Читать книгу Neues Leben für Stephanie - Lisa Holtzheimer - Страница 11
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ОглавлениеIn Janas Schlafzimmer sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Auf dem Bett lag ein Koffer, daneben und auf dem Fußboden ganze Stapel Pullover, Hosen, T–Shirts und andere nützliche Dinge, die man im Urlaub brauchen kann. Mittendrin saß Jana und überlegte krampfhaft, welche Ausstattung sie nun wählen sollte. Berge und Schnee waren Neuland für sie – Urlaub hatte für sie bisher bedeutet, sich auf Mallorca in die Sonne zu legen und nachts die Diskotheken zu erkunden. Bayern war etwas für Omas, war ihre eindeutige Meinung. Ob es in Berchtesgaden Diskotheken gab? Tatsächlich hatte sie Stephanie noch nicht danach gefragt, wurde ihr erst jetzt bewusst. „Das ist ein Urlaubsort, da wird‘s eine Disco geben“, entschied sie dann und warf Glitzer–Shirt und enge Hosen in den Koffer. Die entsprechenden Schuhe durften natürlich auch nicht fehlen. Bei dem Gedanken an den von Stephanie immer wieder erwähnten Schnee schüttelte sie sich. Wenn die Beschreibung stimmte, lag dieser dort immer noch meterhoch. Der März hatte begonnen, und ihr war entgegen ihrer kurzen Phase im Büro vor ein paar Tagen mehr nach Frühling zu Mute. Aber wer fragt schon nach dem Wetter, wenn es darum geht, die beste Freundin zu besuchen ... Also auch ein paar dicke Pullover und warme Jeans einpacken. Morgen Nachmittag ging ihr Flieger – dieses Mal nicht nach Palma de Mallorca, sondern nach Salzburg. Sie konnte es noch nicht wirklich fassen.
* * *
Stephanie wälzte sich von einer Seite auf die andere. 2 Uhr 28. Als sie vor Stunden das letzte Mal auf die Leuchtanzeige des Radioweckers geschaut hatte, war es 2 Uhr 12 gewesen. In weniger als drei Stunden würde sich das Radio einschalten und die Nacht beenden. Ihr grauste vor dem Gedanken, todmüde und fast ohne Schlaf 8 Stunden Dienst machen zu müssen; auf der anderen Seite hatte dann diese elende Warterei ein Ende. Die Umstellung zwischen Nachtwache und Tagdienst war sowieso schon nicht einfach, und ihre freudige Aufregung sorgte dafür, dass sie gar kein Auge mehr zubekam. Um 16 Uhr 12 würde Jana in Salzburg landen, gerade die richtige Zeit, damit Stephanie vorher noch beim Bäcker vorbeigehen konnte, um frischen Kuchen zu besorgen, und dann nach Salzburg zu fahren. Die Entfernung war nicht weit, bis zum Ortsanfang vielleicht 25 km. Der Flughafen lag jedoch genau am anderen Ende der Stadt. „Das wird ja spannend“, dachte sie. Bisher kannte sie Salzburg nur vom Hörensagen und von dem Besuch bei Brittas Hauskreis. Der allerdings war in einer Wohngegend vor der Stadt gewesen. Wenigstens wusste sie daher, welche Richtung sie einschlagen musste und wie lange Fahrtzeit sie bis zum Ortsanfang rechnen musste. Einen Stadtplan konnte sie auch lesen, und für eine Hamburgerin war Salzburg ein größeres Dorf. So traute sie sich zu, den Flughafen ohne größere Probleme zu finden.
