Читать книгу Der Weg über die Southwark Bridge - Lisa Janssen - Страница 5

1. Kapitel

Оглавление

März 1892

Er stand jetzt etwa eine halbe Stunde vor der grün angestrichenen Eingangstür von Haus Nummer 12 Regency Street und starrte auf den goldenen Türklopfer in Form eines Löwenkopfes. Er traute sich nicht anzuklopfen, denn alles, was ihn hinter dieser Tür erwarten würde, erfüllte ihn mit Schrecken und Abscheu. Nervös drehte er sich zu Bernie um, der oben auf dem Kutschbock saß und sich eine Zigarette angezündet hatte. Als dieser den zögerlichen Blick des jungen Mannes bemerkte, nickte er ihm aufmunternd zu und gab ihm zu verstehen, jetzt endlich an diese Tür zu klopfen. Doch Matthew Collins strich erst zum zwölften Mal seinen Anzug glatt und rückte den Zylinder zurecht, in der Hoffnung, dadurch das Unvermeidbare noch ein wenig hinauszuzögern. Die Menschen, die an ihm auf dem Bürgersteig vorbeiliefen, starrten ihn interessiert an und reckten beim Vorbeigehen noch einmal die Köpfe. Matthew räusperte sich, dann trat er auf die oberste Treppenstufe und betätigte den Klopfer. Er hörte das dumpfe Pochen, das darauf folgte und wünschte sich im selben Augenblick, dass niemand es bemerkt hätte. Doch seine Gebete wurden nicht erhört. Ein großgewachsener Mann in schwarzem Frack und frisch gestärktem weißen Hemd öffnete ihm die Tür. Matthew nahm seinen Zylinder ab und verbeugte sich leicht.

„Mr Collins! Man erwartet Sie bereits“, sagte der Butler mit einer leicht näselnden Stimme und trat einen Schritt zur Seite, um den jungen Mann hinein zu lassen. Matthew blickte sich noch einmal zu Bernie um, der gerade seine Zigarette austrat, dann betrat er den Eingangsbereich von Regency Street Nummer 12. Er legte seinen Hut und leichten Mantel, den er sich für die Übergangszeit vor kurzem gekauft hatte, ab und wartete in der noblen kleinen Halle. Ein schwerer Geruch nach Blumen hing in der Luft und aus dem Raum zu seiner Linken hörte er Stimmen.

„Wenn Sie bitte hier warten würden Mr Collins, ich werde im Salon Bescheid geben, dass Sie da sind.“ Der Butler ließ ihn stehen und ging in den Raum, aus dem die Stimmen zu hören waren. Matthew strich sich nervös das blonde Haar aus der Stirn, das vielleicht etwas zu lang war, aber ihm durchaus stand. Er war ein groß gewachsener Mann mit einem breiten Kreuz und einem gutmütigen rundlichen Gesicht. Er blickte auf seine Taschenuhr hinab. Es war genau zwanzig Minuten vor 12. Spät genug, um die Hausherren nicht beim Frühstück zu überraschen und auch früh genug, um sie nicht beim Lunch zu stören. Er war genau richtig angekommen. In diesem Moment streckte der Butler den Kopf durch die Salontür und winkte ihn herein. Matthew holte tief Luft, dann schritt er zügig über den Marmorboden, um das hinter sich zu bringen, was unausweichlich war. Im Salon warteten drei Menschen auf ihn. Ein kleiner Mann mit spärlichem braunen Haar, der ihn durch eine große Brille freundlich anlächelte, eine Frau, die steif auf der Couch vor dem Kamin saß, das Haar kunstvoll hochfrisiert und in einem eleganten dunkelblauen Kleid, das der neuesten Mode entsprach und Susan Wentworth, ihre Tochter.

„Mr und Mrs Wentworth“, sagte Matthew, verbeugte sich und schritt dann auf die Dame des Hauses zu, um ihr einen Kuss auf ihre vorgestreckte Hand zu hauchen.

