Читать книгу Der Weg über die Southwark Bridge - Lisa Janssen - Страница 12
8. Kapitel
ОглавлениеEr hatte Miss Crowley und Miss Smith versprochen zu der Ausstellung in der National Gallery und der Rede des Königs zu kommen, doch es war weniger das Versprechen, das ihn nun zum Trafalgar Square lockte, als vielmehr der Wunsch dieses neue London kennen zu lernen und vor allem seinen neuen König. Die Angst und die Verzweiflung über sein neues Leben waren einer Neugierde gewichen, die ihn jetzt voll und ganz erfüllte. Matthew war schon ein paarmal in diesem imposanten Gebäude gewesen, obwohl ihn die Kunst nie richtig interessiert hatte. Collins & Sons hatte in den vergangen Jahren eine stattliche Summe für den Erwerb von Gemälden beigesteuert und sein Vater pflegte ein gutes Verhältnis zu Frederick Burton, dem Direktor. Matthew hatte auch einmal die Ehre gehabt ihn kennen zu lernen, doch hatte ihn als einen wenig sympathischen Menschen in Erinnerung. Auf den Stufen vor der Eingangshalle drängten sich die Menschen und berittene Polizisten sorgten für ein einigermaßen geregeltes Durchkommen. An der Kleidung konnte man erkennen, dass es vor allem die gehobenen Bevölkerungsschichten waren, die sich an diesem Tag die Zeit nahmen, den König so nah wie möglich zu sehen. Matthew trug zu seinem neuen Anzug einen Bowler, den er sich auf dem Rückweg von Collins & Sons am gestrigen Tag gekauft hatte, denn ein Mann ohne einen vernünftigen Hut war in seinen Augen auch kein Gentleman und das wollte er immer noch sein. Die Säle waren so voll von Menschen, dass es ein einziges Schubsen und Schieben war, um einen Blick auf die neuen Gemälde zu werfen, die heute zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Es handelte sich hauptsächlich um Werke italienischer Künstler, mit deren Namen er jedoch wenig anfangen konnte. Er schlenderte gemächlich von einem Bild zum nächsten und sah Werke, die er bei seinen damaligen Besuchen noch nicht gesehen hatte. Darum war die Ausstellung für ihn in zweierlei Hinsicht neu. In einem großen Saal am anderen Ende der Gallery war eine Bühne aufgebaut worden und Wachpersonal hatte sich davor aufgestellt. Wenn der König später kam, wurden die Gemälde zur Nebensache. Matthew sicherte sich einen guten Platz im vorderen Drittel und wartete, eingequetscht zwischen einem dickbäuchigen älteren Herrn und einem kleinen Mädchen, darauf, dass der Monarch sich blicken ließ. Plötzlich tippte ihm jemand von hinten an die Schulter und als er sich umdrehte, erkannte er Miss Crowley. Da er zu wenig Platz hatte, um sie anständig begrüßen zu können, murmelte er nur ein freundliches hallo, dass sie mit einem Lächeln quittierte. Miss Smith stand eine Reihe hinter ihr und winkte ihm verhalten zu.
„Haben Sie die Venus vor dem Spiegel gesehen? Es ist eines der berühmtesten Werke der Sammlung“, flüsterte sie ihm zu. Er konnte sich schwach an das Bild im zweiten Stock entsinnen und hoffte, dass sie keine Kunstdebatte mit ihm führen wollte.
„Ja das habe ich. Wirklich äußerst faszinierend“, flüsterte er, mit dem Kopf leicht zu ihr geneigt, zurück. Sie kicherte.
„Ich verstehe nicht viel von Kunst, aber verraten Sie mich nicht“, sagte sie und das machte sie sympathisch und beruhigte ihn ungemein.
„Wissen Sie, worüber der König sprechen wird?“, fragte Matthew neugierig.
„Er wird sicher etwas über Ausstellung sagen und sich bei Mr Holroyd bedanken. Er war es übrigens auch, der die Venus vor dem Spiegel in die National Gallery geholt hat.“
„Mr Holroyd?“
„Der Direktor der National Gallery“, erklärte sie. Matthew nickte verstehend. Scheinbar war Frederick Burton abgelöst worden. Nun, in Matthews Augen stellte dies keinen allzu schmerzlichen Verlust dar.