* * *
„... und viel Sonne! Wir wünschen Ihnen einen wunderschönen Tag.“ Was war das? Wer sprach mit ihr mitten in der Nacht? Ach, nur das Radio. Letztendlich war Stephanie doch noch eingeschlafen und gar nicht begeistert, jetzt schon wieder aufstehen zu müssen. Aber es half nichts, die Patienten warteten – und die Kolleginnen auch. So schnell wollte sie nicht wieder zu spät kommen. Zudem hatte Margot heute auch Frühdienst – dieser Gedanke ließ Stephanie endgültig aus dem Bett steigen. Sie verstand sich recht gut mit der Stationsschwester, wollte sie aber trotzdem keine unnötigen Schnitzer erlauben, und dazu gehörte, dass sie pünktlich 2 – 3 Minuten vor sechs Uhr auf der Station erschien. Immerhin, der Mensch im Radio hatte gerade etwas von viel Sonne gesagt. Selbst das Wetter schien sich mit ihr zu freuen. Die Dusche – heute etwas kälter als sonst – sorgte dafür, dass auch der restliche Schlaf aus Stephanie verschwand. Kaffee würde sie auf Station bekommen, den bereitete die Nachtwache jeden Morgen für den Frühdienst vor.
Dick eingepackt verließ sie kurze Zeit später das Haus. Sonne hin oder her – noch schlief diese und überließ ihrem Kollegen Mond die Wache am Himmel. Dementsprechende Temperaturen hatten wieder einmal alle Scheiben ihres Autos mit einer dicken Eisschicht überzogen – also kratzen. Jana hatte ihre ganz eigene Methode, mit solchen Unannehmlichkeiten umzugehen – sie goss einfach warmes Wasser über die Scheiben, stellte den Scheibenwischer an und hatte freie Sicht. Obwohl die Freundin seit Jahren erfolgreich mit dieser Methode war, traute Stephanie sich nicht, es ihr nachzutun. Bestimmt würde ihre Scheibe platzen. Somit kratzte sie auch an diesem Morgen so viel wie nötig und so wenig wie möglich, um zu sehen, was der um diese Zeit spärliche Verkehr um sie herum tat. Auch dies war eine gute Methode zum Wachwerden.
Sechs Minuten vor 6 betrat sie die Eingangshalle des Krankenhauses, weitere drei Minuten später verließ sie den Fahrstuhl im dritten Stock und öffnete die Tür zum Schwesternzimmer, wo die Nachtwache gerade die Kaffeemaschine einschaltete. „Guten Morgen, Martina. Super, dass es gleich frischen Kaffee gibt. Sonst lege ich mich in das nächste freie Bett ...“ Martina grinste: „Genau das werde ich gleich tun – aber in mein eigenes.“ „Beneidenswert“, stöhnte Stephanie und hoffte einmal mehr, dass nichts Außergewöhnliches passieren würde heute. Ein paar ruhige Stunden am Schreibtisch wären genau das, was sie heute brauchen könnte. „Hoffentlich haben die Patienten ein Einsehen mit mir“, dachte sie.
* * *
„Oh nein, nicht schon wieder“, jammerte Michael gespielt, als Dr. Matthias Bechstein ihn freundlich um ein paar Milliliter Blut bat. Gestern hatte er diese Prozedur gleich dreimal über sich ergehen lassen müssen, und wenn es auch erträglich war, so reichte es ihm doch langsam. Seit Tagen kämpfte Michael mit leichtem Fieber, und das gefiel weder ihm noch den Ärzten. Über verschiedene Bluttests versuchten sie, die Ursache zu finden, kamen aber bisher zu keinem eindeutigen Ergebnis. Dazu kam, dass die Schmerzen in Michaels Bein einfach nicht nachlassen wollten – die Ursache hierfür lag offenbar an den Nägeln und Schrauben, die ihm in der Operation nach dem Unfall eingesetzt worden waren. Irgendetwas war dort nicht in Ordnung. Dr. Bechstein setzte sich auf die Bettkante, um seinem Patienten zu erklären, dass sie vermutlich nicht um eine zweite Operation herum kommen würden.
