Читать книгу Neues Leben für Stephanie - Lisa Holtzheimer - Страница 9
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ОглавлениеMichael fuhr mit einem Schwung an den Rand der Skipiste und zog sein Handy aus der Hosentasche. Es gab Freunde, die ihn belächelten, dass er das Telefon sogar mit auf die Piste nahm – aber er fand, er habe es schließlich, um erreichbar zu sein oder um in Notfällen ein Telefon zur Hand zu haben. Und Notfälle kamen eben gerade auf Skipisten öfter vor. „Michael Aschmann, hallo?“ Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. Am anderen Ende meldete sich sein jüngerer Bruder. Wenn sich die beiden auch recht gut verstanden, so war es wirklich nicht an der Tagesordnung, dass sie miteinander telefonierten, schon gar nicht während seines Urlaubs. Wenn Stefan anrief, hatte das einen tieferen Grund. „Ich will dich nicht unnötig beunruhigen“, hörte Michael seinen Bruder sagen, „aber vielleicht solltest du wissen, dass Vater ins Krankenhaus gekommen ist.“ „Schon geschafft“, antwortete Michael. „Was ist passiert?“ Nichts Schlimmes, wie ihm Stefan versicherte. Ein harmloses Magengeschwür, das aber entfernt werden sollte. Der Bruder konnte ihn schließlich davon abhalten, den Urlaub Hals über Kopf abzubrechen, der in 3 Tagen sowieso zu Ende war. Michael blieb noch eine Weile am Rand der Piste stehen und sah gedankenverloren den anderen Sportlern zu, die wie er das wunderschöne klare Wetter zu einer ausgiebigen Skitour genutzt hatten. Lange würde es nicht mehr dauern, dann war es für diese Saison mit dem Wintersport vorbei. Nein, Michael wollte die letzten Tage wirklich noch genießen, bevor der Alltagsstress ihn wieder voll mit Beschlag belegte. Sein Vater war gut versorgt, und er selbst würde vermutlich mit seinem Sohn schimpfen, wenn dieser wegen einer harmlosen Geschichte den Urlaub abbrechen würde.
Alltag – in diesem Alltag würde auch Katrin wieder auftauchen. Er hatte es in diesen drei Wochen tatsächlich geschafft, nicht pausenlos an sie zu denken. Zu schön war die Umgebung, zu freundlich und liebevoll der Familienanschluss an die Familie Mooser – Ablenkung gab es hier tatsächlich genug. Doch mit einem Schlag stand Katrin ihm wieder vor Augen. Wie würde das werden? Sie würden sich zwangsläufig begegnen, sie gingen in dieselbe Gemeinde, hatten teilweise einen gemeinsamen Freundeskreis, und dazu wohnten sie auch nur drei Straßen voneinander entfernt. Was am Anfang ein glücklicher Zufall zu sein schien, wurde nun zum Alptraum. Er wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn er Katrin auch noch mit Thomas sehen würde. Daran durfte er gar nicht denken. Ob der Schmerz, den er jetzt wieder verspürte, jemals nachlassen würde? Er konnte es sich nicht vorstellen. Liebe ließ sich eben nicht abstellen wie ein Radio. Bei diesen Gedanken schien sein Herz sich immer fester zuzuschnüren, und nichts würde es schaffen, den Knoten wieder zu lösen.
Langsam ließ er sich wieder auf die Piste gleiten. Er hatte Katrin das Skifahren beibringen wollen, und er war sich sicher, dass sie es sehr schnell gelernt hätte. Sportlich genug war sie. In Gedanken malte er sich aus, wie viel Spaß sie gehabt hätten. Plötzlich spürte er einen heftigen Stoß, hörte Menschen erschreckt aufschreien und verspürte einen brennenden Schmerz im Bein.
Das Nächste, an das er sich erinnern konnte, waren viele Menschen um ihn herum, einer davon drückte ständig auf seinem schmerzenden Bein herum und stellte ihm Fragen. Kurz darauf hoben zwei weitere Männer ihn auf eine Trage, mit der sie ihn zu einem in der Nähe gelandeten Hubschrauber brachten.