„Wir freuen uns so, dass Sie da sind Matthew!“, begrüßte ihn der kleine Mann und klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. Dann wandte sich Matthew Susan zu, gab auch ihr einen Kuss und blickte in ihre grauen Augen, die ihn kühl musterten. Susan war eine hübsche junge Frau, die die feinen Gesichtszüge ihrer Mutter geerbt hatte, aber sie lächelte nicht, als sie Matthew gegenüber stand und ihn betrachtete. Susan hatte nicht das liebliche Wesen einer Frau, sie war kühl und berechnend und sie wusste, was man von ihr verlangte. Eigentlich musste er nicht nur Mitleid mit sich selbst, sondern auch mit ihr haben, aber das hielt sich bei ihm in Grenzen. Mr Wentworth setzte sich neben seine Frau und dann betrachteten sie die beiden jungen Leute und Matthew wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. In diesem Moment wünschte er sich, er könnte wie Bernie auf dem Kutschbock sitzen, in die Sonne blinzeln und die einzige Sorge, die er dann hätte, wäre, immer genügend Zigaretten zu besitzen oder die Qual der Wahl, in welchen Pub er am Abend gehen würde. Aber Matthew war dieses einfache Leben nicht vergönnt und eigentlich sollte er zufrieden sein mit dem Leben, das ihm seine Eltern aufgebaut hatten.

Matthew Collins war der Sohn des Bankiers Thomas Collins und die Bank Collins & Sons gehörte zu Englands ältesten Bankhäusern im Norden der Stadt. Schon bei seiner Geburt stand fest, dass er eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr war Matthew nun also jeden Tag in der großen marmornen Halle in der City beschäftigt und er musste zugeben, dass ihm die Arbeit eigentlich gefiel. Die Collins führten ein vornehmes Leben in Belgravia, etwa vier Straßen entfernt von den Wentworths. Abendgesellschaften, ein Sitz in den nobelsten englische Clubs und der Umgang mit den einflussreichsten Politikern und Geschäftsleuten Englands standen an der Tagesordnung. So war es nur selbstverständlich, dass es eines Tages dazu kommen musste, dass Matthew eine Frau heiratete, die den Ansprüchen der Collins und der gesamten Londoner Gesellschaft genügte. Susan Wentworth war diese Frau. Matthew war ein umgänglicher Typ, der sich nur selten den Anforderungen seines Vaters widersetzte oder für Unruhe sorgte, ganz im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Charles, doch dieser Vermählung hatte Matthew nur unter wochenlangem Protest, Diskussionen und vielen Tränen seiner Mutter zugestimmt. Denn es gab ein Problem. Matthew liebte eine andere.

„Miss Susan Wentworth, würden Sie mir die Ehre erweisen und meine Frau werden“, sagte er jetzt, als er auf die Knie gesunken war und in ihr blasses spitzes Gesicht hinauf blickte, in dem sich kein Muskel rührte.

„Es wäre mir eine große Ehre Mr Collins“, erwiderte sie ohne jegliche Gefühlsregung. Mr Wentworth begann zu klatschen und Mrs Wentworth nahm ihr seidenes Taschentuch zur Hand und tupfte sich die Augen. Ob sie wirklich vor Rührung weinte, konnte Matthew nicht erkennen.

„Willkommen in der Familie mein Schwiegersohn. Nennen Sie mich George!“ Der kleine Mann schüttelte ihm erneut frohen Mutes die Hand.

„Lasst uns darauf anstoßen. Auf die Familien Collins und Wentworth! Mögen ihnen eine blühende und kinderreiche“, er zwinkerte Matthew zu, „Zeit bevorstehen.“

Matthew nahm dankend das Glas Whisky entgegen, das ihm gereicht wurde, doch als er einen Schluck nahm, wurde ihm übel. Susan stand dicht neben ihm und er sah, wie sie die Lippen zusammen gekniffen hatte und er wusste, dass sie genauso unglücklich über diese Vermählung war, wie er. Vielleicht hatte sie selbst einen anderen Verehrer, dem sie ihr Herz geschenkt hatte und den sie jetzt gehen lassen musste, weil Matthew Collins wohl oder übel seinen Platz einnehmen würde. Und dann musste er an Polly denken, Polly Perkins, die Frau, bei der es ihm seit dem Moment, als er sie das erste Mal gesehen hatte, die Sprache verschlagen hatte. Doch Polly Perkins war nicht die Partie, die seine Eltern sich für ihn gewünscht hatten. Und so sehr er auch gefleht und gebettelt hatte, Polly könnte nie die Frau an seiner Seite werden. Nicht in diesem Jahrhundert und nicht als die Frau eines angesehenen Bankiers in der Londoner Gesellschaft. Dabei war es sein Vater gewesen, dem er die Begegnung mit Polly zu verdanken hatte, denn vor gut einem Jahr hatte ihn Mr Collins in die Fleet Street geschickt, um ein Interview, um das der Daily Courant, Londons angesehenste Zeitung, gebeten hatte, zu besprechen. Matthew hatte im Vorfeld die Fragen mit den Reportern durchgehen und alles Übrige in die Wege leiten sollen. So war er also an einem Frühlingstag im Mai in die Fleet Street gefahren, um sich mit einem gewissen Charly Taylor zu treffen. Als er das Gebäude des Daily Courant betreten hatte, war sein Blick auf die junge Empfangsdame gefallen, die hinter einem hohen Tresen gesessen und eifrig auf einer Schreibmaschine getippt hatte. Sie hatte ein rotes Kleid getragen, das vielleicht etwas zu tief ausgeschnitten war, um sie eine feine Dame nennen zu können, doch als sie zu ihm aufgeblickt und ihn lächelnd nach seinem Namen gefragt hatte, da hatte Matthew gewusst, dass diese Frau für ihn einzigartig war.