Diese Nachricht begeisterte Michael nur wenig. Er hatte gehofft, in ein paar Tagen wenigstens einen Gehgips zu bekommen, um endlich dem Bett entfliehen zu können. Doch die von Anfang an kaum nachlassenden Schmerzen in seinem Bein gaben dem Arzt Recht. Nach außen hin hatte er seinen Humor bisher wahren können – es machte ihm auch Spaß, mit den Schwestern herumzualbern oder seinen Mitpatienten Rätsel aufzugeben. Doch jetzt war ihm nicht mehr nach Lachen oder Herumalbern zumute. Eine weitere Operation bedeutete nicht nur eine erhoffte Besserung seines Zustandes, sondern natürlich auch eine noch nicht abzusehende Verlängerung seines unfreiwilligen Aufenthaltes hier. Wie gut, dass er einen verständnisvollen Chef hatte, der ihm am Telefon als erstes gesagt hatte, er solle auf keinen Fall auch nur einen Tag zu früh wieder mit der Arbeit beginnen. Der Tag würde bestimmt kommen, an dem sein Vorgesetzter diese Aussage bereuen würde. An Arbeit würde mindestens die nächsten 2 Monate nicht zu denken sein, wenn das hier so weitergehen würde. Von Stefan wusste er, dass sein Vater seinen Eingriff längst gut überstanden hatte und schon wieder zu Hause in seinem geliebten Schaukelstuhl saß. Derweil versuchte er, im Berchtesgadener Krankenhaus die Zeit totzuschlagen.
Außer einem fast rund um die Uhr laufenden Fernsehgerät gab es kaum eine Abwechslung. Bücher hatte er keine dabei, denn er war zum Skilaufen und nicht zum Lesen in den Urlaubsort gekommen. Das einzige Buch, das er im Gepäck hatte, lag in seinem Koffer im Abstellraum von Christine und Peter Mooser. Diese hatten sein Zimmer ausräumen müssen, um für den nächsten Gast Raum zu schaffen. Dabei hatten sie alles in den Koffer gelegt und diesen zur Aufbewahrung in den Abstellraum gelegt. Er wollte ihnen nicht mehr Arbeit als nötig machen, darum hatte er sie nicht gebeten, nach seiner Bibel zu suchen. Aber er vermisste sie sehr. Gott sei Dank brauchte man zum Beten nicht mehr als einen einigermaßen klaren Kopf – kein Telefon, kein Buch, kein Radio, keinen Fernseher. Die Zeiten, in denen seine Mitpatienten das Zimmer verlassen hatten, nutzte er, um den Fernseher auszuschalten und mit Gott zu sprechen. Das half ihm, diese nicht so einfache Zeit zu ertragen.
Er griff zum Telefon. Sein Bruder arbeitete als Freiberufler zu Hause, so dass er ihn auch am Vormittag erreichen konnte. Er brauchte jetzt eine vertraute Stimme, jemanden zum Reden. Und auch jemanden, der zu Hause in Frankfurt ein paar Dinge für ihn regeln würde – angefangen beim Blumengießen in seiner Wohnung bis zum Klavierspielen in der Gemeinde, für das er schon am nächsten Sonntag wieder eingeplant war. „Wie gut, dass mein leiblicher Bruder auch mein geistlicher Bruder ist“, dachte er. Ein christlicher Gesprächspartner fehlte ihm besonders in diesen Tagen sehr. Seine Zimmernachbarn waren zwar nett, aber auf dieser Ebene war mit ihnen nicht zu kommunizieren, das hatte er schon vorsichtig abgeklopft. Er wählte die Frankfurter Nummer und bat 2 Minuten später seinen Bruder um einen Rückruf. Die Einheiten hier in der Klinik waren derartig teuer, dass Ferngespräche unerschwinglich wurden.