* * *
Stephanie schlüpfte durch die Drehtür der Klinik ins Freie. Feierabend. Sie war müde, gestern Spätdienst, heute Frühdienst – das war anstrengend, aber das strahlende Wetter lud dazu ein, noch etwas zu unternehmen. In den letzten Wochen war es oft genug trübe gewesen – heute schien die Sonne aus vollster Kraft und ließ die schneebedeckten Berge im Hintergrund in einem ganz besonderen Licht erstrahlen. „Ich glaube, ich fahre mal an den Königssee“, überlegte Stephanie halblaut. Ihre Gedanken wurden unterbrochen von einem immer lauter werdenden Geräusch über ihr. Sie sah nach oben. „Christoph. Wieder ein Skifahrer.“ Das war eine glatte Feststellung. In der kurzen Zeit, in der sie in den Bergen lebte und arbeitete, hatte sie schnell gelernt, dass ein Großteil der Hubschraubereinsätze verunglückte Skifahrer bergen musste, jedenfalls jetzt im Winter. Den Sommer hatte sie hier noch nicht erlebt, wusste aber aus Unterhaltungen mit Kollegen, dass auch dann sehr oft Touristen Opfer des Wetters oder ihrer eigenen Selbstüberschätzung wurden. Obwohl ihr solche Einsätze ja auch aus Hamburg nicht fremd waren, lief ihr doch jedes Mal wieder ein Schauer über den Rücken. Jemand, der mit dem Hubschrauber gerettet werden musste – sei es nun aus den Bergen oder von der Straße – den hatte es meistens schlimm erwischt. Sie selber wünschte es sich nicht, jemals auf diese Art und Weise ins Krankenhaus eingeliefert werden zu müssen.
Egal, sie hatte Feierabend, und in ihrem langjährigen Berufsleben hatte sie auch gelernt, nach Dienstschluss nicht nur das Krankenhaus, sondern auch die Schicksale der Patienten hinter sich zu lassen. Ohne diese Abgrenzung war dieser Beruf nicht durchzuhalten. Sie machte sich zu Fuß auf den kurzen Weg nach Hause. Nur schnell umziehen, dann mit dem Mountainbike die knapp fünf Kilometer zum See. Bei dem schönen Wetter eine herrliche Tour. Seit zwei Tagen hatte es nicht mehr geschneit, die Wege würden frei und gut befahrbar sein.
Als sie das Wohnzimmer betrat, wurde sie vom Klingeln des Telefons empfangen. Britta, die heute dienstfrei hatte, wollte den schönen Tag nutzen, um etwas zu unternehmen. „Das trifft sich gut, ich wollte gerade mit dem Rad an den See fahren. Hast du Lust, mitzukommen?“ Britta hatte. „Hol mich einfach ab, du kommst ja eh fast bei mir vorbei“, schlug sie vor. Eine halbe Stunde später radelten die beiden jungen Frauen entlang der Königsseer Ache zum See.
Bei diesem Wetter war es dort so voll wie im Sommer, selbst die Eiscafés hatten geöffnet. Sie stellten ihre Räder ab und gingen zu Fuß durch das kleine Einkaufsdorf am Seeufer. Stephanie wäre gerne auf den zugefrorenen See gegangen, aber Britta empfahl ihr, die Warnschilder sehr ernst zu nehmen. „Hier ist schon mehr als einer nicht zurückgekommen“. „Schade“, meinte Stephanie, „Anfang März auf dem See noch Schlittschuh laufen, wäre schon toll. In Hamburg kommen bestimmt schon die Krokusse aus der Erde.“ Britta grinste. „Irgendwann komme ich mir den hohen Norden mal anschauen. Langsam machst du mich neugierig. Aber jetzt wäre doch ein Cappuccino genau richtig, oder?“ Stephanie war ganz ihrer Meinung. Sie betraten ein vollbesetztes Café, fanden mit Mühe einen Platz und bestellten zu dem heißen Getränk ein Stück Kuchen – zur Feier des Tages, wie Britta sagte. Stephanie musste lachen. Feiern – das würde sie in ein paar Tagen tun. „Habe ich dir erzählt, dass Jana kommt?“ „Klar, schon mindestens zehnmal!“ Britta übertrieb absichtlich ein wenig, und Stephanie grinste. „Ich freue mich einfach so wahnsinnig! Weißt du, wie lange ich Jana nicht mehr gesehen habe?“ „Ja, genau seit ...“ „Schon gut“, unterbrach Stephanie die Kollegin lachend „ich hab’ verstanden.“ Es fiel ihr schwer, an irgendetwas anderes zu denken als an den bevorstehenden Besuch. Wenn sie doch nur an der Zeituhr drehen könnte!
