab ihm die gleiche Antwort wie Roxanne. Er schien damit zufrieden zu sein.

»Frühstück schon fertig?«, fragte er Roxanne und gab ihr einen dicken Kuss.

»Ja gleich, setzt euch alle hin«, befahl Roxanne und deutete mir mit einer Handbewegung an, dass das Auspacken der Lebensmittel noch warten konnte.

Also stellte ich die Tüte in die Küche und setzte mich ebenfalls an den Tisch. Die kleine Norma hatte wohl einen Riesenhunger. Sie quengelte ununterbrochen, bis sie endlich ein Stück Toast in den Händen hielt und in den Mund stopfen konnte. Sie manschte ziemlich übel herum. Da nützte dann auch das Lätzchen nichts, das ich ihr in Windeseile umhängte. Rebecca verhielt sich da schon etwas gesitteter, verschlang ihr Frühstück jedoch ziemlich rasant. Nachdem sie den Orangensaft hinuntergestürzt hatte, stand sie auf und rannte zum Fernseher hinüber, der zu meinem Erstaunen schon wieder oder noch immer lief, diesmal allerdings ohne Ton. Ich fragte in die Runde: »Warum läuft denn der Fernseher andauernd? Kann er nicht abgestellt werden?«

Roxanne und Carl schauten sich erstaunt an. Carl gab mir schließlich eine mehr oder weniger plausible Erklärung: »Bei uns ist der Fernseher immer an. Früher war es das Radio, heute ist es der Fernseher. So wird man immer über das Neueste informiert. Und zwar mit Bild. Wir finden das toll. Und die Kinder können auf dem Kinderkanal erst noch etwas lernen.«

»Wie viel Zeit pro Tag verbringen denn die Kinder vor dem Fernseher?«, wagte ich zu fragen.

»Das kommt darauf an. Am Morgen schauen sie immer fern, da kann ich meine Hausaufgaben erledigen, bis ich zur Arbeit muss. Roxanne schläft dann meist noch, weil sie Nachtschichten übernimmt.«

»Was arbeitest du denn nachts?«

»Ich bin Hebamme und arbeite im Krankenhaus. Ich muss nachts arbeiten, weil sonst die Kinder tagsüber alleine wären, während Carl arbeitet. Und zudem kommen nun mal die meisten Babys nachts auf die Welt.«

Carl fügte hinzu: »Diese Umstände sind der Grund, warum wir eine Nanny brauchen. Auf die Dauer wäre dies kein Zustand gewesen. Roxanne konnte nie lange genug schlafen. Und wenn ich mit dem Studium fertig bin, muss ich ebenfalls in unregelmäßigen Schichten arbeiten. Dann wäre niemand für die Kinder da, es sei denn, Roxanne gäbe ihre Arbeit auf. Aber das möchte sie nicht.«

»Nein, auf gar keinen Fall, ich liebe meine Arbeit, obwohl sie sehr anstrengend und manchmal auch sehr deprimierend sein kann«, fügte Roxanne hinzu und schaute betrübt drein. »Gerade vor zwei Tagen sind Zwillinge kurz nach der Geburt gestorben. Und die arme Frau hatte so lange auf Kinder gehofft. Das geht einem schon unter die Haut.«

Mich beschäftigte das Schicksal dieser Frau weniger als das der beiden Töchter meiner Gastfamilie. Die eine Frage lag mir ungeduldig auf der Zunge, und schließlich wagte ich, sie zu stellen: »Warum habt ihr denn mit den Kindern nicht noch gewartet, bis Carl das Studium beendet hat?«

Sie sahen sich beide an und fingen an zu grinsen. In diesem Moment schien ich die Antwort auch schon selbst herausgefunden zu haben. Roxanne ergriff das Wort und bestätigte meine Vermutung. Rebecca war also ein »Unfall« gewesen. Kurz nachdem sie erfahren hatten, dass Roxanne schwanger war, heirateten sie und zogen in diese Wohnung. Seitdem lebten sie vor allem von Roxannes Lohn. Um den Altersunterschied zwischen den Kindern nicht zu groß werden zu lassen, hatten sie sich vor gut einem Jahr dafür entschieden, noch ein Kind zu bekommen, was anscheinend prompt geklappt hatte. Carl fügte dem noch hinzu, dass zwei Kinder wohl reichen würden, auch wenn es ihnen finanziell einmal besser ginge.