* * *
„Hallo Michael, wir wollten mal wieder schauen, wie’s dir so geht.“ Michael blinzelte. Nach dem Mittagessen war er eingenickt. Neben ihm stand Peter Mooser, und Florian lehnte an der Fensterbank. „Klasse Gips“, war sein erster Kommentar. „Damit kannste ja glatt jemanden erschlagen.“ Michael konnte nicht anders als lachen. „Das hatte ich eigentlich nicht vor – aber wenn ich’s mir so überlege, ich könnte ja mal mit dir üben.“ Florian grinste und sein Vater warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Wir können dir gerne mal einen verpassen, dann kannst du selbst feststellen, ob du den Gips dann immer noch ‘klasse’ findest.“ Er wandte sich wieder Michael zu. „Darfst du schon aufstehen und mit uns in der Caféteria Kaffee trinken?“ „Kaffee ...“, kam es angewidert aus Richtung Fenster. „Davon wird man dumm. Ich trink’ lieber Cola!“ Bevor Peter seinem Sohn nun ernsthaft ins Gewissen reden konnte, antwortete Michael: „Leider lassen sie mich nicht aus dem Bett – und ehrlich gesagt, im Moment habe ich auch keine großen Ambitionen dazu, denn mein Bein tut irrsinnig weh. Das will einfach nicht heilen. Deshalb werden sie morgen erneut an mir herumschnipseln ...“. Peter war sichtlich betroffen. Er war von einem normalen Beinbruch ausgegangen, der sich schon auf dem Weg der Besserung befand.
„Flo – lauf doch mal runter und besorge uns 2 Kännchen Kaffee – den darfst du doch trinken?“ warf er mit einem Blick auf Michael ein. Der nickte. „Und deine Cola kannst du auch mitbringen. Wenn du willst, kannst du auch noch ein Eis essen – das aber unten in der Cafeteria. Den Kaffee bringst du uns dann später hoch.“ „Au ja!“ Florian sprang auf. Erst Eis und dann Cola, das waren gute Aussichten. So spendabel war sein Vater nicht oft, das musste er ausnutzen. Er hielt ihm die ausgestreckte Hand entgegen. Peter drückte ihm einen Schein in die Hand, und sein Sohn hüpfte pfeifend aus dem Zimmer. „Und bring noch ein paar Zeitschriften für Michael mit – der stirbt sonst vor Langeweile!“ rief Peter ihm noch hinterher. „Magst du ‘was Bestimmtes?“ Michael schüttelte den Kopf. „Ganz egal, aber ein paar Kreuzworträtsel wären nicht schlecht. Das soll ja die Intelligenz fördern.“ Florian schielte und wollte schon wieder einen Spruch loslassen, aber sein Vater hob warnend die Augenbrauen. Wortlos verschwand der Junge.
Eine gute halbe Stunde später öffnete sich die Zimmertür wie von selbst, und dann kam Florian hinterher, ein Tablett vor sich her balancierend. „Zimmerservice! Kalter Kaffee mit saurer Milch und Salz.“ grinste er und stellte das Tablett auf Michaels Nachttisch, griff nach der Cola–Flasche und sprang wieder auf die Fensterbank. Michael musste einfach immer wieder über den Zwölfjährigen lachen. Seine frechen Bemerkungen waren nur halb so frech gemeint, und sie erfüllten ihren Zweck. Sie heiterten ihn ohne Zweifel auf. Schön, dass seine Pensionsleute längst mehr als nur Gastgeber waren und sich auch um sein Wohlergehen sorgten. Ohne ihre Besuche von Zeit zu Zeit gäbe es hier tatsächlich keinen Menschen, mit dem er auch einmal ein privates Wort wechseln könnte. Wenn sie jetzt noch Christen wären, könnten sie auch mal miteinander und füreinander beten. Für sie beten, das tat Michael schon seit Jahren immer wieder, und in diesen Tagen hatte er dafür besonders viel Zeit. Moosers waren wirklich liebe Leute, er würde es sich und ihnen wünschen, dass sie Gott kennen lernten.
Sie tranken den Kaffee, dann verabschiedeten sich Peter und Florian. Peter versprach, Michael ein bisschen Lesestoff zu besorgen, und Florian wollte ihm seinen Radio–CD–Spieler bringen. Michael war gerührt und musste aufpassen, dass ihm nicht die Tränen kamen. Dieser Junge, auf dem Weg zwischen Kind und Teenager, spielte immer wieder den Clown und warf mit wilden Sprüchen um sich, aber er hatte ein weiches Herz und ein feines Gespür dafür, wann die Zeit gekommen war, freche Sprüche gegen Freundlichkeiten einzutauschen. „Heute Abend bring’ ich dir alles her!“ rief er von der Tür aus zum Abschied und winkte mit beiden Armen über dem Kopf. Michael zweifelte keinen Moment daran, dass er das auch tun würde.
