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1. Ankunft

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Äußerst nervös und angespannt stand ich am Kofferrondell und wartete auf meinen neuen Schalenkoffer. Meine Eltern hatten ihn mir zu meinem 19. Geburtstag geschenkt, und er musste über drei Monate im Schrank ausharren, bis er endlich auf die Reise durfte. Ich betrachtete ihn als meinen Kameraden und war stolz darauf, einen so schönen blauen Koffer zu besitzen. Ich stand also da und wartete. Ein großer Teil der anderen Passagiere hatten ihr Gepäck bereits geschnappt und schleppten sich müde zur Passkontrolle. Ich fragte mich, während ich noch immer wartete, ob auch ich so schrecklich müde aussehen würde. Da ich aber zunehmend nervöser wurde, weil mein blauer Kamerad immer noch nicht erschienen war, glaubte ich nicht, dass ich irgendwie müde wirken konnte. Die Minuten vergingen. Ich fing an mir Gedanken zu machen, was passieren würde, wenn mein Koffer fehlgeleitet worden wäre. Vielleicht war er nach Hongkong oder Südamerika unterwegs. Ich hätte nichts anderes anzuziehen. Dann waren da noch die Geschenke für die Familie: zwei ziemlich voluminöse Plüschbernhardiner, mit einem Holzfässchen um den Hals, für die Kinder, und ein schönes großes, englisch geschriebenes Buch über die Schweiz für die Eltern.

Vielleicht aber erwartete mich die Familie ja gar nicht und ich war ganz allein hier auf dem Flughafen. Was müsste ich da dann tun? Wohin müsste ich mich wenden, ohne Koffer und mit meinen wenigen Englischkenntnissen? Ich hatte den Namen und die Adresse der Familie. Geld für ein Taxi hatte ich auch. Dies beruhigte mich aber keineswegs. Ich spürte, wie meine Hände zu schwitzen begannen. Das wäre ein abenteuerlicher Anfang, dachte ich, und bekam es langsam mit der Angst zu tun. Was, wenn die Familie mich nicht abholen käme, ich ein Taxi nehmen müsste und dann niemand zu Hause wäre? Die Gedanken drohten zum Albtraum zu werden, und ich merkte zunächst nicht, dass mein blauer Kamerad mittlerweile vom Kofferband, hämisch grinsend, zu mir starrte.

»Mann, mach das nicht noch mal!«, murmelte ich ihm zu.

Mit kaltem Schweiß auf der Stirn, aber äußerst erleichtert, marschierte ich, soweit ich dies mit meinem lädierten Fuß überhaupt konnte, glücklich auf die Passkontrolle zu. Zu meiner Überraschung musterte ein uniformierter, wohl proportionierter Herr, der mehr Haare am Kinn als auf dem Kopf hatte, nur kurz mein Gesicht, und drückte mir den Pass wieder in die Hand. Langsam und sehr deutlich sprach er mich mit einem für mich ungewohnten Englisch an: »Willkommen in Kanada, bitte gehen Sie zu meinem Kollegen am andern Tisch. Er wird Ihnen die Arbeitsbewilligung abstempeln. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt!«

»O. k., thank you«, kam es aus meinem Mund. Ich war stolz und glücklich, begriffen zu haben, was er meinte, und war noch viel erleichterter, als er mein sehr holprig klingendes, englisches Dankeschön verstand. Ich humpelte also lächelnd die fünf Meter bis zum anderen Herrn von der Einwanderungsbehörde. Auch er vermittelte mir einen netten Eindruck und redete sehr deutlich und langsam: »Guten Tag, darf ich bitte Ihre Arbeitsbewilligung sehen?«

