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3. Kanadische Erziehung

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Am anderen Morgen war ich früher wach als vorgesehen. Ich war wohl etwas nervös, weil ich den Haushalt und die Versorgung der Kinder alleine bewältigen musste. Ich stand auf, machte mich frisch und horchte kurz beim Kinderzimmer. Noch war es ruhig. Ich ging zur Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Ich versuchte so wenig Lärm wie möglich zu machen, da Carl vermutlich noch schlief. Um halb acht kam dann Roxanne erschöpft nach Hause. Sie wünschte mir einen guten Morgen und setzte sich an den Tisch, wo ich sie mit einer Tasse Kaffee verwöhnte. Sie war sichtlich gerührt: »Es ist herrlich, nach Hause zu kommen und gleich frischen Kaffee zu riechen!«

»Du siehst sehr müde aus. Hattest du eine anstrengende Nacht?«

»Ja, wir hatten fünf Geburten. Und alle waren ziemlich kompliziert. – Sind die Kinder noch nicht wach?«

»Nein, es ist noch ruhig im Zimmer. Möchtest du noch auf Carl warten oder schon essen?«

»Ich habe einen Riesenhunger. Carl steht vermutlich nicht mehr so früh auf, wenn du hier bist. Komm, wir schauen nach den Kindern und frühstücken dann.«

Wir schlichen uns beide ins Kinderzimmer, wo die Mädchen gerade am Aufwachen waren. Schlaftrunken rieben sie sich die Augen. Roxanne nahm sich Rebecca an und ich kümmerte mich um Norma. Plötzlich bekam Rebecca einen Schreikrampf.

»Was hat sie denn?«, fragte ich erstaunt. Aber auch Roxanne wusste offenbar nicht, was los war.

»Warum weinst du denn, Kleine?«, fragte Roxanne.

Es war mir höchst peinlich, als Rebecca ihr zu verstehen gab, dass sie lieber von mir angezogen werden wollte.

»Na gut, dann tauschen wir eben. Lisa wird dich schön anziehen und dir vielleicht noch eine hübsche Frisur machen!«

Roxanne war keineswegs eingeschnappt wegen Rebeccas Bemerkung. Sie war wahrscheinlich zu müde dazu. Ich nahm Rebecca aus dem Bettchen und ging mit ihr zum Kleiderschrank. Zwei Kleidungsstücke zeigte ich ihr, bestehend aus kurzer Hose und T-Shirt, und fragte sie, welche sie anziehen wollte. Sie schaute kurz auf die Auswahl, zeigte dann entschlossen auf ein orangerotes Kleidchen im Schrank und sagte: »Das!«

Ich warf Roxanne einen fragenden Blick zu, den sie mir grinsend beantwortete: »Das geht schon in Ordnung. Es ist kein Sonntagskleid. Sie mag nun mal diese Kleider.«

Lächelnd und triumphierend ließ sich Rebecca das Kleid anziehen. Ich kämmte sie und flocht ihr zwei schöne Zöpfe. Zurück in der Küche setzten wir uns an den Tisch und aßen das, für meine Begriffe, gelungene Frühstück. Nachdem Norma die übliche Essensschlacht hinter sich gebracht hatte und alle satt waren, bedankte sich Roxanne, wünschte uns einen schönen Morgen und verschwand im Schlafzimmer.

Die Kinder waren dann am Fernseher gut versorgt und ich begann mit meinen Hausarbeiten. Etwa eine Stunde später tauchte Carl auf. Zum Frühstück reichte ich ihm die Morgenzeitung, die ich im Brieffach gefunden hatte.

»Das ist ja wie im Hotel!«, meinte er lächelnd. Und weiter, er könne sich daran gewöhnen.

»Ich tue nur meine Arbeit!«, grinste ich zurück, und er merkte, dass ich dies wohl nicht ganz ernst meinte.

Ein wenig später verabschiedete sich Carl von den Kindern, nicht ohne Rebecca zu sagen, wie hübsch sie aussähe. »Ich werde gegen sieben Uhr zurück sein. Bis dann!«, rief er mir zu und verschwand.

Ein tolles Eheleben, dachte ich, wenn sie kommt, dann geht er, und wenn er kommt, dann geht sie. Wann hatten sie bloß die Kinder gezeugt?