* * *
Es schneite. Wie Wattebäusche wirbelten die Schneeflocken durch die Luft und sorgten für eine extrem kurze Sichtweite. „Ausgerechnet jetzt“, dachte Stephanie. Angestrengt versuchte sie, die Straßenschilder in der fremden Stadt zu lesen. Neben ihr verlief der Fluss, das war zu erkennen, und irgendwie musste sie diesen überqueren, um in Richtung Flughafen zu kommen. Doch das war leichter gesagt als getan. „Diese Stadt hat ja mehr Einbahnstraßen, als die Polizei erlaubt“, stöhnte sie. „Wohin geht das jetzt schon wieder? Das ist doch die falsche Richtung!!“ Aber die Verkehrsführung ließ nichts anderes zu; abgesehen davon war es im dichten Nachmittagsverkehr nahezu unmöglich, spontan eine Spur zu wechseln. Sie hatte sich restlos verfahren. An der nächsten Möglichkeit steuerte sie ihren kleinen Wagen genervt an den Straßenrand, um auszusteigen und das nächste Straßenschild zu suchen. Dies schien die einzige Möglichkeit zu sein, sich wieder Orientierung zu verschaffen. An der Kreuzung blieb sie stehen und faltete den Stadtplan auseinander, den sie sich an einer Tankstelle besorgt hatte. Der Flughafen war leicht zu erkennen, aber wo – um alles in der Welt – befand sie sich gerade? Sie blickte auf die Armbanduhr. Wenn sie sich beeilte und den Weg jetzt fand, hatte sie noch Chancen, den Flughafen zu erreichen, bevor Jana ausgecheckt hatte. In 6 Minuten sollte die Maschine landen, aber zwischen Landen und Auschecken verging erfahrungsgemäß mindestens eine halbe Stunde – meistens mehr. Aus dieser Sicht konnte sie es schaffen – wenn sie herausfinden würde, wo ihr Standort gerade war ... Sie suchte nach Orientierungspunkten auf dem Plan und in der Umgebung. Der Fluss war nicht mehr zu sehen, aber das letzte Mal hatte er links von ihr gelegen. Über irgendeine Brücke war sie dorthin gekommen – aber welche der vielen Brücken auf dem Stadtplan war das gewesen? Langsam schlich Verzweiflung in ihr hoch. Schneesturm in einer wildfremden Stadt, sie hatte keine Ahnung, wie sie jemals den Flughafen finden sollte, geschweige denn später den Weg zurück nach Hause – und die Minuten verstrichen. Gleich würde Jana das Flugzeug verlassen.
Stephanie sah sich um. Kaum ein Mensch auf der Straße – jedenfalls zu Fuß. Dafür Unmengen von Autos, aber sie konnte schlecht einen Wagen anhalten, um nach dem Weg zu fragen. Drüben auf der anderen Straßenseite blinkte ein Werbeschild. Darunter entdeckte sie ein Lokal. Sogar Licht schien durch die Fenster, also war es offen. Dort würde man ihr hoffentlich helfen können. Zum Glück gab es an dieser Kreuzung eine Ampel, die die unendliche Blechschlange irgendwann zum Stehen brachte und ihr den Weg in Richtung Gaststätte ebnete. 2 Minuten später öffnete sie die Tür zu dem Lokal. Hinter der Theke standen zwei nur leicht bekleidete Mädchen. „Oh nein, wo bin ich denn hier gelandet?“ Stephanie hatte nicht weiter auf die Inschrift auf dem blinkenden Schild geachtet – Hauptsache ein Mensch, der sich auskannte. Doch bei dem Anblick kamen ihr Zweifel, ob sie diesen Menschen hier finden würde. Doch wo sie nun schon einmal drin war, ging sie weiter und legte den Stadtplan auf die Theke. „Ich suche den Flughafen – und ich hab’s fürchterlich eilig!“ Die Mädchen blickten sich an, dann ging eine in einen Hinterraum und kam mit einem mittelalten Mann wieder. Der wusste, wie die Straße hieß, in der sie sich befanden, und er konnte ihr auch den Weg zum Flughafen so erklären, dass sie eine Ahnung davon bekam, wie sie fahren musste. Sie bedankte sich, schnappte den Plan und lief auf die Straße. Wieder musste die Ampel ungeduldige Autofahrer stoppen, dann stieg Stephanie in ihr Auto, fädelte sich in den Verkehr ein und schlug die Richtung ein, die der eigentlich sehr freundliche Mann ihr gezeigt hatte.