Nachdem wir alle mit dem Frühstück fertig waren, nahm Carl die Kleine aus dem Kinderstuhl und setzte sie, so schmutzig wie sie war, vor den Fernseher, wo sie auch gleich wie angewurzelt sitzen blieb. Dann schnappte er seine Tasche und verabschiedete sich von uns. Ich begann, den Tisch abzuräumen und überlegte mir die ganze Zeit, ob mir so ein »Unfall« auch passieren könnte. Mir kam das schon etwas hinterwäldlerisch vor. In der heutigen Zeit gab es doch so viele Möglichkeiten, zu verhüten. Ich hatte zwar noch nie was mit einem Jungen, aber machte mir schon so meine Gedanken, was ich tun würde, wenn es einmal ernst werden sollte.

Nachdem wir die Küche gemeinsam aufgeräumt und den Inhalt der Einkaufstüte verstaut hatten, fragte mich Roxanne, ob sie mir jetzt zeigen könne, was ich alles zu erledigen hätte. Sie müsse heute Abend wieder arbeiten gehen und ich sei dann ziemlich schnell auf mich allein gestellt. Ich war auf die Arbeiten gespannt. Zuerst zeigte sie mir, wo sich die Waschküche befand. Sie war gleich gegenüber unserer Wohnungstür. Es gab dort eine riesige Waschmaschine, die von oben eingefüllt werden musste. Daneben stand ein Wäschetrockner. So was kannte ich nun auch noch nicht und ließ das Roxanne wissen. Sie erklärte mir alles sehr genau. Es war wirklich völlig anders als zu Hause.

»Was ist bei schönem Wetter, so wie heute? Kann ich die Wäsche irgendwo draußen aufhängen?«, fragte ich neugierig.

»Nein, bei uns hängt man keine Wäsche auf. Es wird alles in der Maschine getrocknet. Was würden denn die Nachbarn denken, wenn hier überall Unterwäsche herumhinge?!«, grinste Roxanne und wurde dabei leicht rot im Gesicht.

Ich hielt es dann für besser zu schweigen und ihr nicht zu sagen, wie es bei uns gehandhabt wurde. Sie erklärte mir weiter, wo alle Putzutensilien zu finden sind und die Bett- und Frotteewäsche gelagert wurde. Als sie mir das hinterste und letzte Eckchen in der Wohnung gezeigt hatte, war ich ziemlich schlapp. Ich musste mir so viele Dinge merken. Vom Staubsauger war ich sehr angetan. Er war ein Riesending. Ernsthaft fragte ich mich, wie ich mit dem in die vielen Ecken kommen sollte. Ich fragte Roxanne, ob ich ihn gleich mal ausprobieren könne, denn er war mir wirklich nicht sehr geheuer. Sie erklärte alles kurz und schon ging es los. Er war unglaublich laut, an ein Gespräch war nicht zu denken, und er war unglaublich stark. Ich hatte Angst, den Teppich reinzusaugen. Glücklicherweise war dieser sehr gut angeklebt.

Nachdem sie mir in der Küche auch noch ein paar Hinweise gegeben hatte, legte sie mir einen Plan für die Versorgung der Kinder vor. Darauf stand, was und wann die Kinder zu essen bekommen und um wie viel Uhr sie ungefähr schlafen sollten. Dann fragte sie mich, ob ich Lust hätte, die nähere Umgebung kennen zu lernen. Sie wollte mir zeigen, wo ich mit den Kindern spazieren konnte und wo die nächsten Einkaufsmöglichkeiten waren. Also packten wir die beiden Mädchen in einen hellgelben Geschwisterwagen. Dieser sah aus wie ein normaler Buggy, in doppelter Ausführung, also zwei Sitze hintereinander. Diese Art von Kinderwagen fand den Weg nach Europa erst viele Jahre später. Wir spazierten etwa fünfhundert Meter auf den großzügigen Gehsteigen, die jeweils durch ein Stück Rasen von der Straße und den Häusern getrennt waren, bis zu einer größeren, weiß bemalten Halle. Zuerst dachte ich, es sei eine Kirche, aber der Turm fehlte. Roxanne meinte, wenn ich gerne lesen würde, könne ich hier Bücher ausleihen. Es war eine Bibliothek.