»Wir haben keinen Orangensaft mehr und die Milch ist auch bald alle«, sagte ich zu den Mädchen, die wieder mal in die Sesamstraße vertieft waren. »Was haltet ihr davon, wenn wir einkaufen gehen?« Keine Reaktion. »Auf dem Rückweg könnten wir noch beim Spielplatz eine Pause machen.«

Rebecca schaute mich an und rannte zu ihren Schuhen, die sie gleich anzuziehen versuchte, was ihr aber nicht gelang. Ich nahm etwas Haushaltsgeld aus dem Kästchen auf dem Kühlschrank und half Rebecca in die Schuhe. Norma nahm ich auf den Arm, was sie nicht unbedingt zu mögen schien, denn sie fing an zu quengeln. Schnell verließ ich die Wohnung und steckte die beiden Mädchen in den Kinderwagen. Es war wieder ein herrlicher Tag. Die Kinder schauten vergnügt in die Gegend und ich war zufrieden mit mir. Auf dem Weg zum Supermarkt fiel mir dann ein, dass ich ja heute dieses Schweizer Mädchen anrufen wollte. Wollte ich das nun wirklich? Ja! Ich war neugierig, ob es ihr gut ging, wie ihre Familie war, und wie sie wohnte.

Also entschloss ich mich, sie anzurufen, gleich, nachdem wir wieder zu Hause wären.

Beim Supermarkt nahm ich die Kinder aus dem Wagen und gab mir die größte Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Die Einkaufswagen waren sehr geräumig. Ich verstaute beide Kinder darin. Die Warenauslagen waren umfangreicher und auch vielseitiger, nicht zu vergleichen mit jenen der Schweiz. Zuerst fielen mir die vielen Fertigprodukte auf. Das Fleischangebot war zum Teil sehr ausgefallen. Es gab riesige Steaks, die erst noch preiswert waren. In der Bäckereiabteilung war ich dann höchst erstaunt. Da gab es quadratische und rechteckige Torten in den unglaublichsten Farben und Formen. Eine sah aus wie ein Schwimmbadmodell, mit vielen kleinen Zuckerfiguren, die im gekräuselten Wasser badeten. Ein weiteres Modell zeigte einen Tennisplatz mit zwei Spielern. Und eine andere war mit Disneyfiguren verziert, die sich um ein geschwungenes »Happy Birthday« tummelten. Alle Torten waren äußerst bunt, und ich fragte mich, ob man die wirklich essen konnte. Dies sollte sich anderntags dann herausstellen! Milch und Orangensaft hatte ich bald gefunden. Wir gingen zur Kasse. Das ganze Prozedere beim Zahlen unterschied sich nur durch zwei Dinge vom Schweizerischen. Erstens fragte mich die Kassiererin, ob ich bar oder mit Karte bezahlen wolle. Eine Frage, die das Verkaufspersonal überall zu stellen schien. Zum Zweiten wurden die Einkaufstüten von Studenten gepackt, die sich damit etwas Geld verdienten und sie je nach Lust und Laune sogar noch zum Wagen trugen. Dies schienen sie aber häufiger bei jungen Damen als bei älteren Herren zu tun.

Auf dem Rückweg machten wir dann, wie ich den Kindern versprochen hatte, im Park halt. Ich ließ Rebecca zur Schaukel springen, nahm Norma aus dem Kinderwagen und setzte sie an den Rand des Sandhaufens. Ich vergewisserte mich immer wieder, ob für die Kinder keine Gefahr drohte. Aber um diese Zeit war der Park wie ausgestorben und ich machte mir keine Sorgen. Ich beobachtete das Treiben auf der Straße, während die Kinder spielten. Es kam mir so vor, als hätte Carl wirklich das älteste Auto in ganz Vancouver. Es fuhren tolle Limousinen vorbei und die meisten Autos waren größer als diejenigen in der Schweiz. Kein Wunder, die Straßen waren auch viel breiter. Fußgänger sah man kaum. Nach fast einer Stunde wurde Norma ungeduldig. Wahrscheinlich hatte sie die Windeln voll. Glücklicherweise hatte ich alles Notwendige eingepackt. Ich legte die Kleine auf die Parkbank und versuchte, sie sauber zu kriegen.

Irgendwann blickte ich auf die Uhr und stellte fest, dass wir schon gut zwei Stunden unterwegs waren. Wir sollten langsam nach Hause. Die Kinder wären sicher bald hungrig. Und ich war es jetzt schon. Als wir wieder zu Hause waren, erklärte ich den Mädchen, dass sie ruhig sein sollten, da ihre Mutter schlafen müsse. Ich bereitete uns etwas zu essen und brachte anschließend Norma zu Bett. Sie rieb sich die Augen. Auch Rebecca schien müde zu sein.