Eine knappe Viertelstunde später führte die Straße in einem kleinen Tunnel unter einer Start- und Landebahn hindurch und der Wegweiser führte direkt auf den Parkplatz vor dem kleinen Flughafen. „Süß“, war ihr erster Gedanke beim Anblick des einzelnen Gebäudes, das offensichtlich alle Funktionen in sich vereinigte. Sie betrat die Halle und suchte nach Hinweisschildern zur Ankunftshalle, als sie fast umgeworfen wurde. Jana hing an ihrem Hals.
* * *
Während die Kaffeemaschine gurgelnde Geräusche von sich gab, deckte Stephanie den Tisch und Jana erkundete die Wohnung. Nach einer weiteren recht abenteuerlichen Fahrt durch Salzburg waren die Freundinnen gut eineinhalb Stunden später am Ortsrand von Berchtesgaden angekommen, wo auch gleich Stephanies Wohnung lag. Der Schnee fiel immer noch ohne Pause vom Himmel, so dass Jana auf der Autofahrt kaum etwas von der schönen Landschaft rund um sie herum zu sehen bekommen hatte. Der Untersberg jedoch, der genau zwischen Salzburg und Berchtesgaden lag, war so nahe, dass man ihn fast greifen konnte, an ihm entlang führte ein Teil der Strecke, und für ein Nordlicht wie Jana war dies schon ein beeindruckender Berg. Stephanie grinste, als Jana dies äußerte. Im Prinzip ging es ihr genauso, aber südlich von Berchtesgaden standen noch weit höhere Berge, und diese hatte sie seit einigen Wochen täglich vor Augen. Nun wollte Jana zuallererst genauestens erkunden, wie und wo die Freundin jetzt lebte, und vor ihr war wirklich keine Ecke der Wohnung sicher. „Hey, du Unhold – lass den Vorhang zu, da hab’ ich alles hingeworfen, das im Wege ‘rumlag!“ warnte Stephanie mit gespielter Drohung, „komm lieber ins Wohnzimmer, der Kaffee ist nämlich fertig.“
Das wirkte. Jana ließ den Vorhang los, hinter den sie gerade einen Blick werfen wollte, und kam ins Wohnzimmer. Kaffee war gut nach der Reise. Der eigentliche Flug dauerte kaum länger als eine Stunde, aber alles in allem verging doch ein halber Tag, bis das wirkliche Ziel, Stephanies Wohnung, endlich erreicht war. Zudem hatte Jana das Mittagessen ausfallen lassen und war direkt vom Büro aus zum Flughafen aufgebrochen. Frischer Kaffee war genau das, was sie nun brauchen konnte. Dazu hatte Stephanie noch ein paar leckere Dinge vom Bäcker mitgebracht – Jana war zufrieden. Sie ließ sich auf das altbekannte Sofa fallen. „Schon witzig – all die bekannten Möbel in einer unbekannten Wohnung wiederzufinden“, meinte sie dann kauend. „Aber ich muss zugeben, diese Wohnung übertrifft deine alte bei weitem.“ „Gell?“ kommentierte Stephanie nur. Jana riss die Augen auf. „Wie bitte?? Das darf doch einfach nicht wahr sein! Da lässt man dich ein paar Wochen aus den Augen, und du sprichst bayerisch und gehst zur Kirche!“ „Warte erst mal ab, bis du dich mit ein paar Leuten hier unterhalten hast, und dann frag ich dich noch mal, ob ich bayerisch spreche. Und im übrigen bin ich hier noch nicht ein einziges Mal zur Kirche gegangen.“ „Naja, aber dieser komische Kreis da hinten – der ist doch dasselbe.“ Jana konnte es einfach nicht lassen, dieses Thema anzusprechen. „Ist es nicht – du kannst ihn dir gerne mal angucken, wenn du willst.“ Jana schüttelte energisch den Kopf. „Und außerdem war ich nur ein einziges Mal da, und das war ganz nett. Was dagegen, dass ich mir hier Freunde suche?“ Stephanie war ein wenig gereizt. „Nee, natürlich nicht“, beschwichtigte Jana, „nur die richtigen sollten es sein“.
