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Stephanie saß auf dem Balkon und genoss die Frühlingssonne. Oben auf den Bergen lag immer noch Schnee, aber im Tal hatte sich der Frühling durchgesetzt, die Krokusse leuchteten in den Gärten und auch die ersten Osterglocken steckten schon die Köpfe aus der Erde. Wenn sie den Einheimischen glaubte, konnte sich das alles noch einmal ganz schnell wieder ändern – eine kalte Nacht und Wolken am Himmel, und alles wäre wieder weiß. „Macht nichts“, dachte sie sich, „das geht dann bestimmt so schnell wieder wie es gekommen ist.“ Im Moment konnte sie sich aber kaum vorstellen, dass es noch einmal schneien würde. Hier auf dem geschützten Balkon in der Nachmittagssonne ließ es sich schon im T-Shirt aushalten. Auf dem kleinen Tisch neben ihr stand eine Tasse Tee. Freie Tage waren etwas Schönes, erst recht bei diesem Wetter!

Stephanie war so in ein Buch vertieft, dass die das Telefon erst nach dem dritten Läuten hörte. Sie sprang auf und konnte den Anruf gerade noch entgegennehmen, bevor sich ihr technischer Mitarbeiter einschaltete. Britta war am anderen Ende. Am Nachmittag war es ruhig auf der Station, die meisten Patienten hatten Besuch, und da blieb schon mal Zeit für ein kurzes Telefonat. Stephanie hörte eine Weile zu, was Britta sagte. „Nee, Britta, heute wirklich nicht“, antwortete sie dann auf deren Vorschlag, sie wieder mal mit zum Hauskreis zu nehmen. „Die anderen fragen schon nach dir“, erzählte Britta ihr, aber Stephanie ließ sich nicht überreden. „Vielleicht nächste Woche.“ „Ich nehme dich beim Wort, darauf kannst du dich verlassen!“ Stephanie zweifelte keinen Moment daran. „Ich fürchte auch …“ Britta grunzte etwas Unverständliches, und dann musste sie das Gespräch beenden, weil eine Klingel summte. Sie ging in das Zimmer, über dem eine Lampe aufleuchtete.

„Super schönes Wetter!“ Britta stand am Fenster im Flur und ärgerte sich, dass sie arbeiten musste. Hoffentlich würde sich das Wetter bis zum Wochenende halten. Dann hatte sie frei und könnte Stephanie bestimmt wieder zu einem kleinen Ausflug mit dem Fahrrad einladen. Sie hatten schon festgestellt, dass sie beide gerne mit dem Rad unterwegs waren, und nun kam die richtige Zeit dafür. Britta kannte eine ganze Reihe guter Wege zum Fahren. Noch waren nicht alle wieder befahrbar, aber das würde von Tag zu Tag besser werden. Sie würde Stephanie so gerne auch einmal zum Gottesdienst einladen, aber ein inneres Gespür sagte ihr, dass es dazu noch zu früh war. Erst einmal würde sie sie nächste Woche wieder zum Hauskreis einladen und sich dabei auf Stephanies Worte von vorhin berufen.

Seitdem sie die Freundin zum ersten Mal mitgenommen hatte, betete sie für sie, und jetzt hatte sie noch einen Mitstreiter gefunden. Ob der nette Herr Aschmann noch einen anderen Grund hatte, für Stephanie zu beten? Sie würde nicht beschwören, dass es nicht so war. Hier begannen sich ein paar Puzzleteile zusammenzusetzen. Und wenn Stephanie dem auch nicht abgeneigt wäre, wäre das für sie bestimmt ein Anlass, sich doch einmal genauer mit dem Glauben auseinanderzusetzen. Britta lächelte in sich hinein. Sie würde ein wenig forschen – und rein vom Typ her konnte sie sich die beiden gut zusammen vorstellen. „Let’s pray!“ sagte sie laut und erntete einen erstaunten Blick einer Patientin, die auf dem Flur spazieren ging. Sie musste lachen, zuckte mit den Schultern und fügte dann hinzu: „Ist doch das Beste, das wir tun können, oder!?“ Die Patientin sah sie nur fragend an, antwortete aber nichts darauf. Vielleicht verstand sie kein Englisch.