Das alles ging ihm in diesem Moment durch den Kopf, als er im Wohnzimmer der Wentworths stand und ein Whiskyglas erhoben hatte, um auf seine Verlobung mit Susan Wentworth anzustoßen.

„Was sagen Sie dazu Matthew?“, hörte er die Stimme von Mr Wentworth und er wurde ruckartig in die unliebsame Gegenwart versetzt.

„Verzeihung, ich habe nicht ganz zugehört“, entschuldigte er sich hastig.

„Noch ganz benommen, nicht wahr mein Sohn! Ich fragte, was Sie davon hielten, eine kleine Verlobungsfeier zu organisieren. Hier in unserem Haus. Ein paar gute Freunde und Bekannte, keine allzu große Sache, schließlich sparen wir uns das ganz Große für die Hochzeit auf.“

„Das wäre eine wunderbare Idee“, antwortete Matthew pflichtbewusst, dabei spürte er, wie ihm die Galle in den Hals stieg und hastig trank er den restlichen Whisky in einem Schluck aus.

„Mr Wentworth – George, Mrs Wentworth, ich werde mich jetzt leider verabschieden müssen. Die Pflicht ruft mich“, verabschiedete er sich schnell. Er hatte das Gefühl, er müsste umgehend diese Räume verlassen, die ihn zu ersticken drohten. Er hauchte Susan einen Kuss auf ihre Hand und blickte ihr noch einmal in die Augen. Immer noch war kein Lächeln darin zu sehen. Er nahm es ihr nicht übel. Der Butler führte ihn aus dem Wohnzimmer, half ihm beim Ankleiden seines Mantels und geleitete ihn zur Tür. Erst als Matthew draußen auf dem Bürgersteig stand und in die Londoner Sonne blinzelte, wurde die Übelkeit langsam besser. Bernie sprang vom Kutschbock und öffnete ihm die Tür.

„Alles in Ordnung Mr Matthew?“, fragte er und setzte einen mitfühlenden Blick auf.

„Danke Bernie, es ist alles in bester Ordnung.“ Er nahm in der Kutsche Platz und starrte auf die Kutschenwand vor ihm, in die ein kleines Fenster eingelassen war, um bei Bedarf mit dem Kutscher Kontakt aufnehmen zu können. Matthew schob die Scheibe hinunter und wies Bernie an nicht nach Hause fahren, sondern einen Abstecher in seinen Pub zu machen. Bernie warf ihm einen erstaunten Blick zu, doch dann nickte er und ließ die Pferde antraben. Die Kutsche bewegte sich in östliche Richtung, an der City vorbei und auch an dem Bankenviertel. Das hohe Gebäude mit den Marmorsäulen, an dessen Giebel in großen goldenen Lettern Collins & Sons angebracht war, ließen sie ebenso hinter sich wie den Tower. Die Straßen wurden schmaler, dunkler und dreckiger. Genau wie ihre Bewohner, die in zerlumpten Kleidern die vornehme Kutsche anstarrten, die sich in ihre Gegend verirrt hatte. Matthew empfand jedes Mal tiefe Abscheu für dieses Leben, aber er wusste, dass er nichts daran ändern konnte. Das Leben in den äußeren Stadtbezirken war hart und traurig. Die Menschen hockten dicht an dicht in den kleinen Wohnungen zusammen, die manchmal von zwei oder mehr Familien geteilt wurden. Hinter den Häusern ragten die Schornsteine der Fabriken in den Himmel und stießen ihren dicken schwarzen Qualm in die Luft. Das East End war eine grausame Gegend. Hier wurden aus den Menschen Ratten, die sich auf alles stürzten, was auch nur im Entferntesten essbar wirkte. Es war ein Ort, an dem Krankheit und Kriminalität die Straßen beherrschte. Seitdem vor vier Jahren die bestialischen Morde an Frauen durch einen Mann, der allgemein nur als Jack the Ripper bekannt war, das East End erschüttert hatten, hatte der Ruf des Viertels sich noch weiter verschlechtert. Doch die einzige Antwort, die man auf die Zustände hier gefunden hatte, war der Bau weiterer Gefängnisse gewesen.

