Читать книгу Der Weg über die Southwark Bridge - Lisa Janssen - Страница 10
6. Kapitel
ОглавлениеIn seinem Kopf hämmerte es und der Schmerz betäubte all seine Sinne. Er spürte den kalten Stein unter seinen Händen, die sich so verbissen festhielten, dass er sie vermutlich nie mehr lösen konnte. Ihm war schlecht, doch übergeben konnte er sich auch nicht. Er wollte gar nichts tun. Nur hier sitzen, sich an das Geländer klammern und warten, dass es endlich vorbei war. Dabei wusste er nicht einmal, was es überhaupt war. Sein ganzer Körper war angespannt, seine Muskeln steinhart und verkrampft. Er schmeckte Blut an den Lippen und spürte dann den heißen Blutstrom, der ihm über die Stirn und die Wangen lief. Vermutlich hatte er eine Platzwunde am Kopf. Was störte ihn das schon, wenn er nur einfach hier bleiben konnte. Er hatte panische Angst davor, was passieren würde, wenn er losließe, wenn er die Brücke, die die letzte Konstante in diesem Moment war, aus seinen Händen gleiten ließ. Langsam ließ der Schwindel nach. Der kalte Stein übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus und doch grub er seine Fingernägel tiefer in die furchigen Steine, aus Angst, sie würden nachgeben. Sein rechtes Bein war eingeschlafen. Er nahm das dumpfe Kribbeln war, doch er wollte sich nicht anders hinsetzen aus Furcht, die Welt würde erneut um ihn herum zerbrechen. Ein Rauschen erfüllte seinen Kopf, das er nicht zuordnen konnte, wie die Wellen am Meer, wenn sie auf den Strand stießen. Es wurde lauter und wieder leiser, unregelmäßig und verworren. Die Minuten verstrichen und es wurde langsam klarer und aus dem Rauschen drangen konkrete Geräusche zu ihm hindurch, es waren Stimmen um ihn herum, aber er verstand nicht, was sie sagten. Er war doch nicht allein, jemand war gekommen, um ihm zu helfen, dachte er und vor Freude fing er an zu weinen. Die salzigen Tränen vermischten sich mit dem Blut auf seiner Haut und seine Wangen fingen an zu brennen. Plötzlich spürte er, dass ihn etwas am Arm zerrte, man wollte ihn von hier fort bringen, aber er durfte nicht loslassen, nein dass konnte er nicht. Das Zerren wurde immer heftiger und seine verkrampften Hände begannen unter dem Druck nachzugeben. Die Fingernägel kratzten unsanft über die Steine und mit einem letzten Ruck ließen sie los. Er schrie wieder und begann wild um sich zu schlagen. Wieder waren da die Stimmen, er konnte sie jetzt besser hören. Es waren sogar mehrere Menschen, das verstand er jetzt. Jemand nahm seinen rechten Oberarm und versuchte ihn hochzuhieven, aber Matthew war wie ein nasser Sack, der sich keinen Zentimeter rührte.
„Meine Güte ist der stur“, ertönte jetzt die Stimme eines Mannes hell und klar an seinem Ohr. „Hey Bursche, aufgewacht! Nun komm schon.“ Dann verpasste man ihm eine Ohrfeige.
Matthew Collins schlug die Augen auf und starrte in das aufgedunsene Gesicht eines Mannes, der ihn genervt anstarrte.
„Na endlich, wurde aber auch Zeit“, sagte dieser jetzt knurrend und zerrte weiter an ihm. Matthew ließ sich jetzt hochziehen, bis er schwankend auf den Beinen stand. Da waren noch andere Geräusche, nicht nur die Stimme des Mannes und ein aufgeregtes Raunen um ihn herum, sondern es war regelrecht laut. Ein ohrenbetäubender Lärm, als wenn hundert Dampfmaschinen gleichzeitig neben ihm in Gang gesetzt wurden. Er wankte ein wenig und der Mann musste ihn stützen, damit er nicht erneut umfiel. Dann wurde ihm ein Stück Stoff an die Stirn gepresst.