„Und er wird vermutlich auf die Lage in Europa eingehen, wo doch Deutschland und England am Aufrüsten sind. Ich verstehe nicht viel davon, aber man liest es in den Zeitungen.“ Matthew wollte gerade etwas erwidern, als sich auf dem Podest etwas regte und ein kleiner untersetzter Mann nach vorne trat und sich lautstark räusperte, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu gewinnen. Dann kündigte er in einer näselnden monotonen Stimme den König des Vereinigten Königreichs Großbritanniens und Irlands sowie Kaisers von Indien an, Georg V. Die Menge applaudierte begeistert als Georg V in einer glänzenden dunklen Uniform mit goldenen Knöpfen und einer goldenen Schulterschnüre vor sie trat. Er trug einen wuchtigen Schnauzer und kurzes braunes Haar. Das kleine Mädchen neben Matthew kreischte vor Freude und zupfte dem Mann zu ihrer Linken, von dem Matthew annahm, dass es sich um ihren Vater handelte, aufgeregt am Jackenärmel. Matthew sah seinen König nun zum ersten Mal und doch kam er ihm auf eine seltsame Art bekannt vor, er wusste nur nicht warum. Er glaubte diesen Mann schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Langsam ließ der Applaus nach und die Menschen wurden ruhig, um den Worten ihres Königs zu lauschen. Georg V hatte eine tiefe ruhige Stimme, die in dem großen Saal gut zu hören war. Wie Miss Crowley vermutet hatte, bedankte er sich bei Mr Holroyd für die Ausstellung und betonte den unschätzbaren Wert der National Gallery für die Erhaltung der Kunst. Doch es waren nicht diese Worte, für die die Menschen und die Presse gekommen waren, sondern die über die politische Lage, die viele in Unruhe versetzte. Das Deutsche Reich hatte seit einigen Jahren angefangen aufzurüsten und kein Geheimnis daraus gemacht, dass man expandieren wolle. Die britische Regierung sah dies mit größtem Argwohn und voller Sorge. Die Triple Entente müsse darauf reagieren, erklärte der König und das werde man auch tun. Die englische Flotte solle weiter ausgebaut und Gespräche mit Kaiser Wilhelm II geführt werden. Und dann sagte er etwas, dass Matthew den Atem nahm.
„Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis Europa sich von diesen Lasten befreit, die es auf seinen Schultern trägt. Und wenn es dazu kommt, ist Großbritannien bereit.“ Es waren keine hetzerischen oder besonders aggressiven Worte, doch Matthew hatte das Gefühl, dass er nur eines meinen konnte: Krieg. Er wusste nicht, wie es um die Welt bestellt war, welches Verhältnis Großbritannien zu Frankreich oder dem Deutschen Reich hatte, aber diese Worte beunruhigten ihn. Er drehte sich zu Miss Crowley um, die bleich geworden war. In der Menge begann ein Gemurmel, die Herren steckten die Köpfe zusammen und begannen zu diskutieren. Ohne lange zu überlegen löste er sich aus der Menge und zog sie mit sich. Sie folgte ihm ohne ein Wort und ließ sich von ihm nach draußen vor die National Gallery ziehen. Als er ihr ängstliches Gesicht im Sonnenlicht sah, wusste er, dass er Recht gehabt hatte. Der Frieden war angespannt, zum Zerreißen. Doch es ließ sich nicht sagen, ob es eine Sache von Monaten oder Jahren war, bis sich die Spannungen entladen würden. Von drinnen hörten sie jetzt lautes Klatschen, jubelnde Rufe und Schreie.
„Würden Sie mich noch einmal zu einem Tee begleiten?“, fragte sie leise und daraufhin bot er ihr seinen Arm an, um sie von dem Gedränge wegzuführen. Sie fanden ein kleines gemütliches Café etwas abseits in einer Seitenstraße. Auf dem Weg dorthin hatte sie kein Wort gesagt. Jetzt saßen sie sich gegenüber und er bestellte eine Kanne Tee für sie beide sowie ein Stück Kuchen.
„Mein Vater hat gegenüber meiner Mutter davon gesprochen, dass ein Krieg die einzige Lösung sei, um die Deutschen in die Schranken zu weisen“, erzählte sie plötzlich, blickte aber auf ihre Tasse vor sich. „Er sagte, die Deutschen seien zu arrogant und zu fordernd und dass wir aufpassen müssen, um unsere Stellung in der Welt nicht zu gefährden. Und er sagte, dass dann all die Ungerechtigkeiten in unserem Land vorbei wäre, die Ungleichheit in der Gesellschaft.“ Sie blickte hoch und er sah ihre Angst und Verzweiflung. Er wollte etwas sagen, um sie zu beruhigen, aber ihm fiel nichts Vernünftiges ein. Stattdessen sagte er: „Sie interessieren sich für Politik?“ Ein mattes Lächeln huschte auf ihre Lippen.
„Mehr als für Kunst. Obwohl es sich für eine Dame nicht gehört, sich für Politik zu interessieren. Sind Sie auch der Meinung Mr Collins?“
„Man soll nie den Verstand einer Frau unterschätzen. Das hat meine Mutter immer gesagt, wenn mein Vater ihr nichts von seinen Geschäften erzählen wollte. Und ich finde, dass trifft auch auf die Politik zu.“
„Sie sind seltsam Mr Collins“, sagte sie auf einmal nach einer Weile, in der sie stumm ihren Kuchen gegessen hatten. „Sie kennen das Harrods nicht, sind offenbar noch nie mit einem Omnibus gefahren und auch von der Rede des Königs wussten sie nichts, obwohl es in allen Zeitungen stand.“
„Woher wollen Sie wissen, dass ich noch nie Omnibus gefahren bin?“, fragte er grinsend. Sie zuckte mit den Schultern.