Die Bewilligung bestand aus einem grünen A4-Blatt, das von der kanadischen Botschaft in Bern ausgestellt worden war. Ich reichte ihm das Blatt, worauf er es genauestens durchlas. Als er damit fertig war, schaute er mich lächelnd an, nahm seinen Hefter und nagelte das Papier brutal mitten in meinen schönen neuen Pass. Ich schaute ihn wohl etwas entsetzt an, und er gab mir sogleich eine Antwort auf die Frage, die ich wegen meiner mangelhaften Englischkenntnisse gar nicht erst zu stellen gewagt hatte: »Der Pass ist dadurch nicht ungültig. Wir tun das, damit Sie die Bewilligung nicht verlieren. Wenn Sie diese nämlich bei einer Kontrolle oder Grenzüberschreitung nicht vorweisen können, müssen Sie das Land ziemlich schnell verlassen oder kommen gar nicht mehr rein. Also passen Sie gut darauf auf!«

»Das mach ich, vielen Dank.«

Ich verstaute den Pass ordentlich in meiner Tasche, nahm meinen blauen Kameraden und stolzierte zufrieden Richtung Ausgang. »Wow!«, murmelte ich vor mich hin, »das ging ja wunderbar.«

Nun kam die nächste Herausforderung. War meine Gastfamilie hier? Ich hatte ihnen geschrieben, dass ich eine helle Jacke tragen und ein rotes Taschentuch in der Hand halten würde. Ich hatte keine Ahnung, wie diese Familie aussah. Ich hatte nur die Angaben aus dem Brief, in dem einzig das Alter der Kinder erwähnt war. Neun Monate und drei Jahre, beides Mädchen. Also nahm ich, wie vereinbart, mein rotes Taschentuch aus der Tasche und hielt es so in der Hand, dass es gut sichtbar war. Ich musste also nach einer Familie mit zwei kleinen Kindern Ausschau halten. So viele würde es hier ja nicht geben, sagte ich mir, und ging zuversichtlich durch die große Milchglaspforte, auf der mit riesigen Buchstaben EXIT stand. Tja, Vancouver ist eben nicht Zürich, wurde es mir bewusst, als ich vor der riesigen Menschenmenge stand, die da auf die Ankommenden wartete. Ich stellte mich vor der glotzenden Menschenmenge auf, was mir höchst zuwider war. Bis heute hasse ich große Menschenansammlungen. Trotzdem glitt mein Augenpaar erstaunlich ruhig und langsam durch die Menschenmassen, darauf erpicht, meine Familie zu erspähen. Das Taschentuch hielt ich dabei hoch. Ich kam mir ziemlich doof vor. Nach kurzer Zeit hörte ich irgendwo eine Frau laut rufen. Ich glaubte, meinen Namen gehört zu haben. Als ich sie erspähte, winkte sie mir heftig zu, sodass der junge Mann zu ihrer Rechten ausweichen musste und ihr einen leicht erzürnten Blick zuwarf. Zu ihrer Linken stand ein groß gewachsener, dunkelhaariger Mann mit einem ziemlich dicken Schnurrbart. Seine Augen waren kaum zu sehen. Sie waren ganz dunkel und versteckten sich listig in den kleinen Augenhöhlen. Auf seinem Arm saß ein kleines, kugelrundes, blondhaariges Mädchen, gekleidet in ein gelbes Sonntagskleid voller Rüschen. Im etwas spärlichen Haar trug es ein zum Kleid passendes Haarband, geschmückt mit einer großen Seidenblume. An sein Bein geschmiegt stand ein etwa dreijähriges Mädchen, mit dunkelblonden, bis auf die Schultern fallenden Haaren, das gelangweilt an einem Daumen lutschte. Es hatte für meinen Geschmack ein etwas zu pompöses, rosarotes Kleidchen an. Zum Glück fehlte da das passende Haarband. Ich erwiderte den Gruß der Frau und ging auf sie zu. Sie war klein und etwas pummelig, hatte kurze blonde Haare und hellblaue Froschaugen. »Du musst Lisa sein, willkommen in Vancouver!«, sagte sie und schüttelte mir erschreckend kräftig die Hand. »Das hier«, sie zeigte auf den dunkelhaarigen Mann neben ihr, »ist Carl, mein Mann. Die Kleine da ist Norma, und die mit dem Daumen im Mund heißt Rebecca.«