„Hast dir ja ne ordentliche Wunde zugezogen“, sagte der Mann. Matthew kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Das Licht blendete ihn. Es musste mitten am Tag sein. Wie lange war er bewusstlos gewesen? Was war mit ihm geschehen? Er betrachtete den Mann, der vor ihm stand, näher. Er trug die schwarze Uniform der Metropolitan Police, hatte einen Helm auf und an seinem Gürtel baumelte ein Schlagstock. Ein Seitenblick verriet Matthew, dass der andere Mann, der ihn hielt, auch uniformiert war. Wollte man ihn etwa festnehmen? Er hatte nichts verbrochen! Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nur ein Krächzen heraus.
„Ist schon gut Bursche. Wir nehmen dich erstmal mit aufs Revier“, hörte er den Beamten neben sich sagen. Matthew wurde wieder panisch und versuchte erneut zu sprechen.
„Nein, nein“, stammelte er, „ich muss weiter. Ich hab eine Verabredung. Ich muss…ich muss zur Southwark Cathedral!“
„Aber nicht in dem Zustand Junge. So lassen sie dich nicht in die heiligen Hallen. Du musst erstmal ausnüchtern.“
„Ich bin nicht betrunken“, protestierte Matthew und versuchte sich loszureißen, aber der Polizeibeamte war zu stark.
„Das haben schon viele gesagt“, brummte dieser nur. Sein Kollege schnappte sich Matthews linken Arm und dann zogen und zerrten sie ihn durch eine Menge an Schaulustigen. Er war immer noch auf der Brücke. Unter ihm sah er das dunkle Wasser der Themse. Oh Gott Polly, dachte er verzweifelt und Tränen strömten über seine abgeschürften Wangen. Wenn es mitten am Tag war, hatte sie die ganze Nacht umsonst auf ihn gewartet. Sie musste denken, er hätte es sich anders überlegt und sie doch verlassen. Aber das hatte er nicht! Er war ohnmächtig geworden und er hatte keinen blassen Schimmer warum. Sie verließen die Southwark Bridge und bogen nach rechts auf die Upper Thames Street. Der Lärm wurde für ihn unerträglich und jetzt erkannte er, wo er herrührte. Es handelte sich um eine Art motorisierte Kutschen, jedenfalls glaubte Matthew das, wenn er sich an die Bilder in der Zeitung erinnerte, von der Kutsche aus Deutschland. Von einem Automobil hatte man dort gesprochen. Aber diese hier sahen so ganz anders aus. Sie waren nicht offen, sondern einige von ihnen besaßen ein Dach aus Blech oder Stoff. Ein Automobil nach dem anderen passierte die Straße, sodass Matthew fassungslos stehen blieb und die beiden Polizisten beinahe ins Stolpern brachte. Ab und zu mischte sich eine Kutsche dazwischen, doch sie wirkte geradezu lächerlich neben den motorisierten Ungestümen.
„Was zum Henker“, sagte er und fragte sich im selben Augenblick, ob er nicht doch betrunken war. „Das ist eine Parade, hab ich Recht? Ich wusste gar nicht, dass diese deutschen Kutschen jetzt auch bei uns gebaut werden!“ Die Polizisten zogen ihn unsanft weiter.
„Weiß nicht, was er meint“, brummte seine linke Begleitung zu dem Kollegen. Der zuckte auch nur mit den Schultern. Das nächste Revier der Metropolitan Police befand sich nur einen kurzen Fußmarsch von der Southwark Bridge entfernt, doch für Matthew war es die Hölle. Sein ganzer Körper schmerzte und sein Kopf war immer noch benebelt, sodass ihm das Denken schwerfiel. Er erklomm mit Mühe die zwei Stufen zum Eingang des Reviers und stolperte dann einen schmalen Gang entlang, von dem links und rechts unzählige Türen abgingen, hinter denen laute Stimmen zu hören waren. Am Ende des Flures bogen sie nach links und fanden sich in einem kleinen Büro mit zwei Schreibtischen wieder. Matthew wurde auf einen klapprigen Holzstuhl vor einem der Tische gesetzt.
„Hören Sie, ich bin wirklich nicht betrunken“, versuchte er es erneut, wurde aber von den Beamten abgewürgt.