»Soll ich dir eine Geschichte vor dem Schlafengehen erzählen?«, fragte ich sie. Sie blickte mich ungläubig an. »Wo hast du denn deine Bücher?«, fragte ich weiter.

Dann schien sie verstanden zu haben und zeigte auf das Bücherregal im Wohnzimmer.

Ich schmökerte in den Regalen, fand aber nur drei kleine, dickseitige Bilderbücher ohne Text. »Hast du denn keine anderen?«, fragte ich erstaunt.

»Nein!«, antwortete Rebecca kurz und rieb sich die Augen.

Ich konnte nicht glauben, dass das alle Kinderbücher sein sollten, und nahm mir vor, Roxanne später danach zu fragen.

»Wir ziehen jetzt dein Kleidchen aus, damit es nicht zerknittert«, flüsterte ich ihr zu und ging mit ihr ins Kinderzimmer, wo Norma bereits schlief. »Wir werden heute Nachmittag in die Bibliothek gehen und dir ein paar Bücher holen. Bist du damit einverstanden?«

Ein müdes »Ja« kam gähnend aus ihrem Mund. Ich half ihr ins Bettchen und wünschte ihr einen guten Schlaf. Bald darauf schlummerte auch sie tief und fest.

Jetzt hatte ich Zeit, um Monika anzurufen. Ich nahm die Adressliste hervor und wählte die Nummer. Hoffentlich war sie zu Hause.

»Hello?«, ertönte es aus dem Hörer und ich fragte auf Englisch: »Bist du es, Monika?«

»Ja, ich bin Monika«, antwortete sie, »wer ist denn dran?«

Auf Schweizerdeutsch begrüßte ich sie und erklärte ihr, wer ich war, wo ich wohnte und warum ich sie anrief.

Sie antwortete mir mit typischem Berner Dialekt: »Seit wann bist du hier?«

»Erst seit Mittwoch, und du?«

»Ich bin schon seit gut zwei Monaten hier. Gehst du auch zur Sprachschule?«

»Nein, das habe ich nicht vor. Im Moment will ich nichts mehr von Schule wissen. Ich möchte einfach gerne das Land und die Leute kennen lernen. Und meinen Wortschatz vergrößern und viel reden müssen. Deshalb wollte ich dich zuerst nicht anrufen, weil ich dachte, dass ich dann kein Englisch lernen würde. Aber ich habe den Eindruck, in dieser kurzen Zeit, seit ich hier bin, schon viel gelernt zu haben.«

»Ja, das ging mir genauso. Weißt du was? Hast du am Wochenende frei?«

»Ja, hab ich.«

»Wo wohnst du denn?«

»In der Elm Street.«

»Hast du ein Auto? Du könntest mich morgen besuchen kommen. Ich kann nämlich nicht weg, weil Jo und Rita übers Wochenende verreisen. Da muss ich den kleinen Johnny hüten. Würde das bei dir gehen?«

»Ja, kein Problem, ich habe allerdings kein Auto. Ich habe noch keinen Führerschein, aber ich habe ein Fahrrad zur Verfügung. Wann soll ich kommen?«

»Wie wäre es zum Frühstück? Ich kenne da eine kleine Bäckerei, die Croissants herstellt. Ich könnte dort welche holen. Wär das was?«

»Das hört sich ziemlich gut an.« Ich war allerdings nicht ganz ehrlich. Ich wollte eigentlich keine Croissants zum Frühstück. Trotzdem freute ich mich, Monika zu treffen. Wir würden sehr viel Zeit haben, um miteinander zu plaudern. Ich gab ihr meine Telefonnummer, falls etwas dazwischenkommen sollte, und verabschiedete mich von ihr.

Gegen zwei Uhr stand Roxanne auf. Ich hatte ihr schon einen Lunch vorbereitet und der Tee war auch gleich so weit.

»Hallo«, sagte sie müde, als sie endlich aus dem Badezimmer kam. »Schlafen die Kinder noch?«

»Ja, sie waren ziemlich müde. Ich bin über zwei Stunden mit ihnen draußen gewesen.«

»Wo warst du denn?«, fragte sie neugierig und trank einen Schluck heißen Tee.