* * *

Die Nachbarn von Max und Heidi wussten wieder genau, dass Mittwochabend war. Der Gesang aus dem kleinen Reihenhaus war nicht zu überhören, stellte Britta fest, als sie aus dem Auto stieg. Die Haustür war nur angelehnt, und das war gut so, denn eine Klingel hätte niemand dort drinnen gehört. Britta hängte ihre Jacke an die Garderobe und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Sie winkte einmal in die Runde und setzte sich auf den Fußboden, wo schon drei andere junge Leute hockten. Jemand schob ihr ein offenes Liederbuch rüber, doch das Lied war gerade zu Ende. „Hi Britta! Gibt’s was Neues?“ „Ja, ich hab’ mich heute mit einem Patienten unterhalten, der schon 5 Wochen bei uns liegt.“ „... und so lange habt ihr nicht miteinander geredet?“ unterbrach Johannes grinsend. Britta warf das Liederbuch nach ihm. „Nein, aber ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich heute erst mitgekriegt habe, dass er Christ ist. Und er wusste es von mir natürlich auch nicht.“ Sie erzählte von Michael und dem Gespräch, auch von Stephanies Frage nach der Bibel für diesen Patienten, und fügte zum Schluss hinzu: „Ich fänd’s gut, wenn wir für beide beten würden. Für Stephanie sowieso, dass sie wieder kommt und Jesus kennen lernt, und für den Patienten können wir auch echt beten. Er ist schon recht alleine hier, und ein bisschen mehr Heilung könnte er auch gebrauchen.“ Die Hauskreisler nickten zustimmend, und jemand meinte plötzlich: „Wir können ihn doch mal besuchen!“ Britta war überrascht. „Hey, das ist wirklich eine gute Idee. Vielleicht nicht gleich alle auf einmal“, sie grinste, „aber er freut sich bestimmt, wenn er Besuch bekommt – dazu christlichen. Das vermisst er nämlich besonders, hat er heute gesagt.“ Sie nannte Namen und Zimmernummer des Patienten und freute sich über diesen Vorschlag.

Bestimmt würde Herrn Aschmann das gut tun. „Es ist das Bett am Fenster.“ Max machte direkt Nägel mit Köpfen. „Okay, ich habe Urlaub und darum Zeit. Heidi, was hältst du davon, wenn wir den Anfang machen?“ Heidi stimmte zu. „Klar, gleich morgen Nachmittag. Bist du dann auch da, Britta?“ „Nein, morgen habe ich ganz frei. Und danach Nachtdienst. Aber ich glaube, Stephanie hat Spätdienst. Vielleicht seht ihr sie ja.“ „Dann hätten wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen“, feixte Max, der sich in Gedanken schon vorstellte, wie er Stephanie völlig selbstverständlich in den nächsten Hauskreis einplanen würde, ohne dass sie noch nein sagen konnte. Heidi erriet die Gedanken ihres Mannes und mahnte ihn zur Vorsicht: „Dräng sie nicht in die Ecke, dann kommt sie gar nicht mehr.“ Max versicherte, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche, er würde schon mit der notwendigen Sanftmut vorgehen. Er streichelte Heidis Kopf, als wäre er ein kleines Tier. Die anderen schütteten sich aus vor Lachen.

* * *

Michael saß im Bett und löste Kreuzworträtsel. Florian Mooser versorgte ihn treu und regelmäßig mit entsprechenden Zeitschriften. Draußen strahlte die Frühlingssonne, und er hatte einen wunderschönen Blick auf die umliegende Berglandschaft. Die höheren Gipfel waren noch weiß gezuckert, aber dort, wo er noch vor wenigen Wochen Ski gelaufen war, war jetzt kein Schnee mehr zu sehen. Sein Zimmernachbar war – wie schon fast üblich – irgendwo unterwegs; er kam nur noch zum Essen und Schlafen ins Zimmer. Als es an der Tür klopfte, rechnete Michael damit, dass ein Besucher kurz den Kopf zur Tür ‘reinstecken und dann wieder gehen würde. Aber der junge Mann, der die Tür öffnete, betrat zielstrebig das Zimmer. Die Frau hinter ihm schloss die Tür von innen, und beide kamen direkt auf ihn zu. „Hallo, ich bin der Max. Du bist bestimmt Michael.“ Dieser starrte Max mit großen Augen an, besann sich dann und bestätigte die Annahme. „Das ist Heidi, die beste Ehefrau aller Zeiten.“ Max stellte seine Begleiterin in Anlehnung an einen bekannten Schriftsteller vor.