„Wir stellen hier die Fragen. Wir nehmen jetzt ihre Personalien auf und sie bleiben ein paar Stunden in der Ausnüchterungszelle, bis man sie wieder auf die Straße lassen kann.“ Der Beamte mit dem aufgequollenen Gesicht nahm hinter dem Schreibtisch Platz und kramte in einer Schublade nach einem Stift. Auf einem Namenschild konnte Matthew lesen, mit wem er es zu tun hatte: Sergeant Anthony Walton. Er hatte seinen Stift gefunden, nahm ein Blatt Papier zur Hand und blickte Matthew an.
„Name?“, fragte er knapp. Matthew seufzte.
„Matthew Collins.“
„Von Collins & Sons?“, warf der zweite Beamte neugierig ein. Matthew verdrehte die Augen. Woher sollte er auch sonst kommen!
„Ja“, antwortete Matthew genervt.
„Geburtsdatum?“
„2. Januar 1870.“
„Da haben Sie sich aber gut gehalten!“ Matthew konnte mit dieser Bemerkung nicht so recht etwas anfangen.
„Wohnort?“
„Belgravia, Belgrave Place Nummer 18.“
„Irgendwelche Vorstrafen?“
„Nein, keine.“
„Was hatten Sie in betrunkenem Zustand auf der Southwark Bridge zu tun?“
„Ich war nicht betrunken“, sagte Matthew, dem allmählich der Kragen platzte, jetzt eindringlich.
„Nun gut, ich fasse noch einmal zusammen. Sie knieten laut schreiend in der Mitte der Brücke, klammerten sich wie ein Verrückter an dem Geländer fest, haben eine Platzwunde am Kopf, als ob sie in eine Schlägerei verwickelt gewesen wären und noch dazu haben sie einen Beamten geschlagen.“
„Ich habe was?“, rief Matthew entsetzt.
„Sie haben Johnson ins Gesicht geschlagen, als er Ihnen aufhelfen wollte.“ Walton nickte zu seinem Kollegen hinüber, der Matthew einen Bluterguss am Kinn zeigte, der sich langsam in ein scheußliches grün-violett verwandelte.
„Ich könnte Sie dafür anzeigen, aber da Sie bisher noch nicht negativ aufgefallen sind und Ihre Familie einen guten Stand in der Gesellschaft hat, wollen wir noch einmal großzügig sein. Wir werden Sie aber trotzdem für zwei oder drei Stunden hier behalten müssen Mr Collins.“ Matthew war entsetzt darüber, in was für ein Schlamassel er geraten war, obwohl er doch nur mit seiner Liebe nach Paris hatte fliehen wollte. Vielleicht hatte sein Vater von seinem Vorhaben erfahren und wollte ihn auf diese Weise bestrafen? Aber dann müsste Bernie geplaudert haben und das traute er dem Kutscher nicht zu. Was es auch immer gewesen war, dass Matthew derart außer Gefecht gesetzt hatte, es ließ sich nicht mehr ändern und er musste das Beste aus der Situation machen. Walton erhob sich und bat Matthew ebenfalls aufzustehen. Sie brachten ihn in den Raum gegenüber, indem drei Zellen in der hintersten Ecke waren sowie zwei Stühle, auf dem gerade zwei jüngere Beamte mit einem Sandwich und einer Zeitung saßen und sich unterhielten.