»Zuerst waren wir einkaufen. Ich habe Milch und Orangensaft gekauft.«

»Oh, sehr gut, hast du das Geld gefunden?«

»Ja, habe ich. Das restliche Geld und die Quittung habe ich wieder zurückgelegt.«

»Gut, und wo wart ihr noch? Du hast doch wohl nicht zwei Stunden eingekauft?!«

»Nein, obwohl der Supermarkt sehr interessant war. Vor allem die Torten in der Bäckereiabteilung haben es mir angetan. Solche habe ich noch nie zuvor gesehen.«

»Du meinst wohl die Thementorten! Die sind wunderbar, nicht? Aber sie sind leider auch sehr teuer!«

»Das hab ich nicht gesehen. Vor lauter Staunen hab ich nicht auf die Preise geachtet.« Aus dem Kinderzimmer rief Rebecca. »Ich geh schon«, sagte ich zu Roxanne. »Iss du erst mal was!«

Sie blieb sitzen und lächelte mich dankbar an. Mit Genuss biss sie ins Sandwich. Ich ging zum Kinderzimmer. Rebecca stand hellwach in ihrem Bett und streckte mir ihre Arme entgegen. Und auch Norma wachte langsam auf. Man hörte laut und deutlich das Geschmatze ihres Daumens.

»Hallo, habt ihr gut geschlafen?«

»Ja, gehen wir jetzt die Bücher holen?«, fragte mich Rebecca. Anscheinend hatte sie das nicht vergessen.

»Na, klar, das machen wir, gleich nachdem ihr angezogen seid. Übrigens ist Mami auch wach. Ihr könnt noch ein wenig zu ihr, bevor wir gehen. Ich muss nämlich noch die Küche aufräumen.«

Roxanne sollte nicht den Eindruck bekommen, dass ich ihr die Kinder vorenthalten wollte, wenn ich nachher zur Bibliothek aufbrechen würde.

Als beide angezogen waren, gingen wir gemeinsam in die Küche. Roxanne war inzwischen fertig mit essen und ich begann, alles aufzuräumen.

Nachdem die Kinder sie fast schon überschwänglich begrüßt hatten, meinte Roxanne: »Du machst das wirklich gut, Lisa! Es erleichtert mir den Alltag sehr.«

Sie setzte sich mit den Kindern auf den Boden und sah mit ihnen die Bilderbücher an, die ich liegen gelassen hatte. Mir fiel wieder ein, was ich sie fragen wollte: »Roxanne, hast du noch irgendwo Kinderbücher mit kurzen Texten, die ich Rebecca und Norma vor dem Schlafengehen vorlesen könnte?«

Sie sah mich genauso erstaunt an wie Rebecca am Morgen. »Äh, nein, sie sind doch noch viel zu klein, um so was zu verstehen!«

»Meine Schwester liest ihren Kindern auch Geschichten vor und sie sind auch nicht älter als deine«, wagte ich zu sagen. Und im selben Moment spürte ich, dass diese Bemerkung nicht gut angekommen war. Eine Neunzehnjährige hatte soeben einer Dreißigjährigen gesagt, wie sie ihre Kinder erziehen sollte. Roxanne sagte aber nichts und erklärte den Kindern das Bilderbuch weiter. Sie war sichtlich beleidigt.

Rebecca half mir ungewollt aus der Patsche: »Ich möchte Bücher holen gehen mit Lisa«, sagte sie traurig zu Roxanne.

Ich griff wieder ein. »Ich denke, ich könnte nachher die Kinder mit zur Bibliothek nehmen. Gestern habe ich erst vier Bücher ausgeliehen. Ich könnte ja noch drei für die Kinder ausleihen. Bist du damit einverstanden?« Ich hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde. Ich machte mich auf eine Belehrung gefasst.

Doch ich lag falsch. Traurig sah sie mich an und meinte: »Du hast Recht, Lisa! Ich muss lernen, dass du viel mehr Zeit für die Kinder aufbringen kannst als Carl und ich. Wir haben deswegen manches vernachlässigt. Solche Dinge haben wir uns nie überlegt. Auch an den Wochenenden muss ich ja oft arbeiten. Carl war dann alleine mit den Kindern, und ich weiß, dass er auch seine Hausaufgaben noch erledigen musste. Als wir dann endlich mal etwas zusammen unternehmen konnten, fehlte uns die Kraft. Mit meinen Nerven steht es seit einiger Zeit auch nicht zum Besten. Und wenn es bei Carl nicht gut läuft, kann er unglaublich ausrasten!«