„Man merkt es einfach. Kommen Sie nicht aus London?“ Er überlegte, was er darauf antworten sollte. Die Wahrheit kam nicht in Frage, auch wenn Miss Crowley ihm als eine moderne aufgeschlossene Frau erschien, so würde sie es nur als einen Scherz interpretieren. Also blieb Matthew bei der Geschichte, die sein Vater erfunden hatte.
„Ich war lange Zeit im Ausland, geschäftlich. Ich hatte in Indien zu tun und bin erst vor kurzem zurückgekehrt. Wenn man in Indien mitten in der Wildnis unter Tigern und Elefanten ist, dann fährt man selten Omnibus.“ Er brachte sie zum Lachen und sie schien ihm die Erklärung abzunehmen. Mit Miss Crowley konnte man sich ungezwungen unterhalten und Matthew genoss die Zeit in dem kleinen Café mit ihr, weil es ihn von der Welt draußen ablenkte, die ihm so fremd vorkam. Und doch dachte er an eine andere, wenn er ihr in die Augen blickte: Polly Perkins. Matthew hatte Angst, wenn er sich vorstellte, was wohl aus ihr geworden war, denn bis jetzt schien sein altes Leben eine schlechte Wendung genommen zu haben. Aber die Sehnsucht nach ihr und der Wunsch sie aufzusuchen war größer als die Furcht selbst. Miss Crowley erzählte derweil von ihrer Familie, von ihrem Vater, der als leitender Aufseher in einer der Fabriken im Osten der Stadt arbeitete und damit zwar mehr Geld verdiente als die meisten anderen, aber trotzdem kritisch der Ungleichheit im Land gegenüberstand. Das Geld hatte ihre Mutter mit in die Ehe gebracht. Sie war die Tochter eines angesehenen Regierungsmitglieds und war aufgrund ihrer nicht standesgemäßen Ehe zwar von ihm verstoßen worden, aber er unterstützte sie immer noch. Es handelte sich offensichtlich um einen der wenigen Fälle, in denen die Vaterliebe stärker war als die Angst unter dem Druck der Gesellschaft zu zerbrechen. Matthew wünschte sich einmal mehr, sein Vater hätte dieselbe Stärke besessen. Miss Crowley teilte sich jetzt eine Wohnung mit ihrer Freundin Miss Smith in Spitalfields und arbeitete als Krankenschwester im Royal London Hospital. Sie hatte die Stellung freiwillig angenommen, denn ein Leben, das nur aus den Entscheidungen bestand, welches Kleid man heute anziehen könnte und welche Kekse zum Tee gereicht werden sollten, lag ihr fern. Sie legte ihm in diesem Café ihr halbes Leben offen und Matthew hörte interessiert zu, denn ihre einfache humorvolle Art erinnerte ihn an Polly und das war es, was er an ihr mochte. Nicht das steife unechte Lächeln einer Susan Wentworth oder der anderen Frauen aus der gehobenen Gesellschaft. Als Matthew die Rechnung bezahlte, musste er sich eingestehen, dass er nicht ewig mit dem Geld aus seiner Manteltasche auskommen würde. Und seine Hoffnung, bei seinem Vater bei Collins & Sons wieder da einzusteigen, wo er aufgehört hatte, war durch das unschöne Klicken eines Abzugs beendet worden. Matthew brauchte dringend ein festes Einkommen, doch da er sein Leben lang nie Geldsorgen gehabt hatte und immer mit der Aussicht aufgewachsen war, später neben seinem Vater in der Geschäftsleitung zu sitzen, war ihm diese neue Situation völlig fremd. Als Miss Crowley von ihrem Vater erzählt hatte, war ihm jedoch eine Idee gekommen.
„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber jetzt da ich wieder hier in London bin, brauche ich eine feste Arbeit“, sagte er daher zu ihr. Sie schaute ihn verwundert an.
„Können Sie nicht da arbeiten, wo Sie vor ihrer Indienreise waren?“, fragte sie unschuldig.
„Nun, es gab ein paar Komplikationen“, erklärte Matthew mit einem gezwungenen Lächeln.