Michael guckte immer noch überaus irritiert, was Max nicht im Geringsten dazu veranlasste, die Sache aufzuklären. Heidi gab ihm die Hand und erklärte dann: „Gestern Abend im Hauskreis hat Britta ... nun, sagen wir mal, ein bisschen aus dem Nähkästchen geplaudert.“ Jetzt verstand Michael, und seine Mine hellte sich auf. „Das ist ja genial“, meinte er dann immer noch staunend. „Freu dich nicht zu früh“, gab Max nur trocken zurück, „du wirst den Tag noch bereuen, an dem du uns kennen gelernt hast.“ Michaels Gesicht wurde wieder zu einem Fragezeichen. Heidi nahm den Faden auf, bevor ihr Mann noch mehr Verwirrendes von sich geben konnte. „Nimm ihn nicht so ernst, er kann nicht anders. Aua!“ Max hatte sie gekniffen. „Als Britta gestern Abend von dir erzählte, hatte jemand die Idee, dass wir dich ab und zu mal besuchen könnten.“ Sie gab in wenigen Worten wieder, welche Idee am Abend vorher entstanden war. „Natürlich nur, wenn dir das überhaupt Recht ist“, fügte sie dann hinzu. „Und ob mir das Recht ist“, meinte Michael, „nichts habe ich in den letzten Wochen so sehr vermisst, wie ein paar leibhaftige Christen.“

Er wurde schnell warm mit Max und Heidi und war schon gespannt auf die anderen, die noch kommen sollten. Gott hatte eine echte Gebetserhörung geschenkt. Das junge Ehepaar war sehr nett, und Michael konnte sich ihnen gegenüber ohne Angst öffnen und über seine Situation sprechen. Er erzählte von seinem Urlaub, den er jedes Jahr hier machte, von dem Unfall, den beiden Operationen, sogar von Katrin, von seiner Verzweiflung und Schmerzen, und natürlich auch von den Fortschritten der letzten Zeit und der Hoffnung, Ostern wieder zu Hause zu verbringen. Bis dahin war es gar nicht mehr lange. „Und wenn nicht, dann kommt der Osterhase hierher gehoppelt“, unterbrach ihn Max. Michael musste lachen. „Auch eine nette Vorstellung, aber wenn ich ehrlich bin, würde ich ihn lieber in Frankfurt empfangen.“ Das konnten seine Besucher gut verstehen. Michael war froh wie schon lange nicht mehr. Es tat so gut, sich auf dieser ganz anderen Ebene unterhalten zu können, und schnell entstand eine Vertrautheit, die sie beinahe vergessen ließ, dass sie sich gerade erst kennen gelernt hatten. Die Gesprächsthemen gingen den dreien nicht aus, und sie vergaßen völlig die Zeit. Irgendwann ging die Tür auf.

„Hallo Stephanie!“ rief Max, kaum, dass sie das Zimmer betreten hatte. Die Krankenschwester guckte nicht weniger irritiert als Michael zwei Stunden vorher. „Was macht ihr denn hier?“ brachte sie schließlich heraus, nachdem sie Max und Heidi wiedererkannt hatte. „Einen Krankenbesuch“, antwortete Max mit der selbstverständlichsten Mine der Welt. Stephanie fiel keine Antwort ein. Er hatte wohl Recht, und im Grunde ging sie das ja auch überhaupt nichts an. Trotzdem versuchte sie, ihren Patienten und das Ehepaar aus Salzburg in eine Schublade zu bringen. Es gelang ihr nicht sofort. Wenn sie sich kannten, wieso waren sie nicht schon vorher einmal hier gewesen? Wenn aber nicht, was machten sie dann im Krankenzimmer von Michael Aschmann? Wieder war es Heidi, die die beinahe sichtbaren Fragezeichen über Stephanies Kopf auflöste. Sie erzählte noch einmal kurz vom Hauskreis am Tag vorher, und nun verstand Stephanie. „Stimmt. Darauf hätte ich auch kommen können, dass Britta dahinter steckt.“ Nun musste sie selbst lachen.