Sie ließ die Kinder auf dem Boden sitzen und schaltete den Fernseher ein. Sofort schauten beide in die Glotze. Sie bat mich dann, mit ihr eine Tasse Tee zu trinken. Ich spürte, dass sie mir irgendetwas sagen wollte. Mit einem großen Seufzer begann sie: »Weißt du, ich glaube, du solltest etwas Wichtiges wissen. Carl geriet vor ein paar Jahren in die Drogenszene. Das war, bevor wir uns kennen gelernt haben. Er war ziemlich übel dran. Er pflegte zudem den Umgang mit Skinheads, obwohl er anscheinend immer bestritt, dass sie seine Freunde waren.«

Sie legte eine Pause ein, in der sie nachdenklich Tee trank. Ich saß ziemlich erstarrt da und traute meinen Ohren nicht. Ich wagte nicht, sie anzusehen.

Dann fuhr sie fort: »Sein Vater hat ihn da rausgeholt. Er hat ihm sein Medizinstudium ermöglicht, unter der Bedingung, dass er nicht mehr auf Abwege gerät. Carl hält sehr viel von seinem Vater. Er ist ein bekannter Arzt und arbeitet im selben Krankenhaus wie ich. Als ich Carl kennen lernte, war er ganz normal, und wahrscheinlich hätte ich von seiner Vergangenheit nie erfahren, wenn mir sein Vater nicht davon erzählt hätte.« Sie seufzte und nahm wieder einen Schluck.

»Das merkt man ihm nicht an. Er ist doch sehr nett! Hast du denn Angst, dass er wieder rückfällig werden könnte?«, fragte ich Roxanne.

»Ja, irgendwie schon. Er ist lieb und nett zu mir und den Kindern, aber ich merke auch, dass ihn in letzter Zeit immer wieder kleine banale Dinge aufbrausen lassen. Ich weiß nicht, wie sich dies weiter entwickeln wird. Wenn er wütend ist, schmeißt er mit Sachen um sich. Das ist bis jetzt zweimal passiert.«

»Aber kommt das nicht auch mal in anderen Ehen vor? Das sollte doch nichts bedeuten«, versuchte ich, sie zu beruhigen, und hatte ja eigentlich überhaupt keine Ahnung von solchen Dingen.

»Da magst du Recht haben, aber bei ihm ist es schon ein wenig anders. Du kennst ihn nicht! Ich habe Angst, dass er sich vor den Kindern so aufführen könnte. Es würde sie unheimlich erschrecken. Und ich glaube auch, er würde vor den Kindern nicht Halt machen und sie ganz fürchterlich schlagen. So wie er es einmal mit mir getan hat.« Sie begann zu weinen und entschuldigte sich dafür.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war einfach nur geschockt. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte absolut keine Ahnung.

Meine Kindheit war immer gut gewesen, unsere Familie hatte nie größere Probleme gehabt. Ich wuchs zusammen mit meinen beiden älteren Schwestern in einer gesunden, wohl behüteten Familie auf. Ich wurde weder mit Ehestreit, Scheidungen oder Gewalt konfrontiert. Ich hatte gute Noten in der Schule und in der Lehre. Ich hatte nie mit Drogen, übermäßigem Alkohol oder Zigarettenkonsum zu tun.

Alles in meinem Leben war bis jetzt wie ein Zuckerguss gewesen. Mir fiel dann auf einmal ein, dass mein Lehrmeister, als ich mich von ihm verabschiedet hatte, meinte, jetzt würde für mich der Ernst des Lebens beginnen. Hatte er damit solche Dinge angesprochen? Ich war im Moment einfach überfordert und starrte auf meine Teetasse.

»Ich hab dir Angst gemacht.« Roxanne lächelte mich gezwungen an.

»Nein, ich weiß nur nicht, was ich sagen soll!«, deutete ich ihr mein Dilemma an.

»Das verstehe ich. Ich wollte dir dies alles nur sagen, damit du verstehst. Ich möchte aber, dass du mir etwas versprichst!«

Fragend blickte ich zu ihr auf. Was hatte ich mit alldem zu tun? Ich war verunsichert. »Was soll ich dir versprechen?«

»Ich möchte, dass du die Kinder packst und die Wohnung sofort verlässt, wenn er vor den Kindern aufbrausen sollte! Geh in den Park oder sonst wohin! Aber lass es die Kinder nicht sehen!«

»Und du, was ist mit dir?«

»Ich werde schon mit ihm fertig. Vorletzte Woche haben wir über alles reden können, was nicht selbstverständlich ist. Wir haben gemeinsam beschlossen, einen Eheberater aufzusuchen, um unsere Ehe zu retten.«

»Bin ich deshalb hier, um eure Ehe zu retten?« Ich war niedergeschlagen.