„Ich muss gestehen, ich habe nicht viel Erfahrung in Bezug auf harte oder körperliche Arbeit, aber als sie erwähnten, dass Ihr Vater Aufseher in einer der Fabriken am Fluss ist…nun, vielleicht wissen Sie, ob dort eine helfende Hand benötigt wird?“ Miss Crowley überlegte kurz, dann sagte sie: „Ich frage meinen Vater. Irgendetwas ließe sich bestimmt einrichten. Ich kann ein gutes Wort für Sie einlegen, wenn Sie möchten.“ Matthew dankte ihr erleichtert und dann schrieb sie ihm auf die Serviette den Namen der Firma auf, bei der ihr Vater tätig war.
„Melden Sie sich in ein paar Tagen bei Rupert Crowley, so heißt mein Vater. Ich werde in der Zwischenzeit mit ihm reden.“
Mit dem Gefühl, endlich etwas erreicht zu haben, verabschiedete er sich von ihr. Im Sullivan bat er den Wirt darum noch ein paar Tage das Zimmer im oberen Stockwerk behalten zu dürfen, obwohl die Nächte auf der harten Matratze und der Lärm aus den Nebenzimmern ihn nur selten zum Schlafen brachten. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, bis er mit etwas Geld vielleicht ein oder zwei Zimmer irgendwo in der Nähe mieten konnte.
Als Miss Crowley den Namen der großen Fabrik im East End an der Themse aufgeschrieben hatte, hatte Matthew zunächst gestutzt und sich gefragt, wie viele Zufälle im Leben es wohl geben müsste. Aber eigentlich glaubte er nicht an Zufälle, sondern vielmehr an das Schicksal. Es handelte sich um eines der Lager von Wentworth Industries, die ankommende Schiffe aus aller Herren Länder, gefüllt mit exotischen Früchten, Stoffen und Gewürzen, abluden und je nach Empfänger verpackten. Matthew wusste aus den Erzählungen seines ehemaligen Schwiegervaters, dass die Arbeit am Hafen hart, dreckig und undankbar war und dass der Tageslohn eines Hafenarbeiters bei weitem nicht reichte, um auf Dauer eine Familie zu ernähren. Aber Matthew hatte keine Familie mehr, er hatte nur sich selbst und als er jetzt im Halbdunkeln seines Zimmers auf den Zettel starrte mit den Wörtern Wentworth Industries, Halle 5, East End, musste er an die vielen Fahrten mit Bernie in dieses verruchte Viertel denken. Niemals hätte er sich vorstellen können hier zu arbeiten geschweige denn zu leben, aber im Jahr 1912 war so vieles anders, als er es gewohnt war und so erschien ihm selbst die Aussicht in der dreckigen zerlumpten grauen Montur der Hafenarbeiter schwere Kisten durch die Docks zu schleppen nicht mehr als etwas völlig ungewöhnliches. Hinter der Wand gegenüber seines Bettes vernahm er das rhythmische Quietschen des Bettgestells und das Stöhnen einer Frau, aber er hielt sich nicht mehr die Ohren zu wie in der ersten Nacht. Auch hieran hatte er sich wohl oder übel gewöhnt. Er schwang sich noch einmal aus dem Bett und zog die verblichenen Vorhänge vor die Fenster. Dann legte er sich wieder auf die harte Matratze und schloss die Augen. Er hatte einen seltsamen Traum und das schlimmste daran war, dass er Polly sah, die ihm aus der Ferne zuwinkte, aber er konnte sie nicht erreichen. Er versuchte sich zu ihr durch zu kämpfen durch eine Art Sumpf, der ihn immer wieder in die Tiefe zog. Am nächsten Morgen wachte er schweißgebadet auf und musste sich mehrmals einen Schwall kalten Wassers durchs Gesicht spritzen ehe er halbwegs bei Sinnen war. Matthew nahm das Frühstück unten in der Wirtsstube ein. Es war kein Festmahl und nicht annähernd das, was er gewohnt war, aber es reichte, um den Magen für ein paar Stunden zu füllen und das Hungergefühl zu bekämpfen.