»Was muss ich tun, um die Bücher mitnehmen zu können?«, fragte ich neugierig.

»Komm, wir gehen schnell rein, es ist ganz einfach«, und schon schwenkte sie zur weit offen stehenden Eingangstüre. »Wir müssen die Kinder mit reinnehmen. Du darfst sie niemals irgendwo stehen lassen! Es werden dauernd welche geklaut! Also pass immer gut auf!«

»Was? Hier werden Kinder einfach geklaut?«, fragte ich erschrocken. Ich konnte das nicht glauben. Warum sollte denn jemand Kinder stehlen?

»Ja, leider ist das so, gerade vor ein paar Wochen wurde vor einem Supermarkt, nicht weit von hier, ein Kinderwagen mitsamt Baby entführt. Man hat bis heute weder Kind noch Wagen gefunden!«

Ich war geschockt. Dies ist doch ein fortschrittliches Land, dachte ich, da kann es doch keinen Kinderhandel geben! Inzwischen waren wir in der Bibliothek. So wie es schien, handelte es sich hier auch um einen Schülertreffpunkt. Es gab viele kleine Grüppchen von Teenagern, die sich vergnügt unterhielten und es offenbar sehr lustig miteinander hatten. Bei uns hätte man sich bestimmt durch die plappernde Meute gestört gefühlt. Bei uns war es ja auch nicht üblich, in Bibliotheken zu sprechen, und wenn, dann nur ganz leise. Davon schienen die Kanadier nichts zu halten.

Am Schalter erkundigte sich Roxanne nach einer Karte für mich. Erst als ich die in der Hand hielt, begriff ich, dass sie mir die Berechtigung gab, sieben Bücher für jeweils fünf Wochen ausleihen zu dürfen.

»Sie haben jeweils bis 22 Uhr geöffnet. Also wenn du willst, kannst du ja heute Abend in aller Ruhe stöbern gehen«, riet mir Roxanne.

Ich fand das eine gute Idee und freute mich schon auf den Abend.

Wir verließen die Bibliothek und gingen weiter zum kleinen Park. An einer Ecke des Parks befanden sich ein kleiner Spielplatz mit ein paar Spielgeräten, einem Sandhaufen und Sitzgelegenheiten.

»Hier kannst du mit den Kindern hingehen, wenn wir schönes Wetter haben. Lass sie aber nicht zu weit umherrennen, du weißt ja jetzt weshalb!«, predigte Roxanne.

»Darf ich sie denn nicht auf den Spielplatz lassen?«, fragte ich ungläubig.

»Natürlich, aber du musst wirklich gut aufpassen! Rebecca ist sehr flink. Wenn sie etwas gesehen hat, was sie interessiert, ist sie schnell weg!«

»Na gut, ich werde es vorsichtig angehen!«, versprach ich und wusste gleichzeitig, dass ich dieses Versprechen nicht halten würde.

In der Zwischenzeit war Norma eingeschlafen und lag zusammengekrümmt im Wagen. Auch bei Rebecca schien es nicht mehr lange zu dauern, bis sie die Augen schließen würde.

Wir gingen weiter. Wir kamen dann zu einem kleinen Café, einem Supermarkt, einem Friseursalon, einem Fotoladen und einem Drugstore.

»Was ist ein Drugstore?«, fragte ich Roxanne unwissend.

»Tja, wie soll ich das erklären, schauen wir doch einmal rein.«

Als wir drin waren, erkannte ich eine gewisse Ähnlichkeit zu unseren Drogerien. Hier gab es alles für die Gesundheit und Körperpflege, eine kleine Abteilung mit Arzneien, Kosmetik, Putzmitteln und, zu meinem großen Erstaunen, ein kleines Postbüro.

»Hier hast du die Möglichkeit, Briefmarken zu kaufen und Pakete aufzugeben. Ich nehme an, du wirst fleißig nach Hause schreiben wollen«, lächelte mich Roxanne an. »Die Läden hier haben alle bis mindestens um Mitternacht geöffnet. Der Supermarkt hat immer offen. Auch sonntags.«

Das war ja toll. Am Sonntag einkaufen gehen. Ich hatte laut Vertrag jeweils das Wochenende frei. Also konnte ich mich in aller Ruhe einmal durch das Warenangebot wühlen. In einer Querstraße fanden wir dann noch ein riesiges Warenhaus. Auch das hatte sehr galante Öffnungszeiten. Heute war Donnerstag, und ich freute mich aufs Wochenende.