»Ja, du sollst helfen, uns die täglichen Lasten abzunehmen. Die Kinder haben ein Recht auf ein gutes und ordentliches Zuhause. Sie sind unschuldig. Wir haben zu wenig Zeit für sie. Der Haushalt blieb auch mehr oder weniger an mir hängen. Wir mussten etwas unternehmen. Wir haben daher beschlossen, eine Nanny, also dich, einzustellen, um uns zu entlasten. Bis jetzt klappt das doch ganz gut. Ich bin sogar überzeugt, dass du die Situation entschärfen wirst. Carl ist kein schlechter Mensch, sonst hätte ich ihn wohl nie geheiratet, nicht wahr? Er hat sich einfach ab und zu nicht im Griff. Aber wenn die täglichen kleinen Probleme verschwinden, wird sich alles wieder normalisieren. Verstehst du?«

»Äh, ja, ich glaube schon. Wann geht ihr denn zum Eheberater?«, fragte ich sicherheitshalber. Ich konnte das alles wirklich nicht verstehen.

»Das ist ziemlich schwierig, weil wir ja beide abwechselnd auf Achse sind. Ich werde gleich nächste Woche versuchen, einen Termin zu kriegen.« Erleichtert beendete sie das Gespräch, stand auf, sagte aber noch: »Ich muss noch schnell bei Rosie vorbeischauen. Sie hat ihre Handtasche im Krankenhaus vergessen. Ich werde sie ihr vorbeibringen und eine Tasse Kaffee mit ihr trinken. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Sie wohnt nicht weit von hier und ich werde gegen sechs Uhr wieder zurück sein.«

Sie teilte mir dies mit, als wäre nichts geschehen.

Zu den Kindern sagte sie dann noch: »Und ihr beide dürft mit Lisa in die Bibliothek! Vielleicht kauft sie euch ja noch etwas Süßes auf dem Heimweg.« Sie lächelte den Kindern zu und deutete mir an, ich solle das Geld dafür aus dem Kästchen nehmen.

Sie verschwand im Badezimmer und machte sich für ihren Kaffeeklatsch zurecht. Das wird ihr gut tun, sagte ich mir, und zog Rebecca die Schuhe an. Sie schien sich auf den erneuten Spaziergang zu freuen und auch Norma kam dahergekrabbelt.

Wir verließen die Wohnung. Bis zur Bushaltestelle begleiteten wir Roxanne. Die letzten Meter musste sie allerdings rennen, denn der Bus war schon am Einschwenken.

»Bis später!«, rief sie aus der halb geöffneten Tür und winkte den Kindern heftig zu.

Rebecca erwiderte das Winken und schaute dem Bus nach, der ihre Mami mitnahm.

Wir gingen zurück in die mir vertraute Straße und spazierten zur Bibliothek. Ich nahm Norma auf den Arm und Rebecca an die Hand. Wieder hatte es viele Schüler, die munter durcheinander plapperten. Ich ging mit den Mädchen in die Kinderabteilung und erklärte Rebecca, sie solle mir beim Aussuchen der Bücher helfen. Schnell hatten wir ein paar schöne gefunden. Es waren aber deren fünf und ich musste Rebecca erklären, dass wir nur drei mitnehmen durften. Das verstand sie nun überhaupt nicht. Ich redete auf sie ein, sie solle sich für drei entscheiden. Die anderen würden wir dann holen gehen, wenn wir diese gelesen hätten. Das leuchtete ihr irgendwie ein, und endlich hatten wir dann die drei Bücher.

Der kurze Abstecher zum Supermarkt dauerte nicht lange. Ich konnte die Süßigkeiten an einem Extrastand draußen kaufen. Rebecca war sichtlich zufrieden und auch Norma freute sich darüber, ab und zu an Rebeccas knallrotem Himbeerstängel lutschen zu dürfen.