Ein paar Jungen liefen der Kutsche auf ihren bloßen blutigen Füßen hinterher und Matthew warf ihnen aus dem Fenster ein paar Schillinge zu. Sie stritten sich darum und Matthew hoffte nur, dass sie so schlau waren und es nicht ihren Vätern gaben, die das Geld gegen Bier und Schnaps eintauschen würden. Bernie ließ die Pferde vor dem Eingang des Ten Bells zum Stehen kommen und Matthew stieg aus. Er hielt sich ein seidenes Taschentuch vor die Nase, um den Gestank nach Verfäulnis und Urin nicht einatmen zu müssen. Whitechapel war kein Ort für einen Gentleman wie ihn, doch er kannte sich aus in dem verrufenen Viertel und betrat zügigen Schrittes den Pub. Drinnen war es heiß, laut und es roch nach altem Schnaps. Die Mädchen waren leicht bekleidet, die Männer betrunken und zwischen ihnen Matthew Collins in seinem feinen Mantel und Zylinder. Er setzte sich an einen Tisch am Fenster und starrte durch die dreckigen Scheiben nach draußen.

„Na Süßer, was hättste denn gern“, fragte ihn die Bedienung und ließ sich mit ihrem Hintern keck auf seinem Tisch nieder.

„Ein Bier Mary“, antwortete er knapp.

„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, hmm!“ Sie zuckte genervt mit den Schultern und verschwand wieder zum Tresen. Wenn irgendjemand herausbekommen würde, dass der Sohn von Thomas Collins in einem Pub in Whitechapel verkehrte, dann würde das das Gesprächsthema der nächsten Monate auf allen Gesellschaften und Soirées, in jedem Club und vor allem bei den Collins zu Hause sein. Doch Matthew ließ sich nicht erwischen.

„Eine Spende für einen armen Jungen Sir!“, erklang die piepsige Stimme eines Zwölfjährigen, der mit ausgestreckter Hand schelmisch grinsend an seinem Tisch aufgetaucht war. Matthew grinste zurück.

„Setz dich Marty und lass das Betteln.“ Mary brachte das Bier und ehe Matthew noch widersprechen konnte, schnappte sich der Junge den Krug und trank gierig einen Schluck. Seufzend ließ Matthew ihn schließlich gewähren.

„Lass mir zumindest einen Schluck übrig, hast du verstanden.“ Ein kurzes Brummen sollte wohl ja bedeuten. Als Matthew das erste Mal nach Whitechapel gekommen war, damals noch zu Fuß, hatte er in den vielen engen Gassen den Überblick verloren und sich heillos verirrt. Marty hatte ihn für ein paar Groschen bis zum Tower gebracht, ab dort kannte sich Matthew aus. Er war dem kleinen Burschen zu Dank verpflichtet und er hatte ihn ins Herz geschlossen. Seine Mutter war im Kindsbett gestorben und der Vater ein Trinker, so hatte es Marty ihm erzählt, als sie sich ein zweites Mal begegnet waren. Seitdem war er ein treuer und ständiger Begleiter geworden und vermutlich sah er in Matthew den großen Bruder oder den Vater, den er nie haben würde. Matthew zog ihm schließlich den Krug aus der Hand und nahm selbst einen Schluck. Das Bier war warm, aber es störte ihn nicht. Seit er Susan den Heiratsantrag gemacht hatte, störte ihn gar nichts mehr. Er fühlte sich schuldig gegenüber Polly, obwohl sie beide von Anfang an gewusst hatten, dass es kein gutes Ende werden würde. Vielleicht eine kurze glückliche Liebschaft, aber mehr auch nicht. Für Matthew war es weit mehr, er hatte Polly ins Herz geschlossen und als Charly Taylor das Interview mit seinem Vater geführt hatte, war es Matthew gewesen, der sich angeboten hatte, alle restlichen Formalitäten in der Fleet Street zu klären, nur um ein weiteres Wort mit der hübschen Empfangsdame des Daily Courant auszutauschen. Es war schon bei ihrer dritten Begegnung, als er sie zu einem Kaffee in ihrer Mittagspause eingeladen hatte. Polly hatte gezögert. Sie kannte diese Art junger reicher Männer, die in ihr ein kurzes Vergnügen sahen und wenn sie das bekommen hatten, was sie wollten, zurück kehrten zu ihren Damen. Doch Matthew war anders. Er meinte es ernst mit ihr. Er behandelte sie nicht wie eine dumme Sekretärin und sie begann ihm zu vertrauen. Sie erzählte ihm von dem Zimmer, das sie bei einer alten Dame gemietet hatte, weil es günstig genug war, um ein bisschen Geld beiseite legen zu können.