Dann erinnerte sie sich, warum sie überhaupt hier war. „Ich will euch auch gar nicht lange stören, ich habe nur eine kurze Frage an Herrn Aschmann.“ Sie wandte sich an Michael. Bevor sie ihr Anliegen näher erläutern konnte, fragte Max erstaunt: „Herr Aschmann? Ihr siezt euch??“ Stephanie sah ihn groß an. „Was denn sonst? Ich kann doch nicht einfach die Patienten duzen.“ Wieder spürte sie eine unangenehme Wärme in ihrem Kopf hochsteigen. Wie so oft, musste Heidi den Übermut ihres Ehemannes dämpfen: „Du duzt doch deine Kunden auch nicht.“ Stephanie war Heidi dankbar für die Hilfe. Das Ganze war ihr ziemlich peinlich und sie wusste nicht mehr, wie sie das Gespräch wieder in eine andere Richtung leiten sollte.

Michael verfolgte den Wortwechsel schmunzelnd und ergriff dann die Gelegenheit beim Schopfe. „Also, ich finde, eigentlich hat Max Recht. Nach so langer Zeit hier sind wir ja schon beinahe alle Freunde.“ Wieder einmal entspannte Michael die Situation mit einem lustigen Einwurf, und Stephanie musste lachen. „Ich heiße Michael“, er streckte ihr die Hand entgegen, „aber das weißt du ja sowieso.“ Stephanie gab sich geschlagen. „Ich hab’s irgendwo gelesen“, erwiderte sie zwinkernd und nahm die Hand, „und mein Name steht immer auf diesem Schildchen hier.“ Sie tippte auf das Namensschild an ihrem Kittel. „Falls ich’s mal vergessen sollte.“ Jetzt hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Stephanie fasste sich als Erste wieder. „So, und trotzdem müssen wir jetzt ein bisschen arbeiten. Würdet ihr mal fünf Minuten auf dem Flur warten, länger brauche ich hier nämlich nicht.“ Heidi sah auf die Uhr und meinte dann: „Eigentlich müssten wir uns auch langsam verabschieden.“ Michael bat sie allerdings, doch gleich noch kurz wiederzukommen. Heidi nickte und öffnete die Tür.

Stephanie war ein bisschen verunsichert, aber Michael rettete die Situation: „Was kann ich euch noch über mich erzählen, das ihr noch nicht wisst?“ „Ach, bestimmt eine ganze Menge.“ Jetzt hatte sie sich wieder gefangen. „Aber jetzt will ich eigentlich nur zwei kurze Antworten.“ Sie stellte ihm ihre Fragen, notierte sich die Informationen und schickte kurz darauf Max und Heidi wieder ins Zimmer. Bevor er die Tür schloss, drehte Max sich noch mal um und rief Stephanie hinterher: „Wir sehen uns ja dann am Mittwoch!“ Bevor sie etwas sagen konnte, fiel die Tür hinter Max ins Schloss, und Stephanie stand auf dem Flur und schüttelte nur den Kopf. „Raffinierter Kerl“, dachte sie. Max wusste genau, dass sie nicht zurückkommen würde, um abzusagen, das hatte sie schon durchschaut. Aber so schlecht war der Gedanke gar nicht mehr. Max und Heidi hatten plötzlich etwas Vertrautes, und sie selbst war ja nach wie vor auf der Suche nach einem neuen Freundeskreis. Wenn Michael sich mit ihnen so gut verstand, konnte das Ganze auch eine positive Seite haben.

In Gedanken vertieft, ging sie langsam zurück zum Stationszimmer. So ganz hatte sie noch nicht verdaut, was sie in der letzten Viertelstunde erlebt hatte. Heute Abend war ein längeres Telefonat mit Hamburg fällig.