Das East End hatte sich auch 20 Jahre später nicht sonderlich verändert. Der Gestank nach Abfall, Industrie und Urin ließ ihn den Hemdsärmel vors Gesicht schlagen, doch wirklich helfen konnte er nicht. Er hatte sich vom Wirt ein altes Baumwollhemd und eine graue löchrige Hose geliehen, die ihm so weit war, dass er sie nur mit Mühe mit einem Gürtel halten konnte. Aber den teuren Anzug von Harrods konnte er schließlich unmöglich hier anziehen. Dicker Qualm stieg aus den langen Schornsteinen der Fabriken in der Nähe der Docks. Wentworth Industries war nur eine von zahlreichen Firmen, die sich am Hafen angesiedelt hatten, aber sie zählte mit Abstand zu den größten. Matthew hatte die Nachricht erhalten sich an diesem Montagmorgen in aller herrgottsfrüh vor dem Pub Captain Jack einzufinden und dort auf einen Aufseher von Wentworth Industries zu warten. Als Matthew vor dem Pub eintraf, tummelten sich dort schon um die 20 Männer, von jungen Burschen von vielleicht höchstens 16 Jahren bis zu älteren Männern mit grauen Haaren. Als Matthew zu ihnen trat, wurde er misstrauisch beäugt und man tuschelte über ihn ohne sich die Mühe zu machen leise zu reden. Matthew war ein Fremder, der sich in ihre Reihen mischte und das schien ihnen nicht zu behagen. Schon bald würde er erfahren, warum ein neues Gesicht nicht gern gesehen wurde. Matthew hatte keine Ahnung, warum er hier vor dem Pub warten sollte, der im Übrigen eher eine dunkle Spelunke war und das Sullivan im Vergleich hierzu wie ein nettes kleines Café wirkte. Aus der offenen Tür drangen laute Stimmen und der Geruch nach alten Zigaretten. Plötzlich torkelten zwei Männer Arm in Arm laut johlend aus der Tür mit je einem Glas Bier in der Hand. Sie kamen direkt auf Matthew zu und schubsten ihn unsanft zur Seite.
„Mach mal Platz Bursche“, lallte einer von ihnen und stieß Matthew grob zur Seite.
„Hey! Prügelnde nehm ich nicht mit“, bellte auf einmal jemand in die Menge und augenblicklich verstummten die Männer und rückten weit ab von Matthew und den beiden Betrunkenen. Ein Mann in einem dunkelblauen Overall bahnte sich seinen Weg zum Pub, in der Hand ein Klemmbrett und eine Zigarette zwischen den Zähnen. Er hatte helles Haar, das platt an seinem Kopf klebte und er zog das linke Bein seltsam nach, als wäre es steif.
„Bei mir gibt’s keine Schlägereien, verstanden?“, schnauzte er Matthew an, dann wandte er sich an die wartenden Männer, die sich in der Zwischenzeit in einer Reihe dicht an dicht aufgestellt hatten.
„Willste nun dazu oder nicht? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und Matthew, der nicht wusste, was hier geschah, stellte sich mit verblüffter Miene an das Ende der Reihe. Die Betrunkenen wankten an seine Seite, konnten sich jedoch kaum aufrecht halten. Einer von ihnen hielt sich an Matthews Schulter fest, den das Ganze zwar anwiderte, der sich jedoch nicht traute den Mann abzuschütteln.
„Also Freunde, großes Handelsschiff aus Asien, etwa zweihundert Kisten Tee müssen abgeladen und ins Lager gebracht werden. Noch Fragen? Ne…also dann ich brauch zehn Männer. Harry, Robert, Fynn und John ihr schon mal.“ Vier von ihnen, gut gebaute junge Burschen, lösten sich aus der Schlange und stellten sich hinter dem Mann auf, von dem Matthew inzwischen annahm, dass es sich um den Aufseher von Wentworth Industries handeln musste. Jetzt ging dieser einen Schritt auf die Reihe zu und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen jeden Einzelnen von ihnen.
„Wo is denn Rupert?“, fragte er während sein Blick auf Matthew ruhte.
„Den hat’s bei der Explosion letzte Woche drüben in den Surrey Docks erwischt. Hat seinen rechten Arm verloren“, antwortete der Bursche namens Robert. Matthew musste hart schlucken. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber bestimmt nicht dies. Er hatte schon öfter in den Zeitungen gelesen, dass Unfälle in den Docks passierten und nicht selten jemand dabei ums Leben kam, aber diese Schlagzeilen waren immer zu weit weg gewesen, um ihn wirklich berührt zu haben. Jetzt stand er also hier und war kurz davor in eben jenen Fabrikhallen zu arbeiten, die dunkel, feucht und voller Ratten waren. Der Aufseher deutete jetzt mit seinem dreckigen Zeigefinger auf einen Mann nach dem anderen, der sich aus der Reihe löste und mit einem zufriedenen Grinsen in den kleinen Kreis der Auserwählten trat. Matthew verstand nun, warum er hier war und warum man ihn so feindselig betrachtete. Mit ihm verringerte sich die Chance jedes Einzelnen für den heutigen Tag Arbeit zu bekommen und damit das Geld, das sie so dringend brauchten. Vermutlich gab es noch andere Treffpunkte, aber wenn sie hier abgewiesen worden waren, war es vermutlich längst zu spät, um noch woanders sein Glück zu probieren. Matthew hatte kein Glück, der Aufseher ging ohne ein Wort an ihm vorbei. Es war nicht so, dass er nicht kräftig war, aber offenbar sah man ihm an, dass er körperliche Arbeit nicht gewohnt war. Der Aufseher notierte sich die restlichen Namen auf seinem Klemmbrett und schmiss dann seinen Zigarettenstummel auf den Boden.