Nach einem kurzen »Hi, nice to meet you!« entschuldigte sich Carl dafür, keine Hand frei zu haben, da er beide Kinder hielt und diese ihn nicht loslassen wollten. Mir war das recht, denn meine Hand war halb taub nach Roxannes Händedruck. Den Kindern warf ich ein kurzes »Hi« zu, denn sie waren sehr schüchtern und wendeten sich von mir ab. Das war sie also, meine Gastfamilie. Mein erster Eindruck war nicht gerade erhaben. Ich hatte das komische Gefühl, dass diese Leute die Kinder nur für meine Ankunft so herausgeputzt hatten, dass es wohl die Ungezogenheit verdecken sollte. Roxanne und Carl hingegen waren mit T-Shirt, kurzen Hosen und Turnschuhen eher bescheiden gekleidet. Das passte einfach irgendwie nicht zusammen. Dies war vielleicht die kanadische Art, die eigenen Kinder zu präsentieren.

Weder Roxanne noch Carl machten irgendwelche Anstalten, mir beim Koffertragen zu helfen, obwohl sie mich gleich fragten, was mit meinem Fuß geschehen war. Ich versuchte mit Händen und auch mit Füßen zu erklären, dass ich am Tag vor dem Abflug auf eine Biene getreten war und mein Fuß mich dadurch in doppelter Größe beglückte. Entweder hatten sie nicht verstanden, was ich ihnen zu erklären versuchte oder es beeindruckte sie nicht im Geringsten, dass ich einen Klumpfuß hatte, der nur schwer in meinen Turnschuh passte. Sie schritten sehr schnell voraus, und ich hatte natürlich alle Mühe, ihnen zu folgen. In diesem Moment hätte ich gerne mit Rebecca getauscht, denn sie flog an Carls Hand nur so nebenher. Als wir endlich beim Auto ankamen, war ich völlig erschöpft und mein Fuß fing heftig an zu jucken. Eigentlich hatte ich eine schöne, große, amerikanische Limousine erwartet, stattdessen stand da ein ziemlich kleiner verrosteter Toyota. Also auch in Kanada schienen die japanischen Autos billiger zu sein. Ich platzierte mich in der Mitte der Rückbank, eingeklemmt zwischen den beiden Kindern, die auf ihren wuchtigen Sicherheitssitzen aus braunem Leder thronten. Die Mädchen würdigten mich keines Blickes, jedes starrte zum Fenster hinaus. Als Carl losfuhr, fragte mich Roxanne über den Flug aus. Da wurde mir dann sehr schnell bewusst, dass ich noch sehr viel Englisch lernen musste. Mir fehlten zum Teil Wörter, die ich auch nicht umschreiben konnte, und verstand auch die Fragen nicht alle beim ersten Mal. Sie gaben sich jedoch beide sehr viel Mühe, deutlich und langsam zu reden. Und was mich am meisten beruhigte, war, dass sie nicht grinsten, wenn ich etwas falsch sagte.

Carl setzte dann das eher einseitige Gespräch fort, indem er mir sämtliche vorbeiflitzenden Sehenswürdigkeiten erklärte. Das war dann schon einfacher zu verstehen, da ich mich ja schließlich vorbereitet hatte, und – wie ich glaubte – den Stadtplan fast auswendig im Kopf hatte. Die Fahrt dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Wir folgten vorwiegend den großen Verkehrsachsen, die vom Flughafen, der auf einer Insel namens Sea Island lag, Richtung Down Town führten.

»Diese Straße musst du dir merken«, meinte Carl, »sie heißt Granville und führt mitten in die Innenstadt. Auf dieser Straße fahren auch Busse.«