Stephanie schluckte eine Antwort hinunter. Sie hatte keine Lust auf diese Diskussion und wollte nicht gleich am ersten Tag mit Jana streiten. Sie hatte das ungute Gefühl, dass ihre beste Freundin und sie sich auseinanderleben könnten. Der Gedanke gefiel ihr nicht, aber auf der anderen Seite lebte sie jetzt hier und wollte hier Freundschaften schließen. Völlig ungewollt begann sie, Jana mit Britta zu vergleichen. Die beiden waren schon sehr verschieden, und beide waren Freundinnen von ihr. Ob sie sich verstehen würden? Stephanie wünschte es sich sehr.
* * *
„Wo bin ich?“ Jana rieb sich die Augen und versuchte sich zu orientieren. Stephanie musste laut lachen. Schon immer hatte ihre Freundin Probleme, sich am ersten Morgen in einer neuen Umgebung zurechtzufinden. In einem früheren Urlaub fand sie sich in der Nacht einmal auf dem Balkon statt im Bad wieder. „Im Watzmannhaus“, gab sie dann zur Antwort. „Im was??? Was’n das schon wieder?“ Jana wurde langsam wach und schnupperte Kaffeeduft. „Egal, solange es hier Kaffee und Brötchen gibt, von mir auch aus das Witzmannhaus – oder wo auch immer.“ Stephanie bog sich vor Lachen. Das würden lustige Tage werden. Sie hatte der Hamburgerin so viel zu zeigen und zu erklären.
Jana rieb sich die Haare trocken, während sie auf dem Küchenstuhl gegenüber Stephanie Platz nahm. Kaffee, Orangensaft, Brötchen, Eier und diverse Auflagen standen auf dem Tisch. „Das reicht ja bis heute Abend“, meinte sie, und Stephanie nickte. „Soll es auch. Guck mal auf die Uhr.“ Die Frauen hatten bis lange in die Nacht hinein geredet, sie hatten sich unendlich viel zu erzählen. Und das ging wie fast immer am allerbesten im Schlafzimmer, wo eine Matratze auf dem Fußboden als Bettersatz für Jana herhalten musste. Die Schläge der Kirchturmuhr wurden zuerst mehr, dann weniger und schließlich wieder mehr, bis die Antworten aus der einen oder anderen Ecke des Zimmers immer schläfriger und dann gar nicht mehr kamen. Stephanie jedoch war das frühe Aufstehen so sehr gewöhnt, dass sie auch nach einer solchen Nacht nicht bis mittags schlafen konnte. Ganz im Gegensatz zu Jana. Als sie um kurz nach 9 endgültig aus dem Bett stieg, rührte sich auf der Matratze überhaupt noch nichts. Zwei Stunden später griff Stephanie zur Methode Kaffeeduft – die hatte bisher noch immer gewirkt.