„Das war’s für heute, tut mir leid Jungs“, brummte er und trat den Stummel mit der Schuhspitze aus. Matthew war verwirrt. Miss Crowley hatte ihm zugesagt, dass er eine Arbeit bekommen würde. Dafür war er schließlich hier und er würde sich nicht einfach so wieder nach Hause schicken lassen, nur weil dieser Aufseher ihn offenbar als nicht geeignet empfunden hatte.
„Sir, ich muss mit Ihnen reden“, fing Matthew an und trat dem Aufseher in den Weg. Der grinste hämisch.
„Warum denn so förmlich, Sir“, äffte er ihn nach. Die anderen Männer stimmten in lautes Gelächter ein. Matthew ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Ich hab die Zusage bekommen, dass ich hier eine Arbeit erhalte. Das ist alles mit Mr Crowley abgestimmt, Ihrem Vorgesetzten nehme ich an.“ Dem Aufseher schienen Matthews Worte überhaupt nicht zu gefallen, wurde er doch vor all den Männern bloß gestellt und in seiner Autorität untergraben.
„Hör mal zu, so läuft das hier nicht. Entweder du hast Glück und kommst auf die Liste oder nicht. Ich hab meine zehn Leute und mehr brauche ich nicht“, sagte er kalt.
„Nun ich sprach mit Miss Crowley, die ihren Vater ausdrücklich darauf hingewiesen hat und erst vor ein paar Tagen erhielt ich die Zusage, dass ich hier abgeholt werde.“ Der Aufseher knirschte mit den Zähnen und blickte ihn abschätzig an.
„Haste dich also an die Kleine vom Chef rangemacht, hm? Linke Tour, sag ich dir.“ Er spuckte direkt vor Matthews Schuhen auf den Boden. Dann kramte er aus seiner Brusttasche einen kleinen zerknüllten Zettel, den er langsam entfaltete.
„Matthew Collins?“, fragte er. Matthew nickte. Dann schlug er einen Zettel auf seinem Klemmbrett um und machte sich eine Notiz.
„Na schön Bursche, siehst nicht so aus, als wenn du zu gebrauchen wärst, aber wenn Mr Crowley das meint.“ Man sah ihm an, dass man offensichtlich nicht um seine Meinung gebeten hatte und die restlichen Männer, die abgewiesen worden waren, fingen nun lautstark an zu protestieren. Allen voran die beiden Betrunkenen, die mit erhobenen Fäusten auf Matthew zuliefen.
„Ruhe!“, brüllte der Aufseher wieder und die Menge gehorchte. Schließlich gab er Matthew und den anderen zehn einen Wink ihm zu folgen. Matthew blickte sich noch einmal zu den wütenden Gesichtern um und wusste, wenn er einem von ihnen allein begegnen sollte, würde er diese Geschichte bitter bereuen.
Das Lagerhaus am Pier, in das man ihn brachte, war genauso, wie Matthew es sich vorgestellt hatte. Eine riesige Halle, in der unzählige Männer beschäftigt hin und her liefen, Kisten schleppten, Waren auspackten, mit Zettel und Stift durch die Reihen gingen und die Arbeit der anderen kontrollierten. Er war froh, dass es sich nur um ein Lager handelte und er nicht in eine der stinkenden Fabriken schuften musste, obwohl der Gestank nach Fisch und dem dreckigen Wasser der Themse auch hier nicht Halt machte. Der Aufseher, von dem Matthew auf dem Fußmarsch hierher erfahren hatte, dass er Joe hieß, teilte ihn einer Gruppe von Männern zu, die die Kisten vom Pier bis zum Lagereingang schleppen mussten. Es waren genau fünf Mann, die rauchend auf dem Pier standen und auf Anweisungen warteten. Matthew kam sich mehr als fehl am Platz vor, doch er bemühte sich, nicht allzu sehr aufzufallen. Zwei von ihnen stammten offenbar nicht aus England, denn sie sprachen mit gebrochenem Akzent und er hatte Mühe überhaupt zu verstehen, was sie wollten. Der dritte war etwa in seinem Alter, ein Rothaariger mit vielen Sommersprossen, der gerade lautstark lachte, als Matthew zu ihnen trat. Die anderen beiden waren schon älter und einem von ihnen fehlten an der linken Hand zwei Finger.
„Guten Morgen, wieder einer von den Glücklichen“; begrüßte ihn der Rothaarige und reichte ihm die Hand. Matthew, überrascht von der Freundlichkeit, schüttelte sie frohen Mutes und stellte sich vor.
„Ich bin Jim, aber alle nennen mich Jimmy. Das sind Angelo und Giovanni, Oliver und Sam“, antwortete der Rotschopf und wies dann auf seine Kollegen.
„Ihr werdet nicht für’s Quatschen bezahlt“, ertönte die herrische Stimme von Joe hinter ihnen.