„Ich will nach Paris“, hatte sie zu ihm gesagt, „dafür spare ich. Eines Tages kaufe ich mir ein Zugticket und verlasse England. Ich will in einem dieser schönen französischen Kleider an der Seine entlang spazieren, mich in ein Café setzen und die Menschen zeichnen, die mir begegnen.“ Polly war eine begnadete Künstlerin, aber sie verkannte ihr Talent. Einmal hatte sie einen Skizzenblock mit in das Café am Ende der Fleet Street gebracht und Matthew gezeichnet, wie er vor ihr gesessen und sie stillschweigend bewundert hatte. Sie hatten genau dreißig Minuten ehe sie wieder an ihren Empfangstresen musste. Matthew kostete jede Sekunde aus.

„Bestellst du mir noch ein Bier?“, fragte Marty.

„Zuviel Bier ist in deinem Alter nicht gut“, erwiderte Matthew, doch er winkte Mary zu sich herüber, weil er dem Jungen diesen Wunsch nicht abschlagen konnte.

„Bist aber nicht sehr gesprächig heute“, bemerkte Marty und schaute Mary hinterher, die mit gekonntem Hüftschwung wieder davon tänzelte, nachdem sie ihre Bestellung aufgenommen hatte.

„Manchmal gibt es so Tage.“

„Sagt mein Alter auch immer, aber bei dem liegt’s am Schnaps. Du kommst mir aber nicht betrunken vor.“

„Ich heirate eine Frau, die ich nicht liebe“, antwortete Matthew und damit sprach er es endlich aus. Es war genau das, was ihn seit Tagen bekümmerte und ihm den Schlaf raubte. Er hatte es Polly noch nicht erzählt, aber sie würde es wissen. Spätestens in ein paar Tagen würde die Verlobung von Matthew Collins und Susan Wentworth in den Zeitungen stehen.

„Dann heirate sie halt nicht.“ Matthew musste lächeln. Für ein Kind war die Welt so einfach. Er wünschte sich, er wäre auch wieder zwölf Jahre alt und liefe an der Hand seiner Nanny durch den St James Park und füttere die Enten.

„So einfach ist das nicht“, gab er zurück und mit dem nächsten Schluck Bier beschloss er seine Verzweiflung und Trauer in Alkohol zu ertränken.

„Dann lauf weg!“ Weglaufen, er musste gestehen, er hatte auch schon daran gedacht, aber er war nicht der Typ für derlei Wagnisse. Matthew Collins würde sich seinem Schicksal beugen, so wie er es immer getan hatte. Er war kein Kämpfer, keiner, der aus der Reihe tanzte, der etwas tat, was sich nicht gehörte, einfach nur, weil er es tun wollte. Matthew war derjenige, der sich an die Regeln hielt. Nur bei Polly, da war es etwas anderes. Das Verhältnis mit Polly verstieß gegen die Regeln, aber er wagte es nicht, sie noch weiter zu überschreiten. Während er über seinem Bier hockte und ins Leere starrte, mit den Gedanken weit weg, vergaß er die Zeit und auch Marty, dem es irgendwann zu langweilig wurde und der sich verabschiedete, ohne jedoch von Matthew wahrgenommen zu werden. Irgendwann war es Bernie, der ihn unsanft an der Schulter vom dem klapprigen Stuhl hochzog und halb ziehend halb schleppend zurück in die Kutsche verfrachtete.

„Zum Abendessen sollten Sie sich umziehen und frisch machen Mr Matthew“, brummte er nur.

Matthew lehnte den Kopf an die Kutschentür und schloss die Augen. Das Rattern der Räder unter ihm war gleichmäßig und beruhigend und der Schlaf übermannte ihn.

Der Weg über die Southwark Bridge

Подняться наверх