Читать книгу Der Weg über die Southwark Bridge - Lisa Janssen - Страница 9
5. Kapitel
ОглавлениеEs war kurz nach halb sechs als Matthew Collins zügigen Schrittes die Straßen in Belgravia durchquerte. In etwa einer Stunde würde die Sonne untergehen. Er wollte einen der Pferdeomnibusse nehmen, in denen zu dieser Zeit nicht mehr viel los war. An der Straßenecke Belgrave Place und Eaton Square begrüßte ihn ein Mann, den Matthew als einen Freund seines Vaters erkannte, doch er blieb nicht stehen, um ein paar höfliche Worte mit ihm zu wechseln, wie es sich eigentlich gehörte, sondern nickte ihm nur knapp zu und schlug den Kragen seines Mantels höher, um sich gegen den frischen Wind zu schützen. Außer einer alten Frau und einer Mutter mit ihrem Sohn war der Omnibus leer. Matthew zahlte fünf Schillinge für die Fahrt in die City, um von dort das letzte Stück zu Fuß nach Southwark zu gehen. Londons Straßen, eingetaucht in das rötliche Abendlicht, rauschten an ihm vorbei. Die Glocken von Big Ben schlugen zur vollen Stunde. Auf den Straßen in Westminster herrschte noch reges Treiben. Matthew lehnte den Kopf an die kühle Scheibe und blickte nach draußen ohne genau wahrzunehmen wo er sich gerade befand. Er dachte nur an Polly. Würde sie wirklich kommen oder es sich in der letzten Minute doch noch anders überlegen? Aber Polly war eine Frau, die zu ihrem Wort stand. Die Themse lag zu seiner Rechten, ein dunkler Streifen, der sich durch die Stadt schlängelte und auf dem fast genauso viel los war, wie auf den Straßen. Der Omnibus hielt vor der St Paul’s Cathedral und Matthew, die alte Dame und die Mutter mit ihrem Kind stiegen aus. Fröstelnd steckte er die Hände in die Manteltaschen, dann ging er schnellen Schrittes zum Fluss hinunter in Richtung Southwark Bridge. Die Sonne stand schon tief über dem Horizont, er musste sich beeilen. Polly würde nicht allzu lange auf ihn warten. Einmal hatte sein Vater ihn noch spät abends zu einer Besprechung in sein Büro gerufen und Matthew, der wusste, dass er es niemals rechtzeitig zu ihr schaffen würde, hatte den ganzen Abend mit nervös zuckenden Händen vor seinem Vater gesessen. Polly hatte ihm verziehen, natürlich, aber er hatte sich nur schwer selbst verzeihen können. Gedankenversunken rempelte er einen Mann an, der ihm schimpfend hinterher rief, doch Matthew hatte keine Zeit für große Entschuldigungen. Er konnte den hohen Kirchturm der Southwark Cathedral am anderen Flussufer bereits sehen als er durch die letzte Häuserreihe hinaustrat und einen Fuß auf die Brücke setzte. Unter ihm war das dunkle dreckige Wasser, das zum Himmel stank und ihn die Nase rümpfen ließ. Er war etwa auf der Hälfte der Brücke, als er bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Zunächst wusste er nicht, was es war, ihn überkam ein seltsames Schwindelgefühl und es schien ihm, als würde die Brücke unter seinen Füßen wanken. Er rieb sich die Schläfen und kniff kurz die Augen zusammen, doch das Schwindelgefühl ließ ihn nicht los. Langsam tastete er mit der rechten Hand nach dem Brückengeländer und hielt sich daran fest, doch Halt konnte er dort nicht finden. Es war, als ob die Brücke vor seinen Augen verschwinden und dann wieder auftauchen würde, der Boden unter seinen Füßen wegbrechen und ihn in die Tiefe reißen würde. Panisch klammerte er sich an das Geländer und versuchte einen Fuß vor den anderen zu setzen, denn egal welchen Streich ihm sein Gehirn gerade spielen mochte, er musste weiter. Doch es ging nicht. Er bekam es mit der Angst zu tun. Panisch drehte er sich zu beiden Seiten um, doch er war allein. Niemand sonst war auf der Brücke, der ihm hätte helfen können.
„Ganz ruhig“, flüsterte er sich zu, „geh einfach weiter.“ Er schloss die Augen und setzte sich wieder in Bewegung. Ein dumpfes Pochen unter seinen Füßen, ein Hämmern und Surren, wie als wenn sich eine Maschine in Bewegung setzte, ließ ihn erstarren. Die ganze Brücke ächzte und knarrte. Er war inzwischen am Ende des mittleren Bogens angekommen und klammerte sich nur noch verzweifelt an den Pfeiler. Auf einmal bemerkte er jemanden am anderen Ufer, der leicht humpelnd auf ihn zulief. Er musste in großer Eile sein, denn das Humpeln wurde immer schneller. Er stützte sich auf einen Stock und kam genau auf die Southwark Bridge zu.
„Helfen Sie mir!“, schrie Matthew, der zu Boden gesunken war. Plötzlich brach der Handstock zur Seite weg und die Gestalt stürzte zu Boden. Im selben Moment drehte sich die Welt um Matthew. Er hatte das Gefühl oben und unten gleichzeitig zu sein, zu fallen, immer weiter, in die Themse hinein. Er schrie aus Leibeskräften während London in einem Strudel aus Licht und Schatten versank und ihn mit sich riss.