Als wir auf dem Rückweg zur Wohnung waren, wurden die Kinder wach und hatten anscheinend Hunger. Rebecca fing an zu quengeln und Norma weinte mit stetig ansteigender Lautstärke. Endlich erreichten wir wieder die Wohnung. Roxanne und ich hatten dann gewaltigen Stress, das Essen herzurichten. Als die Mädchen endlich Ruhe gaben, und, welche Abwechslung, im Kinderzimmer zu spielen begannen, setzten wir uns hin und tranken Kaffee. Wir plauderten über dieses und jenes, und ich war sehr glücklich, dass ich mich bereits gut verständigen konnte. Ich hatte auch das Gefühl, dass Roxanne langsam Gefallen an mir fand und spürte, dass sie die Kinder beruhigt in meine Obhut geben konnte.

»Wie lange bleibt Carl jeweils fort?«, fragte ich.

»Er kommt meistens erst um sieben oder acht Uhr nach Hause. Er geht fast jeden Tag nach der Arbeit zum Training.«

»Was trainiert er denn?«

Sie lachte laut und merkte, dass ihre vorherige Erklärung wohl nicht ganz ausreichte. »Er trainiert nicht. Carl ist völlig unsportlich! Er jobbt als Arzt bei einer Footballmannschaft. Die Verletzungsgefahr bei diesem Sport ist sehr groß. Darum haben sie auch im Training immer einen Arzt dabei.«

»Football, ist das der Sport mit dem ovalen Ball, wo alle Spieler aussehen wie Herman Monster?«, fragte ich weiter.

Wieder lachte sie und freute sich sichtlich über meinen Vergleich. »Ja genau, aber sag ja Carl nicht, sie sähen aus wie Herman Monster. Das wäre wahrscheinlich eine der größten Beleidigungen, die ein Footballspieler zu hören bekäme!« Sie lachte immer noch.

»Meinst du, ich kann zu Hause kurz anrufen, um zu sagen, dass ich gut angekommen bin?«, fragte ich, als ich auf meine Uhr schaute und ausrechnete, wie spät es jetzt zu Hause war.

»Ja klar, ich zeig dir, wie es geht.« Sie fragte mich, ob ich die Nummer hätte, und nahm den Hörer ab. »Am besten machst du einen Collect-call. Du gehst über den Operator, der dich dann mit deiner Nummer verbindet. Auf diese Art muss der Angerufene die Gebühr bezahlen.«

»Ja, das wurde mir von der Stellenvermittlung auch so erklärt«, bestätigte ich und hoffte, dass meine Eltern die Frage des Operators am Telefon verstehen würden.

Das erste Mal telefonieren auf Englisch. Das war für mich schon eine Stufe höher. Aber die nette Stimme des Operators sprach sehr langsam und deutlich, wohl wissend, dass hier Ausländer am Werk waren. Ich gab ihm die Nummer an. Als die Verbindung da war, hörte ich am anderen Ende die Stimme meiner Mutter. Der Operator fragte sie, ob sie den Anruf entgegennehmen möchte.

»Wenn dich jemand etwas in Englisch fragt, sag einfach yes«, hatte ich ihr noch vor der Abreise eingetrichtert. Sie tat es und ich konnte mit ihr reden. Ich teilte ihr mit, dass ich gut angekommen sei und alles in bester Ordnung wäre. Die Familie sei nett und ich würde mich sehr wohl fühlen. Aber alles Weitere dann schriftlich. Sie war sichtlich beruhigt, als wir uns verabschiedeten. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, überlegte ich mir, ob ich ihr jetzt überhaupt die Wahrheit gesagt hatte. Ja, mir ging es wirklich gut, und heute fühlte ich mich sehr wohl. Ich freute mich auf die kommenden Erlebnisse mit meiner Gastfamilie.