An der Kreuzung Granville, 49th Avenue, schwenkte Carl nach links und fuhr in den Bezirk Kerrisdale hinein. Hier gab es kleine Einfamilienhäuser, Reihe an Reihe, und dazwischen ab und zu ein kleiner Wohnblock. Ich schaute jedes einzelne Straßenschild genau an und versuchte, mir die Namen einigermaßen einzuprägen. Wir bogen in die Elm Street ein. Hier also würde ich für ein Jahr wohnen. Carl parkte seinen klapprigen Wagen vor einem kleinen Wohnblock. Bei uns hätte man gesagt, er stamme aus den 70er-Jahren. Er war ganz kahl und ausdruckslos. Jede Partei hatte einen etwa vier Quadratmeter großen Betonbalkon und ein riesiges, lang gezogenes Wohnzimmerfenster. Außer der Wohnung im Parterre, die halb unter der Erde zu liegen schien, war der Block ganz in Ordnung. Nun, wie es der Zufall so will, bewohnten Carl und Roxanne die Parterrewohnung. Das Wohnzimmer, wohlbemerkt der hellste Raum, war halb in der Erde und wirkte sehr düster. Unter dem Fenster stand ein langes, wuchtiges Ledersofa, das mit einer kitschigen Häkeldecke bedeckt war. Ein großes Büchergestell befand sich gegenüber. Es war voll gestopft mit allem Möglichen, auch mit viel Kitsch. An der einen Wand stand auf einer großen Kiste ein Fernsehgerät, das lief. Vielleicht hatten sie es vergessen auszuschalten, als sie das Haus verließen. Oder war der Knopf defekt? Zwischen dem Wohnzimmer und dem Küchenbereich befand sich eine Glastür, die auf den kleinen Balkon führte, der natürlich auch halb im Boden versenkt war. Auch da kam die Sonne nicht ran. Die Küche war ein dunkles, fensterloses Loch, das zusätzlich durch dunkelbraune Holzfronten verdüstert wurde. Was mich allerdings tief beeindruckte, war der Geschirrspüler. Von zu Hause kannte ich das nicht. Wir Kinder mussten viel abwaschen und abtrocknen, was uns sicher nicht geschadet hatte. Aber dies hier nicht tun zu müssen, war schon ganz aussichtsreich. Wenigstens ein kleiner Pluspunkt, dachte ich und folgte meiner munter drauflosplappernden Wohnungsführerin zu den übrigen Räumen. Durch einen langen, schmalen Flur gelangten wir zum Kinderzimmer. Es hatte ein kleines Fenster, das mit Insektengittern versehen war, was wiederum weniger Licht hineinließ. In einer Ecke stand Rebeccas Gitterbett, und daneben, am Boden, lag ein ziemlich übel aussehendes Reisebett, das für die kleine Norma herhalten musste. Ein paar Spielsachen lagen über den blauen Veloursteppich verstreut. In einer anderen Ecke stand eine schäbige, alte Wickelkommode.

Roxanne führte mich weiter zum kleinen, fensterlosen Badezimmer, das völlig in Gelb gehalten war. Gegenüber lag mein Zimmer. Darauf war ich am meisten gespannt. Was ich bis jetzt von der Wohnung gesehen hatte, ließ mich Schlimmes ahnen. Ich stellte mir einen alten, verlotterten Kleiderschrank vor, vielleicht noch ein kleines Beistelltischchen, dann einen alten, zerkratzten Stuhl und irgendein quietschendes, von Holzwürmern halb zerfressenes Bett mit einer antiken Federkernmatratze. Doch weit gefehlt! Mein Zimmer war bis jetzt mit Abstand das beste. Das schön geschwungene Holz aller Möbel war weiß lackiert und mit Goldbeschlägen verziert. Es gab einen großen, zweitürigen Schrank mit Spiegel, einen dazu passenden Schreibtisch mit gepolstertem Stuhl, ein kleines Nachttischchen und ein breites Bett. Carl hatte meinen Koffer mitten ins Zimmer gestellt. Auf dem rosaroten Veloursteppich wirkte er sehr kitschig. Die Bettwäsche, die Vorhänge und die Lampenschirme trugen dasselbe Muster: rosarot geblümt. Und natürlich durften auch die Rüschen nicht fehlen, so viel hatte ich bis dahin schon gelernt. Das Fenster war zwar auch nicht groß, aber durch die hellen Möbel wirkte das Zimmer recht freundlich. Ich war sehr zufrieden und teilte dies auch gleich Roxanne mit. Sie erklärte mir wehmütig: »Carl hatte hier sein Büro eingerichtet. Seine Möbel haben wir in einem Kellerraum unterbringen können. Die Einrichtung stammt von mir, es war früher mein Mädchenzimmer. Ich liebe es heute noch sehr. Ich hoffe, du magst es genauso wie ich.«

»Ja, es gefällt mir sehr gut, ich werde mich hier wohl fühlen«, antwortete ich ihr ehrlich.