„Ich soll dich übrigens herzlich grüßen“, unterbrach Britta ihre Gedanken. Stephanie sah sie erstaunt an. Ihr fiel im Moment niemand ein, den sie gemeinsam kannten. „Na, von Max und Heidi und dem Rest der Truppe.“ Max – ach ja, das war der Typ, bei dem letzte Woche dieser Hauskreis stattgefunden hatte. „Danke.“ Den Hauskreis hatte sie schon fast wieder vergessen. „Grüß’ zurück das nächste Mal.“ „Na, ich hoffe doch, dass du das demnächst mal wieder selber tun kannst.“ Britta tat so, als sei es völlig selbstverständlich, dass Stephanie wieder mitkommen würde. Sie selbst war sich da noch nicht so sicher. Es war nett gewesen, ja, aber so ganz geheuer war ihr die Sache noch nicht. Und jetzt kam erst einmal Jana, da hatte sie für solche Nebensächlichkeiten wie Hauskreise nicht das geringste Interesse. „Naja, vielleicht – irgendwann. Aber jetzt ...“ „... kommt erst ‘mal Jana“, beendete Britta den Satz. „Du kannst sie gerne mitbringen, du weißt ja jetzt, dass jeder herzlich willkommen ist.“ Stephanie musste laut lachen bei der Vorstellung. Jana würde ungefähr alles tun, nur nicht mitkommen zu etwas, das im Entferntesten etwas mit Kirche zu tun hatte. Und außerdem – die kurze Zeit, die sie miteinander hatten, war ihr viel zu wertvoll, um sie zu vertun. „Nee, Britta, das kannst du dir abschminken. Jana würde niemals mitkommen. Und außerdem will ich ihr so viel zeigen.“ Britta lächelte. Sie konnte Stephanie gut verstehen. Eine gute Freundin von ihr war selbst vor zwei Jahren nach München gezogen, und seitdem vergingen nicht wenige Wochenenden, an denen sie wenigstens zum Kaffee trinken in die Landeshauptstadt fuhr. Aber Hamburg war wirklich ein bisschen zu weit weg, um zum Kaffeetrinken vorbeizukommen.
„Britta, weißt du, dass ich mich echt freue, dass ich dich getroffen habe?“ sagte Stephanie unvermittelt. „Nein, bisher nicht, aber danke, das freut mich natürlich. Aber mir geht’s genauso“, antwortete sie dann ehrlich. Mitten im Café umarmten sich die beiden plötzlich – aus Kolleginnen waren Freundinnen geworden. „So, und jetzt steigen wir auf den Jenner, so weit wie wir kommen.“ Stephanie sah Britta zweifelnd an. „Auf den Jenner?“ „Natürlich nur ein paar Meter – weiter kommen wir sowieso nicht – mit diesen Schuhen.“ „Also gut, gehen wir. Vielleicht holt uns ja dann auch Christoph ab.“ Stephanie konnte sich die Anspielung auf den Hubschrauber nicht verkneifen und erntete dafür einen Fußtritt von Britta. Sie verließen das Café, rannten am Seeufer entlang auf den Weg, der auf den Berg führte. Hier lag der Schnee tiefer, und an manchen Stellen versanken sie bis zu den Knien. Britta formte einen Schneeball, warf ihn, als Stephanie nicht hinsah, und traf sie am Ohr. Natürlich ließ diese sich das nicht gefallen, und bald tobten sie wie die Kinder durch den Schnee. Weit nach oben kamen sie nicht, zu ausgelassen genossen sie die Spielerei und zu unwegig war das Gelände an dieser Stelle. Erst als es ganz langsam zu dämmern begann, machten sie sich auf den Heimweg.
* * *
Michael hörte, wie jemand seinen Namen rief. Langsam öffnete er die Augen. Ein bisschen verschwommen nahm er Menschen um sich herum wahr. „Wir bringen Sie jetzt auf Ihr Zimmer, Herr Aschmann.“ Zimmer? Ach ja, richtig, da war ja der Unfall auf der Skipiste. Nach einem kurzen Flug mit dem Hubschrauber hatte er sich im Krankenhaus wiedergefunden, wo die Ärzte ihm nach der Untersuchung mitteilten, dass sein Bein mehrfach kompliziert gebrochen sei und operiert werden müsse. Er hatte eine Einverständniserklärung unterschrieben, und an mehr konnte er sich nicht erinnern. „Ist gut“, murmelte er, bevor er die Augen wieder schloss. Nur schlafen, alles andere war ihm egal.