„Jacob, Harry, hier kommt Arbeit auf euch zu. Lasst ihn zwei Stunden seinen Rausch ausschlafen, dann kann er gehen.“ Der Blondhaarige der beiden legte die Zeitung beiseite und sperrte die mittlere Zelle auf. Matthew trottete ohne Widerworte hinein und ließ sich auf einer schmalen Bank in der Ecke nieder. Er hatte beschlossen, die zwei Stunden auszuharren und dann umgehend zu Polly zu gehen. Sie musste verstehen, was passiert war. Er holte die Fahrkarten aus der Innentasche seines Mantels. Der Zug ab Paddington war schon längst abgefahren. Ohne sie. Bedrückt starrte er die beiden kleinen Papierzettel an und wollte sie schon zerrreißen, doch aus irgendeinem Grund tat er es nicht, sondern steckte sie wieder ein. Der blonde Junge reichte ihm einen nassen Lappen durch die Zellentür, mit dem er sich das Blut aus dem Gesicht wischen konnte. Vorsichtig tastete er mit den Fingern an seine Stirn. Eine dicke Beule bildete sich, doch die Wunde war zum Glück nicht all zu groß. Wahrscheinlich musste sie nicht einmal genäht werden. Dafür brannten seine Wangen und Hände. Letztere waren aufgescheuert und wund von den Steinen. Seine beiden Wächter hatten es sich wieder auf ihren Stühlen bequem gemacht und jeder ein Stück Zeitung in die Hand genommen.
„Man was wäre ich gerne bei diesem Motorradrennen in Frankreich dabei. Das wäre doch was, oder Harry? Ich glaub, ich hätte sogar die Chance zu gewinnen“, hörte Matthew den Blonden sagen.
„Quatsch nicht rum, wann bist du denn Motorrad gefahren?“
„Na mit der Maschine meines Alten. Bin auf dem Hof gefahren. Betty hat sich sogar getraut, sich hinten drauf zusetzen.“
„Das kannste doch nicht mit dem Rennen dort vergleichen, Jacob! Das sind alles Profis.“ Harry, ein pickliger Junge mit zurück gegeeltem schwarzem Haar, lachte über die Dummheit seines Kollegen.
„Auf einer Hildebrand & Wolfmüller?“, fragte Matthew durch seine Gitterstäbe hindurch. Er hatte einmal das Vergnügen gehabt, auf solch einem Motorrad zu fahren, war aber davon nicht besonders angetan gewesen. Sein Großonkel Walter, der begeistert war von diesem neuartigen Zweirad, hatte ihn unter strengem Blick gestattet, sich einmal drauf zu setzen. Harry und Jacob drehten sich mit verdutzten Gesichtern zu ihm um.
„Ne natürlich nicht! Was hast du denn für Vorstellungen?“, sagte Jacob und schüttelte verständnislos den Kopf. Matthew lehnte sich an die kalte Wand und starrte ins Leere. Dann schloss er die Augen und stellte sich vor, wie er jetzt mit Polly in einem Wagon sitzen und die englische Landschaft an sich vorbeirauschen sehen würde.
„Die haben die ersten Listen veröffentlicht mit den Toten von der Titanic“, hörte er Harry leise sagen, „kann’s immer noch kaum glauben. Mein Onkel ist mitgefahren, hatte ich dir das erzählt? Sein Name steht auch dabei.“ Harry reichte Jacob sein Stück Zeitung, der es neugierig entgegennahm.
„Ich kannte auch welche. Und damals haben wir gescherzt, was wir für eine Fahrkarte nicht alles gegeben hätten, weißt du noch? Kann’s immer noch nicht fassen. Unsinkbar haben sie gesagt, so ein Schwachsinn.“
Matthew öffnete die Augen und starrte die beiden Jungen an. In seinem Kopf begann es fieberhaft zu arbeiten, doch so sehr er sich bemühte, er konnte mit dem Wort Titanic nichts anfangen.
„Was ist die Titanic?“, fragte er nach einer Weile und kam sich dabei reichlich dumm vor. Schließlich las er jeden Morgen die Zeitung und erst gestern, bevor er aufgebrochen war, hatte er sie noch einmal durchgeblättert. Er war nirgendwo auf den Namen Titanic gestoßen.
„Ich glaub der Kerl hat wirklich zu viel getrunken“, sagte Harry und schielte zu ihm hinüber.
Matthew war jetzt aufgestanden und lehnte sich an die Zellentür.
„Ich meine es ernst“, wiederholte er, „ich habe diesen Namen nie zuvor gehört!“
„Dann haste die letzten Jahre hinterm Mond gelebt. Die Titanic ist ein Schiff, das größte und luxuriöseste, das jemals gebaut wurde und man hielt es für unsinkbar. Aber letzten Monat ist sie gesunken. Mehr als 2000 Menschen waren an Bord, kaum einer hat überlebt.“ Matthew starrte sie fassungslos an und klammerte sich noch heftiger an die Gitterstäbe. Das war unmöglich. Er hatte nichts davon mitbekommen! Sir Benjamin McEwens von der Königlichen Marine hätte auf seinen zahlreichen Besuchen bei ihm zu Hause doch mit großer Sicherheit ein Wort über die Titanic verloren!