* * *

„Ich will euch nicht mehr lange aufhalten, ihr habt ja wirklich schon euren halben Tag für mich geopfert“, begann Michael, als Max und Heidi das Zimmer wieder betraten. Heidi winkte ab. „Auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kommt es nicht an! Außerdem hat das mit opfern nun gar nichts zu tun!“ Michael lächelte sie dankbar an. Er atmete tief durch. „Können wir vielleicht noch zusammen beten?“ fragte er dann fast ein wenig schüchtern. Jetzt wurde Max ernst: „Natürlich!“ Er setzte sich auf die Bettkante. Heidi ließ sich auf der anderen Seite nieder, so dass sie einen kleinen Kreis bildeten. Ohne Umschweife begann Max, mit ihrem gemeinsamen Herrn im Himmel zu sprechen. Er dankte Gott dafür, dass Michael bei dem Unfall nichts Schlimmeres passiert war, und dafür, dass Britta im Hauskreis ein bisschen gegen die berufliche Schweigepflicht verstoßen hatte und von ihrem Patienten erzählt hatte. Michael nickte nur dazu. Dann bat Heidi Gott um seine ganz spürbare Nähe für Michael, um schnelle und vollständige Heilung des Beines und um Kraft, die Situation noch auszuhalten, so lange es nötig war. „Danke, Vater, dass du deine Kinder bewahrst und liebst und uns auch zusammengeführt hast“, schloss sie. Michael konnte nichts mehr sagen und kämpfte mit den Tränen. Wortlos legte Heidi eine Hand auf seine Schulter und Max sprach ihm Gottes besonderen Segen zu.

* * *

„Das wurde ja auch Zeit“, war Janas einziger Kommentar, als Stephanie ihr die ganze Geschichte ausführlich mit allen Einzelheiten erzählt hatte und selbst immer noch erstaunt darüber war, dass sie zum ersten Mal in ihrem Berufsleben einen erwachsenen Patienten duzte. Nach ihrer Schilderung musste sogar Jana zugeben, dass so ein frommer Kreis manchmal anscheinend doch ganz gute Ideen hatte. Dass man sich in einem fremden Ort während eines wochenlangen Krankenhausaufenthaltes einsam fühlte, konnte sie gut nachvollziehen. Sie gab ihrer Freundin Recht, wenn sie meinte, dass dieser Nachmittag für Michael endlich mal ein wirklich positives Erlebnis gewesen war. „Außer, dass er dich getroffen hat, natürlich.“ „Ach, hör auf. Wir verstehen uns einfach nur gut. Mehr wird das wahrscheinlich nie.“ Jana sah das ganz anders, aber sie gehörte von jeher zu den Menschen, die gerne ein bisschen nachhalfen, wenn sie merkte, dass zwei andere sich beschnupperten. „Gut, dass du weit weg bist“, musste sie sich für ihre Vorschläge dann auch gleich darauf anhören, „so kannst du wenigstens nicht dazwischen funken.“ Jana protestierte, das würde sie ja nie tun, was Stephanie wiederum mit einem entsprechenden Kommentar belegte. Das war die übliche Weise der Freundinnen, sich zu unterhalten. Typisch norddeutsch. Hier im Süden hatte Stephanie schon festgestellt, dass sie mit ihrer manchmal etwas burschikosen norddeutschen Art vorsichtig sein musste. Nicht jeder verstand das als Scherz oder sogar Normalität, was sie ganz selbstverständlich so meinte. Aber mit ihrer besten Freundin konnte sie nach Herzenslust reden, wie ihr der Schnabel gewachsen war.

„Und was gibt’s Neues in HH?“ gab sie dem Gespräch schließlich eine ganz andere Wende. Als Jana vom Teetrinken mit gemeinsamen Freunden erzählte und von dem ersten Inliner–Laufen in diesem Jahr an der Alster, stieg wieder Heimweh in Stephanie auf. Am liebsten hätte sie sich sofort ins Auto gesetzt, um ein oder zwei Wochen Urlaub im Norden zu machen. Doch das war nicht einfach so möglich, und es wäre bestimmt auch nicht gut, ausgerechnet in einer Heimweh–Stimmung nach Hamburg zu fahren. „Aber Ostern hab’ ich frei, da komm ich hoch!“ Sie bestellte ein Bett in Janas Schlafzimmer, denn sie wollte nicht bei ihren Eltern wohnen. Außerdem würde sie sonst sowieso nur irgendwann nach Mitternacht zum Schlafen dort auftauchen, und das würde ihre Mutter auch nicht so gerne sehen.