Zum Schluss zeigte sie mir ihr eigenes Schlafzimmer. Es war sehr düster und hatte eigentlich nur ein riesengroßes Bett darin stehen. In der einen Wand erkannte ich einen schmucklosen Wandschrank. Auf jeder Seite des Bettes stand eine Kiste, die mit einem Tuch bedeckt war. Darauf thronten kleine geblümte Nachttischlampen. Die obligatorischen Rüschen an den Vorhängen und Lampen gaben dem Zimmer trotz allem eine heimelige Atmosphäre.

»Das Bett ist ganz neu, wir haben es erst letzte Woche erhalten«, teilte mir Roxanne mit einem breit aufgesetzten Lächeln mit.

Sie hob den Bettüberwurf hoch und zeigte mir, was sich darunter verbarg. »Das ist ein Wasserbett, einige Liter passen da schon rein. Carl meinte, es wäre gut für unsere Rücken. Weißt du, ich habe immer Rückenschmerzen, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme. Bis jetzt hat das Wasserbett meine Schmerzen aber noch nicht zum Verschwinden gebracht. Das dauert wohl noch einige Zeit.«

Ich berührte die Matratze und war erstaunt, dass sie ganz warm war. Roxanne versuchte mir zu erklären, wie alles funktionierte. Ich muss gestehen, ich verstand nichts, ließ es mir aber nicht anmerken. Ich war langsam erschöpft und hungrig.

Carl hatte in der Zwischenzeit die Kinder umgezogen. Jetzt gefielen sie mir schon besser. Sie passten nun stilmäßig zu Roxannes und Carls Garderobe.

»Ich habe euch allen Geschenke mitgebracht«, sagte ich. Diesen Satz hatte ich schon vor dem Abflug geübt. »Ich geh alles holen!«

Ich verschwand in mein Zimmer und warf meinen Koffer mit viel Schwung aufs Bett. Dabei bemerkte ich, dass die Matratze wohl ziemlich weich sein musste. Der Koffer versank sogleich. Weiche Betten habe ich noch nie gemocht. Meine Matratze zu Hause war eher wie ein Brett. Ich setzte mich probehalber aufs Bett und fand es eigentlich doch nicht so schlimm. Die erste Nacht würde es dann zeigen. Während ich alles schnell auspackte, die Geschenke waren zuunterst verstaut, versuchte ich mir vorzustellen, wie weich erst ein Wasserbett sein musste. Als ich die Geschenke alle beisammenhatte, öffnete ich noch schnell das Fenster, um frische Luft reinzulassen. Die Aussicht war nicht überwältigend. Gleich vor dem Fenster befand sich ein Grashügel. Ein paar Meter weiter stand bereits die Garage des Nachbarhauses. Dazwischen ragten ein paar große Laubbäume in den blauen Himmel. Durch das dichte Laub konnte ich gerade noch ein Stück davon erblicken. Ich bemerkte allerdings trotzdem, dass sich der Tag dem Ende zuneigte. Meine Uhr zeigte 18.00 Uhr. Zu Hause war es jetzt mitten in der Nacht. Dieser Gedanke ließ mich noch müder werden. Ich riss mich zusammen und ging wieder zu den anderen ins Wohnzimmer. Die beiden Mädchen saßen für meine Begriffe viel zu nahe vor dem Fernseher und schauten sich die »Sesamstraße« an. Roxanne und Carl waren in der Küche damit beschäftigt, das Abendessen vorzubereiten.

Ich ging zu Norma und Rebecca, sprach sie an und zeigte ihnen die beiden Bernhardinerhunde. Sie schauten die beiden Fremdlinge ungläubig an.

»Die sind für euch, ihr dürft sie behalten!«, sagte ich zu ihnen.