Als er das nächste Mal die Augen öffnete, war es dämmerig im Zimmer. Nur eine schwache Nachtbeleuchtung spendete ein wenig Licht. Er spürte Schmerzen im rechten Bein, und während er mehr und mehr zu sich kam, versuchte er zu rekonstruieren, was eigentlich passiert war. Er war auf der Skipiste gewesen, und aus irgendeinem Grund war er mit jemandem zusammengestoßen. Richtig, da war der Anruf von Stefan. „Auch das noch“, dachte er, „jetzt liegen zwei Aschmanns im Krankenhaus.“ Ob seine Familie schon Bescheid wusste? Und Christine und Peter; sie würden sich längst Sorgen machen. Wie spät war es überhaupt? Er tastete nach einer Klingel und bemerkte erst jetzt einen langen Schlauch, der von seiner Hand zu einer Flasche oben über seinem Bett führte. Bevor er fündig wurde, öffnete sich leise die Tür und eine Schwester betrat das Zimmer. „Hallo, da sind Sie ja wieder. Wie fühlen Sie sich?“ „Gute Frage, nächste Frage.“ Michael versuchte es ein wenig ironisch, aber so ganz gelang ihm das nicht. „Wie spät ist es?“ „Halb elf.“ „Nachts?“ Im selben Moment war ihm klar, dass dies eine dumme Frage war. Natürlich nachts – draußen war es stockdunkel. „Weiß irgendwer, dass ich mich hier vergnüge?“ „Nein, noch nicht. Gerade danach wollte ich Sie fragen. Soll ich jemanden anrufen?“ „Ja, bitte. Christine und Peter Mooser, hier in Berchtesgaden. Sie sind Freunde von mir werden sich bestimmt schon wundern, wo ich bleibe. Meine Familie kann auch morgen Bescheid bekommen, die brauchen wir heute Nacht nicht mehr zu beunruhigen.“ „Pension Mooser – wird erledigt. Morgen bekommen Sie ein Telefon, dann können Sie selbst mit Ihrer Familie telefonieren. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“ „Mein Bein tut ziemlich weh. Kann man das ändern?“ „Hm, mal sehen, was ich tun kann“, antwortete die Nachtschwester, bevor sie zur Tür ging. „Wenn etwas ist, klingeln Sie ruhig. Dafür sind wir ja da.“ Michael brachte ein schiefes Lächeln zustande.
* * *
Christine sprang aus dem Sessel, als das Telefon klingelte. Dann hielt sie inne. „Peter, bitte geh’ du an den Apparat.“ Als Michael auch mehrere Stunden nach Einbruch der Dunkelheit nicht nach Hause gekommen war, verstärkte sich die Vermutung, dass ihm etwas passiert war. Gleich dreimal hatten sie heute den Rettungshubschrauber gehört – vielleicht war er einmal für Michael geflogen? Peter kam zurück ins Wohnzimmer. „Und?“ Christine sah ihn fragend an. „Das war die Klinik. Du hattest Recht, Michael hatte einen Skiunfall. Aber es geht ihm den Umständen entsprechend gut.“ „Den Umständen entsprechend. Was heißt das?“ „Er hat sich ein Bein gebrochen, wurde inzwischen operiert und hat selbst darum gebeten, uns zu informieren. Er ist also schon wieder so weit in Ordnung, dass er das koordinieren kann.“ Christine ließ sich wieder in den Sessel fallen. „Jetzt brauche ich einen Enzian!“ Nur in den seltensten Fällen trank sie den Schnaps. Peter holte die Flasche und zwei Gläser und schenkte ein. „Gott sei Dank, dass ihm nichts Schlimmeres passiert ist. Er wird wieder. Morgen kannst du ja mal in der Klinik vorbeischauen – er freut sich bestimmt über ein bekanntes Gesicht.“
Im selben Moment erschien Birgit in der Tür. Sie hatte das Telefon gehört, und als sie ihre Eltern mit den Schnapsgläsern sah, ahnte sie, was passiert war. „Michael?“ fragte sie nur. Christine nickte. „Ja, aber nichts Dramatisches“, warf ihr Vater sofort ein. „Nur ein Beinbruch. Wir sollten schlafen gehen, morgen geht’s munter weiter. Wir können sowieso nichts tun, und außerdem ist Michael gut versorgt und schläft höchstwahrscheinlich auch. Und die anderen Gäste wollen trotzdem rechtzeitig ihr Frühstück.“ Birgit nickte bestätigend und verschwand wieder nach oben. Sie hatte selbst schon zwei Beinbrüche hinter sich und wusste, dass diese zwar unangenehm, aber nicht lebensgefährlich waren. Es schien das Los eines jeden Skifahrers zu sein, irgendwann mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus zu landen.