Das Wetter war so toll, dass ich mich entschied, noch einmal den Park aufzusuchen. Jetzt waren mehr Leute da, und ein munteres Treiben war vom Spielplatz her zu hören. Ich setzte mich auf eine Parkbank, auf der bereits eine junge, dunkelhaarige Frau saß, die in ihre Strickarbeit vertieft war. Rebecca ließ ich zur Schaukel rennen und Norma nahm ich auf die Knie, weil beim Sandhaufen gerade ein Bergwerk im Bau war und ich nicht wollte, dass Norma dieses zerstörte. Während ich den Kindern beim Spielen zusah, schwirrte mir wieder das Gespräch mit Roxanne im Kopf herum. Ich überlegte hin und her und wusste nicht, was ich von der ganzen Geschichte halten sollte. Carl war doch nett. Er würde doch niemandem etwas tun. Vielleicht war sie einfach etwas überarbeitet und hatte vor allem Möglichen Angst. Ja, genau, das war es. Dazu passte auch das mit den gestohlenen Kindern. Ich redete mir ein, dass dies die Erklärung war, und machte mir keine weiteren Gedanken mehr darüber. Wieder zu Hause, vertrieben wir uns die Zeit mit Spielen. Als die Kinder genug davon hatten, schaltete ich den Fernseher ein und widmete mich meiner noch zu erledigenden Hausarbeit.

Der Fernseher ist schon ein guter Babysitter, dachte ich, und ließ die Mädchen davor sitzen. Eigentlich passte das nicht zu meiner Vorstellung von Kindererziehung. Aber heute hatte ich deutlich gelernt, dass ich mich nicht in die kanadischen Gepflogenheiten einzumischen hatte. Ich wollte nicht daran schuld sein, wenn Carl irgendwann explodieren sollte.

Genau um sechs kam Roxanne nach Hause. Sie sah glücklich und zufrieden aus. Nachdem sie die Kinder und mich begrüßt hatte, erzählte sie von ihrem Nachmittag bei Rosie. Sie hatte es sichtlich genossen. Rebecca zeigte ihr stolz die Bücher aus der Bibliothek, worauf Roxanne sie durchblätterte. Sie wollte wohl sichergehen, dass ich ihren Kindern keine Horrorgeschichten erzählen würde. »Die sind sehr schön!«, sagte sie und gab sie Rebecca zurück. Und mich fragte sie plötzlich: »Geht’s dir gut?«, und schaute mich erwartungsvoll an.

»Ja! Wir hatten einen schönen Nachmittag«, sagte ich und vermied das Thema, auf das sie sicherlich lenken wollte. »Wir waren nochmals im Park. Rebecca hat eine Freundin gefunden. Sie haben lange miteinander gespielt. Sie heißt Cindy.«

»Schön, wirst du sie nächste Woche wieder treffen?«, fragte sie halb zu Rebecca, halb zu mir blickend.

»Vielleicht«, sagte ich und lächelte Rebecca an. Und Roxanne fragte ich: »Soll ich dir mit dem Abendessen helfen?«

»Ja, gerne. Heute gibt es Huhn, Kartoffeln und Salat.«

»Super, das mag ich.«

Während wir beide in der Küche hantierten, erzählte ich Roxanne vom Telefongespräch mit Monika. Sie hörte aufmerksam zu und meinte, dass sich das gut anhöre und Monika nett zu sein schien. »Ich wäre einfach froh, wenn du mir jeweils sagen würdest, wo du an den Wochenenden bist. Vielleicht möchtest du ja auch mal mit deinen Freunden eine kurze Reise unternehmen? Sag mir einfach jeweils, wann du etwa zurück sein wirst!«

»Ja, das geht in Ordnung, aber von welchen Freunden redest du? Ich hab doch noch gar keine«, fragte ich sie erstaunt.

Ich konnte mir nicht vorstellen, schon in den ersten Wochen eine Menge Freunde zu finden. Sie sah mich mit ihrem breitesten Lächeln an: »Du wirst schon welche finden, da habe ich keine Bedenken!«

Ich verstand nicht. »Wie meinst du das?«

»Hier gibt es eine Menge Studenten. Die haben es auf die Europäerinnen abgesehen. So ist das. Die finden die jungen Nannys höchst interessant. Das war zu unserer Zeit schon so und hat sich bis heute wohl kaum geändert! Zudem stehen viele auf blaue Augen und blonde Haare. Also nimm dich in Acht!« Sie kicherte vor sich hin.