Ich ging kurz in mein Zimmer, um das Bett zu richten und rief Roxanne zu, dass ich auch gleich die anderen Zimmer in Angriff nehmen würde. Das Telefon klingelte. Roxanne ging ran und meldete sich mit einem gesäuselten »Hello«. Also so macht man das hier. Man nennt seinen Namen nicht. »Lisa, es ist für dich!«, rief sie aus dem Wohnzimmer.

Ich war ziemlich erstaunt. Hatte meine Mutter etwas vergessen?

»Es ist das Büro der Stellenvermittlung«, sagte Roxanne und drückte mir den Hörer in die Hand.

»Hello?«, meldete auch ich mich.

Am anderen Ende der Leitung sprach eine freundliche Frauenstimme in bestem Hochdeutsch. Sie fragte mich, ob alles in Ordnung wäre und ob ich irgendwelche Fragen hätte.

»Es ist alles bestens, ich fühle mich sehr wohl hier! Eine Frage habe ich im Moment nicht, aber vielleicht kommt das ja noch«, gab ich zur Antwort.

»Das ist gut, ich gebe Ihnen meine Nummer, falls irgendetwas sein sollte. Sie können mich zu den gewohnten Bürozeiten erreichen.« Sie gab mir die Nummer, die ich hastig aufschrieb. »Ich habe noch ein paar Adressen und Telefonnummern von anderen Schweizer Mädchen, die in ihrer Nähe wohnen. Vielleicht möchten Sie ja an den Wochenenden zusammen etwas unternehmen. Soll ich sie Ihnen angeben?«

Ich überlegte kurz. Eigentlich war dies das Letzte, was ich wollte. Ich war nicht hierher gekommen, um andere Schweizerinnen zu treffen. Zudem fühlte ich mich unter mehreren Mädchen nie wohl. Jungs wären mir lieber gewesen. Um die Dame am anderen Ende aber nicht enttäuschen zu müssen, bat ich darum.

Ich schrieb fleißig mit und war mir nicht sicher, ob ich die Namen alle richtig aufgeschrieben hatte. Aber im Moment war mir das egal. Ich bedankte mich, worauf sie mir einen schönen Aufenthalt wünschte und das Gespräch beendete. Roxanne schaute mir über die Schulter und wollte wissen, was das für Adressen seien. Zusammen gingen wir mithilfe eines Stadtplanes durch, wo die Mädchen wohnten. Diejenige, die am nächsten wohnte, war eine gewisse Monika Müller, ungefähr zehn Straßen weiter südlich.

»Das ist ganz nahe. Du solltest sie mal anrufen!«, meinte Roxanne.

Die Bedeutung von ganz nahe in Kanada, verglichen mit der Schweiz, war wohl eine andere.

»Ich denke, dass ich hier mindestens einen Nachmittag einplanen muss, um diese Monika zu besuchen, damit es sich überhaupt lohnt«, sagte ich, aber für kanadische Verhältnisse war dies ja gleich nebenan.

»Vielleicht kannst du Carls altes Fahrrad benutzen, wenn du sie besuchen möchtest.«

»Ja, das wäre toll!«, meinte ich und war froh, die Aussicht auf einen langen Fußmarsch begraben zu können.

Ich ging wieder zurück, um die Betten zu machen, und überlegte dabei, ob ich nun diese Monika anrufen sollte. Vielleicht war sie ja schon länger hier und konnte mir ein paar Ratschläge geben. Vielleicht fand sie den Herd auch sonderbar. Ich verschob aber die Entscheidung auf den nächsten Tag.

Roxanne fragte mich, nachdem ich die Arbeiten erledigt hatte, ob ich Lust hätte, die Kinder zu baden. Sie könne dann in der Zwischenzeit das Abendessen kochen. Eigentlich wäre es mir andersrum lieber gewesen. Aber ich wusste, dass ich nur für das Frühstück zuständig war. Und meine Hauptaufgaben waren der Haushalt und die Kinder. Also nahm ich diese Herausforderung an. Die Kinder badeten offenbar sehr gern, denn sie machten überhaupt keine Anstalten, mich in irgendeiner Weise zu ärgern. Als dann das Haarewaschen an die Reihe kam, war es aus mit der guten Laune. Es gab ein Riesengeschrei und ich hatte große Mühe, das Badezimmer vor einer größeren Überschwemmung zu bewahren. Roxanne ließ sich nicht blicken. Dies gab mir die Gewissheit, dass es bei ihr wohl auch nicht anders zu- und herging. Ich kleidete die Mädchen in frische Schlafanzüge und zog ihnen zusätzlich einen Bademantel über, so wie es mir gesagt wurde. Als Roxanne die sauberen Kinder sah, war sie sehr zufrieden. Ich hingegen war patschnass und ziemlich kaputt. Nachdem ich dann das Badezimmer wieder in den Normalzustand versetzt hatte, traf auch schon Carl ein und schwatzte munter auf Roxanne ein. Er erzählte ihr vom Footballtraining. Dies hatte ich verstanden. Roxanne erzählte Carl, was wir heute alles gemacht hatten. Auch über die Telefongespräche informierte sie ihn. Er hörte interessiert zu und war sichtlich begeistert, als Roxanne ihm erzählte, ich hätte die Kinder gebadet.