* * *
Stephanie öffnete langsam die Augen und stellte entsetzt fest, dass es draußen schon hell war. Verschlafen. Wieso hatte der Wecker sie im Stich gelassen? Wie spät war es überhaupt? Ein Blick auf das Uhrenradio ließ sie auch nicht schlauer werden, denn dieses blinkte fröhlich vor sich hin, zeigte aber keine aktuelle Uhrzeit an. Da war wohl in der Nacht der Strom ausgefallen. Stephanie sprang aus dem Bett, lief in die Küche, um dort einen Blick auf die Uhr zu werfen – 8 Uhr 12. Schreck lass nach – sie kam fast drei Stunden zu spät. Nur schnell die Zähne putzen – duschen konnte sie am Abend – und nichts wie los.
Zwanzig Minuten später rannte sie keuchend auf ihre Station, wo Britta sie grinsend empfing. Margot hatte eine andere Schicht an diesem Tag, das war Stephanie ganz recht so. Wenn die Stationsschwester auch sicherlich Verständnis zeigen würde, denn schließlich kann jeder einmal verschlafen, so war es ihr peinlich genug. Sie kam nicht gerne zu spät, schon gar nicht zum Dienst. „Hi Britta, mein Wecker hat den Dienst versagt. Hat mich jemand vermisst?“ „Ja klar, die Oberin war hier und hat nach dir gefragt, Margot hat dich am Telefon verlangt und wir mussten ja deine Arbeit mit tun.“ Stephanie starrte Britta entsetzt an und wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als die Kollegin ihr einen freundschaftlichen Stoß versetzte. „Ich hoffe, du hast schön ausgeschlafen! Wir haben das schon gebacken bekommen. Es ist kein Patient vor Hunger gestorben, weil er sein Frühstück fünf Minuten später bekommen hat. Und die Oberin habe ich schon seit Wochen nicht mehr auf dieser Station gesehen.“ Stephanie schnaufte erleichtert, als sie Brittas breites Grinsen sah. „Na, dann ist es ja gut“, antwortete sie und verschwand im Stationszimmer, um zu sehen, was es zu tun gab. Sie war noch nicht ganz im Raum, als eine Klingel summte. Ein Blick auf die Anzeigetafel sagte ihr, in welche Richtung sie gehen musste. Sie öffnete die Tür des letzten Zimmers auf dem Gang. Zwei der drei Patienten dort kannte sie schon, und die waren auch schon wieder so weit hergestellt, dass sie kaum Hilfe der Schwestern benötigten. Der junge Mann am Fenster war neu. Die hohe Bettdecke ließ auf ein Gipsbein schließen, der Tropf an seiner Hand auf eine kürzlich erfolgte Operation. Das war bestimmt der Mensch aus dem Hubschrauber gestern.
„Guten Morgen, ich bin Schwester Stephanie. Was kann ich für Sie tun?“ „Nanu, ein Nordlicht im wilden Süden?“ entgegnete der Patient anstelle einer Antwort. „Wie sind Sie denn hier gelandet?“ Stephanie war perplex. Das hatte sie noch niemand gefragt. „Mit einem Möbelwagen“, reagierte sie dann aber blitzschnell – auf den Mund gefallen war sie gerade als Nordlicht nicht. Ihre Schlagfertigkeit brachte den jungen Mann zum Schmunzeln, und dann erinnerte er sich an sein Anliegen, weshalb er nach der Klingel gegriffen hatte. „Schwester Stephanie, wann darf ich etwas trinken? Ich bin kurz vorm Verdursten.“ Er setzte einen solchen Dackelblick auf, dass Stephanie beinahe laut gelacht hätte. Sie versprach, sich zu erkundigen und ihm Bescheid zu geben. Kurze Zeit später erschien sie mit einer Schnabeltasse wieder. „Ich habe eine gute Nachricht. Sie dürfen trinken.“ Sie stellte ihm die Tasse auf den Nachttisch. „Was ist da drin?“ erkundigte er sich misstrauisch. „Pfefferminztee. Das bekommen alle Patienten kurz nach einer Operation zuerst.“ „Na denn, auf jeden Fall etwas Flüssiges“, seufzte er mit gespielter Resignation. „Guten Appetit!“ Stephanie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, bevor sie das Zimmer verließ.
Auf dem Gang begegnete sie Britta. „Sag mal, was ist denn das für ein Witzbold, der Neue auf der 23?“ „Auf der 23? Das müsste Herr Aschmann sein. Den hat gestern Christoph auf der Piste eingesammelt. An dem werden wir länger unsere Freude haben – mehrfache Frakturen.“ Britta war bei der Dienstübergabe am Morgen dabei gewesen und kannte schon die Schicksale der neuen Patienten. Mehr Zeit blieb nicht, Stephanie auch über die anderen Zugänge zu informieren, schon wieder summte eine Klingel. Britta öffnete die Tür des Zimmers, über dem die Lampe blinkte.