Dann lieber gleich bei Jana übernachten und die Eltern für einen oder zwei Nachmittage besuchen. Viel mehr Zeit würde nicht bleiben, denn gleich am Dienstag nach Ostern hatte sie wieder Dienst. Hoffentlich gab es noch Flüge am Abend des Gründonnerstag und am Ostermontag retour. Alles andere würde sich für die wenigen Tage nicht lohnen. Sie beschloss, gleich morgen im Reisebüro vorbeizuschauen. „Hätteste jetzt einen Computer, könnteste im Internet nachschauen und auch gleich buchen.“ Jana hatte wieder den Punkt gefunden. „Jaaaa“, bekam sie gedehnt zur Antwort, „ich werde sehen, was ich tun kann.“ Jana glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Hatte Steph eben eine leise Andeutung in Richtung Computeranschaffung gemacht? Sie sagte lieber nichts mehr, denn sie wusste, wenn sie jetzt zu enthusiastisch reagieren würde, würde sie eher das Gegenteil erreichen. Aber auf die leise Weise kämen sie dem Ziel vielleicht langsam näher.

* * *

Schon am nächsten Nachmittag bekam Michael wieder Besuch – dieses Mal stellten sich Konrad, Kerstin und Timo vor, und sie hatten gleich noch eine Überraschung dabei. „Heidi hat gesagt, dass du zwar einen CD–Player hier hast, aber keine christlichen CDs. Vielleicht gefallen dir diese ja.“ Kerstin legte ihm 6 – 8 Scheiben auf den Nachttisch. „Du kannst sie behalten so lange du willst. Wenn du entlassen wirst, gibst du sie einfach Britta.“ Michael war begeistert. Gott sorgte wirklich für seine Kinder, auch, wenn er sie manchmal durch Durststrecken gehen ließ. Zwar hätte er sich natürlich niemals einen Unfall gewünscht, und auf die letzten Wochen hätte er auch gerne verzichtet, aber nun begann das Blatt, sich zu wenden. Er lernte Christen in dieser Region kennen – das würde sicherlich auch seine weiteren Urlaube hier beeinflussen. „Ihr seid so klasse!“ freute er sich dann. „Wenn ich das nächste Mal hier Urlaub mache, dann besuche ich euch mal an einem Mittwochabend.“ „Das will ich hoffen“, antwortete Konrad lachend.

Wieder verging die Zeit wie im Flug, und beim Abschied gab ihm Timo die Telefonnummer von Max und Heidi. „Das haben sie gestern einfach vergessen. Wenn du irgendwas brauchst ...“ „Zum Beispiel neue CDs“, unterbrach Konrad, „... oder auch einfach nur reden möchtest, dann ruf an! Das ist wirklich ernst gemeint.“ „Danke! Ja, das glaube ich euch.“ Genauso hatte er das Ehepaar eingeschätzt, dass sie mit solchen Angeboten keine Scherze machten. Er verabschiedete sich herzlich von drei neuen Freunden, und als er wieder alleine war, legte er eine CD in das Gerät, das ihm Florian gebracht hatte. Zwar hatte dieser ihm auch einige CDs dazu geliefert, aber die entsprachen nicht so ganz Michaels Musikgeschmack. Um den großen Freundschaftsdienst des Jungen zu würdigen, hatte er sich dennoch einige Stücke angehört und sich auch mit Florian darüber unterhalten. Der freute sich, dass seine Idee bei Michael so gut angekommen war, und seine Eltern staunten sehr, dass ihr Sohn auch nach dieser Zeitspanne noch nicht einmal darüber geklagt hatte, dass der CD–Spieler für ihn gerade nicht verfügbar war.