„Jim, zeig dem Neuen, was er zu tun hat, wenn er’s denn hinbekommt.“ Er lächelte süffisant und Matthew wandte sich ärgerlich ab, um sich eine der schweren Kisten zu packen. Die ersten drei Kisten erschienen ihm noch leicht. Die Strecke von der Abladestelle des Schiffs bis zum Lagereingang war zum Glück nicht allzu lang, aber mit jeder weiteren Kiste wurden seine Arme schwerer und er sehnte sich nach einem Schluck Wasser. Joe hatte Recht. Er war nicht für diese Arbeit geschaffen, sondern für den Job in einem Büro. Das bekam er nun zu spüren. Die viel zu weite Hose stellte ein zusätzliches Hindernis dar, denn er musste sie immer wieder hochziehen und einmal wäre er beinahe mit einer vollen Kiste über den Hosensaum gestolpert. Er konnte sich noch gerade fangen und hielt stockend an, sodass Jimmy direkt von hinten in ihn hineinlief.
„Mensch, du kannst doch nicht einfach stehen bleiben! Hast noch nicht oft in den Docks gearbeitet oder?“ Jimmy war ihm nicht böse und lief zwinkernd mit der Kiste mühelos auf die Schulter gestützt an ihm vorbei. Der Gong zur Mittagspause war für Matthew wie eine Erlösung und er ließ sich ohne nachzudenken dort auf den Boden nieder, wo er gerade stand. Jimmy winkte ihn zum Lager herüber und mit einem Stöhnen hievte er sich wieder auf die Beine und schlurrte in die Halle, wo an einer Wand dutzende von Arbeitern saßen und rauchten oder aßen. Jimmy nahm gerade einen gewaltigen Bissen von einem Brot, das er aus der Hosentasche gekramt hatte. Matthew hatte nichts dabei. Er musste zugeben, er hatte überhaupt nicht daran gedacht, sich etwas einzupacken. Als Jimmy seinen hungrigen Ausdruck bemerkte, riss er einen Bissen ab und hielt ihn Matthew entgegen. Dieser zögerte, denn der Anstand lehrte ihn, dem jungen Mann nicht auch noch das Bisschen wegzuessen, was er besaß.
„Nun komm schon, ich hab eh nicht viel Hunger.“ Jimmy hielt ihm den Brothappen weiter unter die Nase bis Matthew ihn dankend annahm und dann gierig verschlang.
„Erzähl mal, wo kommste her. Hab dich hier noch nie gesehen“, fragte Jimmy zwischen zwei Bissen.
„Ähm nein, ist das erste Mal, dass ich hier arbeite. Ich war sonst in der Bank beschäftigt, aber …“, Matthew zögert, „sie haben mich entlassen.“ Angelo stieß ein überraschtes Pfeifen aus.
„Das hört man“, sagte Jimmy und stopfte sich jetzt den Rest in den noch vollen Mund, sodass er nur mit Mühe kauen konnte.
„Was hört man?“
„Na dass de nicht von hier bist. Du sprichst so fein. Wie die Herrschaften aus dem West End. Kommste da weg?“ Matthew fuhr sich mit den Fingern durch die blonden nassgeschwitzten Haare und überlegte was er sagen sollte.
„Ja ich bin dort aufgewachsen, aber jetzt nicht mehr. Ich hab ein Zimmer im Sullivan, aber die Miete zahlt sich schließlich auch nicht von selbst.“ Jimmy grinste ihn an.
„Ärger mit den Alten gehabt?“ Matthew blickte ihn verwirrt an, bis er verstand, dass Jimmy offenbar von seinen Eltern sprach.
„Sozusagen.“
„Meine haben mich rausgeschmissen, weil sie meinten aus mir wird eh nichts. Ich wollte Tischler werden, ne anständige Lehre machen, weißte. Naja, am Ende haben sie wieder mal Recht gehabt. Jetzt geht’s mir nicht besser als ihnen. Aber zumindest hab ich den Job hier sicher und muss nicht jeden Morgen mit Angst aufstehen, ob ich heute was verdiene oder nicht.“ Ein zweiter Gong ertönte und rief sie wieder zur Arbeit. Matthew rieb sich die verkrampften Muskeln in den Armen und trottete hinter Jimmy und den anderen wieder nach draußen. Er musste diese Männer bewundern, die tagein tagaus bei jedem Wetter hier auf den Docks die schwerste Arbeit verrichteten, die Matthew sich nur vorstellen konnte. Und dabei gehörte das Schleppen von Kisten noch zu den erträglichsten. Direkt neben der Lagerhalle befand sich eine Fischfabrik, die ebenfalls zu Wentworth Industries gehörte und aus deren Fenster und Türen ein ekelerregender Gestank kroch, den Matthew glaubte nie mehr aus der Nase zu bekommen. Es war nach sechs Uhr, als der Feierabendgong ertönte und Matthew sich mit letzter Kraft in die Schlange stellte, um seinen Lohn zu bekommen. Joe hockte hinter einem wackeligen Holztisch in der Halle und drückte jedem ein paar Münzen in die Hand.