„Es tut mir sehr leid, aber ich habe wirklich nichts davon gehört geschweige denn gelesen! Wann sagten Sie, sei die Titanic gesunken?“, sagte Matthew. Er hatte einen letzten Funken Hoffnung, dass die Jungen in auf dem Arm nahmen, aber die beiden blickten nun ganz ernst in seine Richtung.
„Letzten Monat, am 14. April“, sagte Harry.
„Kann ich…Kann ich den Artikel einmal sehen?“, fragte Matthew leise und streckte eine zitternde Hand nach ihnen aus. Schulterzuckend gab Jacob ihm die Zeitung. Sie hatten ihn nicht belogen. Es war ein Artikel im Daily Mail mit den neuesten Informationen zum Schiffsunglück und einer kleinen Liste mit den, anhand er Passagierlisten überprüften, Namen derjenigen, die in dieser Nacht ums Leben gekommen waren. Matthew blätterte krampfhaft weiter: Ansprache des Königs am kommenden Sonntag, Sanierungsarbeiten an St Paul’s Cathedral fertiggestellt, Unsere Athleten für Olympia in Stockholm… Jede Überschrift war für ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Warum sprachen sie vom König? Es war Queen Victoria! Und an Sanierungsarbeiten an der St Paul’s Cathedral konnte er sich nicht erinnern, er war schließlich erst gestern an ihr vorbeigefahren. Und von olympischen Spielen in Stockholm hatte er auch noch nie etwas gehört. Entsetzt ließ er sich mit der Zeitung in der Hand auf seiner Pritsche nieder. Das konnte alles nicht wahr sein, was war mit ihm geschehen? Er war doch nur auf dem Weg über die Southwark Bridge gewesen als… ja, als was? Als ihn dieser seltsame Schwindel erfasst und ihn zu Boden gerissen hatte, als er das Gefühl gehabt hatte, der Boden würde unter ihm versinken und ihn in die Tiefe zerren. Matthew blickte auf die Titelseite der Daily Mail und was er dort oben in der rechten Ecke, ganz klein und unscheinbar, las, trieb ihn die Tränen in die Augen und ließ ihn dann vor seinen Füßen erbrechen: 13. Mai 1912.
„Der Kerl ist doch betrunken“, murmelte Harry zu Jacob, „jetzt sieh dir die Sauerei an. Und wer kann‘s wegwischen? Wir mal wieder.“
Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken, er zitterte wie Espenlaub und stöhnend richtete er sich wieder auf, um an die Zellentür zu humpeln. Angewidert wichen die beiden Polizisten vor ihm zurück. Erbrochenes klebte an seinem Mantel und hing ihm am Kinn. Er wischte es gedankenlos mit dem Ärmel weg und stierte zu Harry und Jacob.
„Als ich losgelaufen bin, war es der 13. Mai 1892. Wie in Gottes Namen kann ich zwanzig Jahre auf dieser Brücke verbracht haben“, sagte er, sichtlich bemüht, die Fassung zu wahren.
„Sie reden wirres Zeug, setzen Sie sich wieder“, erwiderte Harry. Matthew machte ihm offensichtlich Angst.
„Wie?“, brüllte Matthew jetzt, „das war keine Parade draußen vor der Tür, stimmt’s? Diese, diese Kutschen mit Motor, die fahren hier jetzt immer, hmm? Und wir haben jetzt neuerdings einen König! Mein Gott, ich werde verrückt.“
„Sie meinen Autos, und ja, die fahren hier immer.“
Dann fiel es Matthew plötzlich wieder ein: die Zugtickets. Hektisch wühlte er in seinen Manteltaschen und zog dann mit zitternden Fingern die beiden Karten hervor. Er streckte sie Harry entgegen.