Florian schaute ab und zu bei Michael ‘rein, aber für einen Zwölfjährigen dauerten Krankenbesuche spätestens nach einer Viertelstunde eine Ewigkeit. Seine Eltern hatten das Haus voller Gäste, so dass sie es nur selten schafften, auf einen Sprung ins Krankenhaus zu kommen. Manchmal machte Christine einen kurzen Abstecher, wenn sie einkaufen ging, aber zu mehr als einem kurzen Hallo reichte es einfach nicht. Michael versicherte ihr, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, und er verstand absolut, dass es den beiden kaum möglich war. Er war oft genug bei ihnen gewesen, um zu wissen, welche Arbeit ein Gästebetrieb in einem Privathaushalt machte.

* * *

Punkt 20 Uhr trat Britta die Nachtwache an. Die übliche Übergaberoutine im Stationszimmer, dann war sie alleine. In den ersten Stunden gab es immer noch dies und das zu tun, für den Rest der Nacht hatte sie die Wahl zwischen fernsehen und lesen. Ein Buch hatte sie immer dabei, denn das Fernsehprogramm in der Nacht ließ meistens mehr als zu wünschen übrig. Heute jedoch war sie neugierig. Natürlich hatte sie schon mit Heidi telefoniert und wusste von der gelungenen Überraschung, aber Heidi erzählte auch, dass Michael auch über manche Dinge gesprochen hatte, die seelsorgerlichen Charakter hatten und die sie deshalb nicht weiter erzählen wollte. Das war eine Selbstverständlichkeit für Britta. Wenn er wollte, dass sie diese Dinge wusste, könnte er sie ihr selber erzählen. Sie öffnete die Tür zu Zimmer 23 und freute sich, dass der Zimmerkollege von Michael nicht in seinem Bett lag. Morgen Vormittag würde er sowieso entlassen werden. Michael Aschmann blätterte in einer Zeitschrift und hatte leise Musik laufen.

Britta lächelte. Das war also eine sehr gute Idee gewesen. Heidi hatte ihr erzählt, dass die drei Besucher heute für Musik gesorgt hatten. Als Michael sie kommen sah, legte er die Zeitschrift zur Seite. „Mensch, Britta, das war die beste Idee des Jahrhunderts!“ Er strahlte sie an. „Die Überraschung ist dir wirklich gelungen.“ Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass er mit Britta bisher noch per Sie war. „Entschuldigung – so weit waren wir ja noch gar nicht.“ Britta fand das überhaupt kein Problem. „Das wollte ich auch gerade vorschlagen. Alles andere wäre spätestens jetzt doch eh nur noch albern. Und überhaupt – irgendwie gehörst du jetzt ja zu uns.“ Sie hielt ihm ihre Hand entgegen und er drückte sie fest. Dann erzählte er, wie sehr er sich über den Überraschungsbesuch am gestrigen Nachmittag gefreut hatte und wie gut ihm das Gespräch besonders mit Max und Heidi getan hatte. „Die beiden haben eine besondere Seelsorge-Gabe“, meinte er nachdenklich, „ich habe ihnen Dinge erzählt, über die ich so schnell mit niemandem sprechen würde – schon gar nicht mit Wildfremden.“ Britta konnte das nur bestätigen und ermutigte ihn, mit den beiden im Gespräch zu bleiben, so lange er noch hier war. „Manchmal spricht es sich mit Fremden leichter als mit Bekannten.“ Sie war überzeugt davon, dass es ihm sehr gut tun würde.

Sie sprachen eine ganze Weile, bis schließlich Michaels Zimmernachbar zurückkam. Britta drückte noch einmal Michaels Hand – der andere Patient musste ja nicht alles wissen – und wünschte den beiden eine gute Nacht. Sie selber machte sich daran, das Stationszimmer aufzuräumen. Später verzog sie sich mit ihrem Buch auf das Sofa in die Ecke. Es war ruhig auf Station. Keine Klingel summte, kein Telefon meldete sich. Gegen Mitternacht machte sie noch einmal eine Runde, öffnete leise die Türen der Zimmer und schaute, ob es den Patienten gut ging. Alle schliefen tief und fest.

Neues Leben für Stephanie

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