»Das ist sehr gut, bei mir schreien sie immer und ich bin nachher nasser als die Kinder!«

Anscheinend war es bei ihm wirklich schlimmer, obwohl ich mir dies im Moment nicht vorstellen konnte. Nach dem Essen setzte sich Carl aufs Sofa, nahm die beiden Mädchen zu seiner Seite und schaute mit ihnen zusammen mein Buch über die Schweiz an. Rebecca sah zum ersten Mal eine gefleckte Kuh und lernte auch, wie viele verschiedene Bergbahnen es gab. Norma wirkte eher gelangweilt und bohrte in ihrer Nase. Ich half Roxanne die Küche aufräumen. Dann verabschiedete sie sich, da sie zur Arbeit musste. Ich hatte nun Feierabend. Ich teilte Carl mit, dass ich gerne in die Bibliothek gehen würde, um etwas zum Lesen zu holen.

»Soll ich die Kinder noch ins Bett bringen?«, fragte ich ihn, da ich sah, wie müde er war.

»Nein, das mach ich schon, geh du nur. Das mit dem Fahrrad ist übrigens eine gute Idee. Ich zeig dir noch schnell, wo es steht. Dann kannst du es gleich ausprobieren. Ich weiß nämlich nicht, ob das Licht noch funktioniert.«

In einem kleinen Kellerabteil stand sein Fahrrad. Es war noch klappriger als das Auto, aber es funktionierte tadellos. Ich probierte es in der großen Eingangshalle aus und war zufrieden.

»Muss ich es abschließen, wenn ich es irgendwo hinstelle?«, fragte ich. Die Geschichte mit den gestohlenen Kindern schwirrte immer noch in meinem Kopf herum.

»Nein, dieses Fahrrad musst du nicht abschließen. Das ist so alt, das wird keiner stehlen«, lachte er. »Aber wenn du schon von Abschließen redest, hast du eigentlich einen Hausschlüssel?«

»Äh, nein«, antwortete ich. Ich hatte genauso wenig daran gedacht wie Roxanne.

Er gab mir einen, der zu allen wichtigen Türen passte.

Mit meiner Bibliothekskarte verschwand ich dann. Auf meinem ersten Ausflug fühlte ich mich sehr wohl. Der Himmel war immer noch wolkenlos und es war angenehm warm. Ich hatte einen guten Tag hinter mir, mein Fuß war wieder fast in Ordnung und zu Hause angerufen hatte ich auch. Erwartungsvoll erreichte ich Minuten später die Bibliothek. Die Schüler waren nicht mehr da. Es hatte nur noch wenige Leute. Und es war sehr ruhig. Ich suchte die Abteilung mit den Kinderbüchern. Irgendjemand hatte mir mal gesagt, mit Kinderbüchern lerne man eine Fremdsprache am besten. Ich fand ein paar dünne Bücher und Hefte, die mir die richtigen schienen. Ich zeigte sie der Dame am Schalter und hielt meine Karte hin. Nach einem kurzen Dankeschön verließ ich die Bibliothek wieder und machte mich auf den Rückweg. Zu Hause angekommen sah ich Carl in seine Arbeit vertieft. Ich wünschte ihm eine gute Nacht und verschwand in mein Zimmer. Morgen musste ich früh aufstehen und das Frühstück richten. Ich stellte den Wecker auf sieben Uhr. Im Bett liegend stöberte ich die Bücher durch und schlief dann zufrieden ein.

Sehnsuchtsort Vancouver

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