„Hier! Sehen Sie sich das Datum an! Lesen Sie’s vor! Na los doch, ich bin nicht verrückt“, zwang er Harry dazu und drückte die Karten durch die Stäbe. Zögernd nahm dieser die Zugtickets entgegen und warf einen Blick darauf. Stirnrunzelnd schaute er wieder hoch in Matthews fleckiges aufgebrachtes Gesicht, dem wirren Haar und der blutverkrusteten Wunde an der Stirn.
„Was steht da?“, sagte Matthew panisch.
„Abfahrt Gleis 2 Paddington Station, 13. Mai 1892, 05:45 Uhr“, sagte Harry langsam woraufhin Jacob ihm die Karten verdutzt aus der Hand riss.
„Und welches Jahr haben wir heute?“, setzte Matthew nach.
„1912!“
Matthew brach in ein hysterisches Lachen aus, das den Beamten aus dem Büro nebenan anlockte, der jetzt fragend in der Tür stand.
„Ich habe zwanzig Jahre übersprungen! Zwanzig Jahre auf dieser verfluchten Brücke verbracht! Ich habe Polly sitzen gelassen, ich habe meinen Zug verpasst und ich weiß ich habe keine Lust noch länger in diesem verfluchten Jahr zu bleiben“, schrie er jetzt das ganze Polizeirevier zusammen. Der Beamte wies die beiden Jungen an, Matthew durch die Gitterstäbe von hinten festzuhalten. Dann holte er aus einem Wandschrank eine Spritze hervor, die er mit einem Beruhigungsmittel füllte.
„Der Kerl ist wahnsinnig“, sagte Harry noch einmal, als er zusammen mit Jacob Matthews Arm zu fassen bekommen hatte und ihn jetzt mit dem Rücken an das Gitter presste. Das Beruhigungsmittel wirkte sofort. Matthew sackte schlaff zusammen und blieb auf dem Boden neben seinem Erbrochenen liegen.
Sie ließen ihn am späten Nachmittag nach einer ernsthaften Ermahnung gehen. Vermutlich hätte die bürokratische Erfassung seines Verbrechens mehr Aufwand bedeutet, als ihn einfach ein paar Stunden in eine Zelle zu sperren, in der Hoffnung, er würde von selbst wieder normal werden. Matthew hatte sich mit dem Tuch die gröbsten Reste seines Erbrochenen weggewischt und in einem kleinen Waschbecken sich einen Strahl kalten Wassers ins Gesicht gespült. Danach fühlte er sich ein bisschen besser, aber als er jetzt auf den Stufen vor dem Polizeirevier stand und auf die Straße vor seinen Füßen blickte, kam sein Entsetzen zurück. Das, was Harry und Jacob als Automobile bezeichnet hatten, fuhr in regelmäßigem Abstand an ihm vorbei. Diese Autos waren viel größer als die motorisierten Kutschen, schneller und lauter. Nur vereinzelt fuhr ein Pferdekarren an ihm vorbei. Frauen in langen Tuniken und Röcken mit riesigen Hüten, ähnlich dem seiner Mutter, spazierten an ihm vorbei. Geschäftsmänner im Smoking und mit Bowler, in Tweed Anzügen und Hütten. Man beachtete ihn nicht, dazu herrschte viel zu großes Treiben auf den Straßen, aber er beachtete sie. Fassungslos starrte er jedem nach, der an ihm vorbeilief. Er hatte sein ganzes Leben in London verbracht und doch war diese Stadt auf einmal fremd für ihn. Sie hatte sich verändert, war nicht stehen geblieben in den letzten Jahrzehnten, hatte eine Jahrhundertwende miterlebt und all das ohne ihn. Wie konnte das sein? Eine angenehme warme Brise umspielte sein Gesicht und doch zitterte er am ganzen Leibe. Matthew zögerte zunächst auf der Treppenstufe, blieb unschlüssig stehen und versperrte den Weg für die Polizisten, die hinein oder hinaus wollten. Ärgerlich schüttelten sie die Köpfe, aber es war ihm egal. Schließlich holte er tief Luft und stürzte sich ins Jahr 1912.