Nach einem ausgiebigen Brunch lockte das strahlende Wetter die beiden nach draußen. Immer noch lag eine dichte Schneedecke nicht nur auf den Bergen, sondern auch im Ort. Jana war fasziniert, das musste sie zugeben. Bei Sonne und in dieser Umgebung wirkte der Schnee ganz anders als in Hamburg. Sie spazierten in den Ort und später fuhren sie an den Königssee, den Jana unbedingt gleich sehen wollte. Wie fast immer, trafen sie hier auf jede Menge Winterurlauber. „Komm, jetzt gehen wir in das Café, in dem ich letztens mit Britta war.“ Stephanie zog die Freundin vom See weg. „Der läuft dir nicht weg, hier können wir von mir aus jeden Tag her kommen.“ Jana grinste. Stephanie hatte sie durchschaut. Sie liebte das Wasser, das gab ihr etwas Vertrautes. Während sie bei Kaffee und Kuchen saßen, konnte Stephanie nicht anders, als Jana zu ärgern. „Und gleich steigen wir auf den Jenner.“ Sie erinnerte sich an ihr eigenes entsetztes Gesicht, als Britta ihr vor gar nicht langer Zeit genau denselben Vorschlag unterbreitet hatte. Jana guckte nicht weniger dumm. „Wie bitte? Ich bin doch nicht zum Kraxeln hergekommen.“ „Da gibt’s Wege, da musst du nicht klettern.“ Stephanie kostete ihre Überlegenheit noch ein bisschen aus und Jana schien schon zu resignieren. „Wenn’s unbedingt sein muss ...“ Dass sie bis zur Hüfte oder weiter im Schnee versinken würde, wenn sie das wirklich versuchten, darauf kam sie gar nicht. Stephanie musste aufpassen, dass sie den Kaffee nicht durch die Gegend prustete, und entschloss sich, die Freundin aufzuklären. „Zum Glück!“ war deren einziger Kommentar. Schwimmen, Segeln, Rad fahren, das war etwas für Jana. Laufen in jeder Form nicht. Und auch noch steil nach oben, das konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Natürlich wusste Stephanie das.
Langsam wurde es dunkel, und sie entschlossen sich, zurück nach Hause zu fahren. Jana hatte einen ganzen Stapel Fotos mitgebracht, und Stephanie war sehr gespannt. Nicht alle hatte Jana selbst gemacht, mindestens fünf Dutzend hatte Stephanies Mutter ihr mitgegeben. „Damit sie uns das nächste Mal noch erkennt“, hatte sie zu Jana gesagt. Stephanie verdrehte die Augen, als diese ihre Mutter zitierte. Sie liebte ihre Familie, aber ihre Mutter konnte auch sehr klammern, und seitdem sie weit von Hamburg weg wohnte, genoss sie diesbezüglich eine ganz neue Freiheit. Ihre Mutter hatte Fotos vom Haus, von ihren Geschwistern, vom Garten und sogar von der Garage gemacht. „Du meine Güte“, stöhnte Stephanie, „glaubt sie, ich hab’ schon Alzheimer?“ Jana fiel fast vom Sofa. „Ich bin doch nicht aus der Welt, nicht mal aus Deutschland raus.“ Stephanie konnte es nicht fassen. „Und bevor ich’s vergesse, ich musste deiner Mom fest versprechen, dich in allen Lebenslagen und vor allem jede Ecke deiner Wohnung zu fotografieren.“ unterbrach Jana. „Untersteh’ dich! Sonst noch ‘was!?“ „Ja, ich soll dir sagen, dass sie im UKE eine OP–Schwester suchen.“ Eine Freundin von Stephanies Mutter arbeitete in der Verwaltung der Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf und wusste immer zuerst die neuesten Neuigkeiten von dort. „Oh nein, bitte nicht!“ Stephanie nahm sich vor, einmal ein ernstes Wort mit ihrer Mutter zu reden. Erst die verratenen Telefonnummern, und nun dies. So konnte das nicht weitergehen. Ihre Mutter musste lernen und akzeptieren, dass das Leben ihrer Tochter anders verlief, als sie es sich vorstellte. Ihr wurde immer klarer, dass es für sie keinen Weg zurück nach Hamburg geben würde.