Rebecca nahm den ihren, schmiegte sich an ihn und fiel mir um den Hals. Sie freute sich offenbar sehr darüber. Die kleine Norma war mehr am Fässchen interessiert als am Hund. Sie musterte das Fässchen mit ihren kleinen, dicken Fingern und versuchte es zu öffnen, was natürlich nicht möglich war. Nach einer Weile schmiss sie den Hund weg und wendete sich wieder der Sesamstraße zu.

Als ich in die Küche kam, war der Esstisch bereits gedeckt und Roxanne hantierte mit dicken Topflappen am Backofen herum. Carl, der gerade eine Rotweinflasche öffnete, forderte mich auf, mich zu setzen, da das Essen gleich fertig sei. »Magst du Hotdogs?«, fragte er mich.

Ich wusste zwar, was Hotdogs waren, aber ich hatte noch nie welche gegessen. »Ich glaube schon«, antwortete ich und hatte das Gefühl, dass er sofort verstand, wie ich es meinte.

Ich übergab ihm das Buch, worauf er sich herzlich bedankte. Auch Roxanne, die mittlerweile das gesamte Essen angerichtet hatte, kam hinzu und freute sich sehr über das Buch. Sie erklärte mir, es sei einer ihrer großen Träume, einmal in der Schweiz Ferien machen zu können.

Als wir dann alle am Tisch saßen und die ausgezeichneten Hotdogs mit viel Ketchup und Senfsoße aßen, erzählten mir Roxanne und Carl, was sie über die Schweiz wussten. Es war erstaunlich wenig. Zusammengefasst lautete dies etwa so: »Die Schweiz ist so klein, dass man nur zwischen hohen Bergen wohnen kann. Die Häuser sind alle aus Holz. Links und rechts weiden Kühe. Die Nahrungsmittel bestehen aus Milch, Schokolade und Käse, nur ab und zu Fleisch. Jeder trägt eine Armbanduhr und versucht herauszufinden, ob sie eine Sekunde vor- oder nachgeht.«

Ich wusste zuerst wirklich nicht, ob sie einen Scherz machten oder es tatsächlich ernst meinten. Letzteres stellte sich heraus. Das war extrem! Ich versuchte ihnen also zu erklären, dass das so nicht stimmte. Und mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung standen, bemühte ich mich, meine Heimat zu beschreiben. Mit Genugtuung stellte ich fest, dass sie zumindest wussten, dass die Schweiz in Europa liegt. Interessiert lauschten sie meinen holprigen Erklärungen. Doch bald gewann ich den Eindruck, als hätte ich ihren Traum zerstört. Sie waren sichtlich enttäuscht, dass es auch in der Schweiz nicht viel anders zu- und herging als in Kanada. Carl fragte mich über die Regierung und Politik aus. Gut, dass ich gerade kurz zuvor meine Lehre als kaufmännische Angestellte abgeschlossen hatte. In Rechts- und Wirtschaftskunde war ich zwar kein Genie, aber ich wusste doch allerhand. Als ich dann erwähnte, dass wir sieben Bundesräte hätten, fanden sie dies doch ziemlich amüsant.

»Was passiert, wenn sie nicht einer Meinung sind?«, fragte mich Carl belustigt.

»Ich nehme an, sie stimmen darüber ab!«, meinte ich zu wissen und versuchte dies mit der Begründung zu belegen, dass es ebendeshalb eine ungerade Anzahl Bundesräte gäbe.

Roxanne brachte in der Zwischenzeit die Kinder direkt vom Fernseher ins Bett. Nach gut zehn Minuten war sie schon wieder bei uns und fragte mich, ob ich den Kindern noch Gute Nacht sagen wolle. Ich stand auf und humpelte zum Kinderzimmer. Beide lagen müde in ihren Bettchen und lutschten an ihren Daumen. Rebecca hielt den Hund in den Armen. Das erste Eis schien gebrochen zu sein. Sie lächelte mir zu und wisperte: »Good night.«

Ich wünschte auch ihr eine gute Nacht und bückte mich rüber zu Norma. Sie hatte die Augen bereits geschlossen, das Fässchen fest in ihrer kleinen Hand. Ich schlich mich aus dem Zimmer.