»Du meinst also, die sprechen einen einfach an, bloß weil man blaue Augen hat?«

»Ja, das kann durchaus passieren. Aber meistens sind sie ganz nett und wollen nur eine gute Zeit verbringen. Normalerweise wollen sie nie mehr. Na ja, früher war das zumindest so.«

Na toll! Ich war also Freiwild! Zum Glück trug ich eine Brille, die meine blaugrauen Augen wenigstens ein wenig verdeckte. Allerdings hatte ich die Absicht, mir hier Kontaktlinsen zu kaufen, weil sie hier sehr günstig waren. In der Schweiz könnte ich mir dies nicht leisten. Oder sollte ich noch damit warten? Ach, Blödsinn! Ich war ja keine Superkatze! Wieder fiel mir das Gespräch über Carl ein, und ich dachte, dass Roxanne hier wohl etwas zu ängstlich war.

Ich räusperte mich und fragte sie trotzig: »Kennst du einen guten Optiker hier? Ich möchte mir Kontaktlinsen kaufen!«

»Das ist nicht dein Ernst!«, fuhr sie mich an. »Du willst dir also unbedingt einen Studenten angeln?!«

»Nein, natürlich nicht, aber ich will schon seit Langem Kontaktlinsen. Zudem ist meine Brille angebrochen. Schau!« Ich zeigte ihr die defekte Stelle.

Sie lächelte mich wieder an und meinte: »Ich hab eine gute Adresse für dich. Ich schreibe sie dir gleich auf.« Sie stürzte sich auf ihr Adressbuch und schrieb hastig den Namen, die Adresse und die Telefonnummer des Optikers auf. Sie reichte mir den Zettel und bemerkte grinsend: »Kauf dir einfach keine, die blau getönt sind. Du hast schon genug auffallende Augen!«

»Was, es gibt farbige Linsen?«

»Ja, ich hatte auch mal welche. Aber diese hier«, sie zeigte auf ihre Augen, »sind ganz einfache.«

Ich blickte tief in ihre Augen und konnte endlich die kleinen Kanten der Linsen erkennen. »Toll, die sieht man wirklich kaum. Ich wusste nicht, dass du welche trägst.«

Auf dem Stadtplan machte ich die Adresse ausfindig. Ich stellte fest, dass auch dieser Optiker sein Geschäft ganz in der Nähe hatte.

»Würdest du mir helfen, telefonisch einen Termin zu bekommen?« Das traute ich mir nun noch nicht zu.

»Ja, natürlich!« Sie sprang herbei und wählte dann sogleich die Nummer. Ich passte genau auf, wie sie nach einem Termin fragte, und dachte im Nachhinein, dass ich das eigentlich auch hingekriegt hätte. Bereits am folgenden Dienstag, um 17 Uhr, sollten die ersten Tests mit den Linsen stattfinden. Ich freute mich darauf. Meine defekte Brille sollte bald der Vergangenheit angehören.

Das Abendessen schmeckte ausgezeichnet. Roxanne war eine gute Köchin. Sie hatte jetzt mehr Zeit und genoss es sichtlich, ein üppiges Essen zuzubereiten. Auch Carl langte kräftig zu. Wir unterhielten uns über das Essen in der Schweiz und über die Fußballweltmeisterschaft, die im Moment stattfand. Er fragte mich über die deutsche Nationalmannschaft aus. Ich hatte natürlich nicht die leiseste Ahnung von Fußball und kannte auch kaum Spieler mit Namen. Ich war ihm keine große Hilfe. Er fragte mich, ob ich mit ihm das Finalspiel am Sonntag ansehen würde. Das Gespräch mit Roxanne kam mir wieder in den Sinn. Er konnte kein hässlicher Mensch sein, wenn er mich fragt, ob ich mit ihm ein Spiel ansehen würde, dachte ich. Er meinte, wir könnten ja wetten, ob Italien oder Deutschland gewinnen würde. Mir war es ziemlich egal, wer da den Pokal in die Höhe stemmen durfte. Ich erklärte ihm, dass ich morgen Monika treffen und vielleicht am Sonntag mit ihr etwas unternehmen wollte. Er schien etwas enttäuscht zu sein, den Sonntag alleine vor dem Fernseher verbringen zu müssen.

Bevor Roxanne zur Arbeit aufbrach, teilte ich ihr mit, dass ich zum Frühstück nicht hier wäre und wahrscheinlich erst spät abends zurückkäme.

Nach einem gemütlichen Fernsehabend, während dem ich nicht hatte herausfinden können, welcher Sender nun das schlechteste Programm oder die wenigsten Werbeunterbrechungen hatte, verabschiedete ich mich von Carl und ging zu Bett. Ich freute mich auf den morgigen Tag. Er sollte einer der aufregendsten in meinem noch jungen Leben werden.

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