Roxanne hatte auf mich gewartet. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, sagte sie zu mir: »Carl möchte gerne deinen Fuß anschauen, vielleicht kann er dir etwas geben, damit er nicht mehr so juckt.«

Ich war höchst erstaunt. Warum Carl und nicht Roxanne? Bis jetzt hatte ich diesen Gedanken verdrängt, aber ich fühlte mich nicht besonders wohl in Carls Gegenwart. Sie schien meine Gedanken lesen zu können und erklärte mir: »Carl ist im letzten Semester seines Medizinstudiums. Er wird bald praktizierender Arzt sein. Ich glaube, er kann dir besser helfen als ich.«

Ach so war das. Diese Erklärung beruhigte mich dann wieder.

Wir gingen also beide zurück ins Wohnzimmer, wo ich meinen Klumpfuß entblößte. Ich versuchte Carl zu erklären, dass ich eine Salbe mithatte, die ich im Flugzeug das letzte Mal aufgetragen hatte.

»Was ist das für eine Salbe?«, fragte er mich.

Ja, jetzt war ich ratlos. Was zum Teufel hieß »Essigsaure Tonerde« auf Englisch? »Ich zeige sie dir«, sagte ich zu ihm und war schon auf dem Weg in mein Zimmer.

»Die kenne ich nicht!«, meinte er dann verblüfft, als ich ihm die Tube vor die Nase hielt.

»Sie kühlt und hemmt den Juckreiz!«, erklärte ich weiter.

»Wir haben eine Salbe, die anders heißt, aber denselben Zweck erfüllt. Bist du allergisch auf Bienenstiche?«

»Nein, ich hatte bis jetzt jedes Jahr ein bis zwei Stiche, da ich viel barfuß gehe. Nach ein paar Tagen hörte der Juckreiz jeweils auf und die Stelle schwoll ab. Morgen wird es schon besser sein«, versuchte ich ihm begreiflich zu machen.

Ich wollte nicht, dass er meinen Fuß berührte.

»Ich glaube, wir sollten Lisa jetzt endlich ausruhen lassen. Sie hatte einen langen Tag«, unterbrach uns Roxanne.

Hatte sie bemerkt, dass es mir unangenehm war? Oder sah ich da eine Spur von Eifersucht? Vielleicht meinte sie es ja nur gut mit mir. Ich war jedenfalls etwas verwirrt, wahrscheinlich auch deshalb, weil ich wirklich hundemüde und erschöpft war. Ich stülpte meine Socke wieder über, nahm die Salbe und verabschiedete mich für die Nacht. Im Zimmer angekommen drehte ich den Schlüssel. Jetzt war mir wohler. Ich war für mich alleine und konnte noch einmal alles Erlebte durchgehen. In Gedanken versunken packte ich meinen Koffer vollständig aus und verstaute die Sachen im Schrank und im Schreibtisch. Danach zog ich meinen Pyjamashorty an und schmierte noch einmal meinen Fuß ein. Das ganze Zimmer roch jetzt nach essigsaurer Tonerde.

Das Fenster ließ ich einen Spalt weit offen, um die kühle Sommerluft hereindringen zu lassen. Ich legte mich ins Bett und deckte mich zu. Das Bett war zwar sehr breit, aber für meine Begriffe etwas zu kurz. Ich war mit meinen 172 cm wohl nicht die Kleinste, aber auch nicht übermäßig groß. Also zog ich die Beine etwas an. Die Weichheit der Matratze störte mich nicht im geringsten. An die Decke starrend überlegte ich noch lange hin und her. Ich fühlte mich in dieser Familie nicht besonders wohl. Das war mir jetzt klar. Aber warum? Sie waren doch ganz nett zu mir. Hatte ich völlig falsche Erwartungen gehabt? Hatte ich mich falsch verhalten? Ich war ja erst ein paar Stunden mit ihnen zusammen. Das würde sich schon noch einpendeln, versuchte ich mir einzureden. Morgen würde alles viel besser werden.

Sehnsuchtsort Vancouver

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