„Haste noch Lust auf ein Bier?“, fragte Jimmy, der direkt hinter ihm stand. Matthew zuckte zunächst mit den Schultern, was ihm üble Schmerzen verursachte und nickte dann.
„Ich kenn auch nen besseren Pub als den ollen Jack.“ Jimmy verwuschelte sich die roten Haare, die in dicken Locken vom Kopf abstanden. Als Matthew endlich an der Reihe war und vor Joe trat, der ihn immer noch abschätzig anblickte, sagte dieser: „Morgen selbe Zeit, selber Ort. Anweisung vom Chef.“ Jimmy, der offenbar mitgehört hatte, klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
„Da haste Glück, ist sowas wie ne Jobgarantie. Sowas kriegen nur Leute, die fleißig arbeiten oder ein Stein im Brett beim Chef haben.“ Matthew wusste, dass er diese Arbeit nur Miss Crowley zu verdanken hatte und nicht seiner besonderen Begabung oder seinem Fleiß. Aber das sagte er nicht laut, denn er erinnerte sich an die Reaktionen der Männer vor dem Pub. Solche Leute wie er, die nur über gute Beziehungen an die wenigen Arbeitsplätze kamen, waren nicht gut angesehen, nein, mehr als das, sie waren verhasst. Und er konnte es ihnen nicht mal übel nehmen. Matthew fühlte sich verschwitzt, dreckig und erschöpft als er mit Jimmy und Angelo in einen Pub am Hafen einkehrte, sich in einer Ecke niederließ und sich neben dem Bier auch etwas Warmes zu Essen bestellte. Seine Hände, die ohnehin noch nicht ganz verheilt waren von dem merkwürdigen Zwischenfall auf der Southwark Bridge, hatten wieder angefangen zu bluten und er wischte sie an der Hose ab. Der Pub war mit Hafenarbeitern nur so überfüllt. Scheinbar war es Sitte nach getaner Arbeit ein Bier zu trinken oder sich richtig zu betrinken, um das ganze verdreckte Leben zu vergessen, das die meisten im East End führten. Matthew kannte diese Leute aus dem Ten Bells, aber hier mitten unter ihnen zu sitzen, war etwas anderes. Er trug nicht seinen feinen Mantel und Zylinder, draußen warteten nicht Bernie und die Kutsche und er war nicht der Gentleman, auf den die Frauen zuliefen und an dessen Tisch sie sich setzten. Er war nicht mehr als das Gesindel um ihn herum. Jimmy hob seinen Bierkrug und stieß mit ihm an.
„Also dann Matthew, auf deine neue Stelle. Glaub mir an Hinke-Joe gewöhnt man sich.“
„Hinke-Joe?“
„So nennen wir ihn. Er ist missmutig, schlecht gelaunt, arrogant, kurz gesagt ein Scheißkerl, aber er ist fair.“
„Wie hat er sich die Verletzung zugezogen?“
„Weiß nicht genau, war ein Arbeitsunfall, soviel steht fest. Aber der alte Crowley hat ihn als Aufseher behalten. Soviel Glück muss man erstmal haben.“
Matthew, der halb am Verdursten war, stürzte sein Bier in zwei großen Zügen hinunter.
„Warum hast du keine Lehre als Tischler gemacht?“, fragte er Jimmy irgendwann. Der zuckte mit den Schultern.
„Naja, angefangen hab ich ja, das zählt doch auch schon mal, ne? Hab Mist gebaut, da ham se mich rausgeschmissen.“ Matthew musste an Charles denken, der häufig Mist gebaut hatte und sein Vater war jedes Mal vor Wut an die Decke gesprungen, aber hinausgeworfen hatte er ihn nie. Matthew konnte es sich nicht vorstellen, wie es war, plötzlich auf der Straße zu stehen und von vorn anfangen zu müssen. Aber eigentlich, gestand er sich ein, wusste er es inzwischen doch. Jimmy war ein wirklich netter aufgeweckter Bursche und er erinnerte Matthew ein wenig an Marty, der vermutlich genauso sein würde wie Jimmy, wenn er älter wäre. Marty. Er musste jetzt auch ein junger Mann sein, sogar älter als Matthew selbst. Was wohl aus ihm geworden war? Hatte er es geschafft aus dem East End rauszukommen, sich von seinem Vater zu lösen? Matthew hoffte es inständig, aber recht dran glauben konnte er nicht. Es waren schmerzliche Erinnerungen an die letzten Tage, die in diesem Moment auf ihn einprasselten und er musste sich beherrschen, um nicht einfach in Tränen auszubrechen. Warum hatte es gerade ihn getroffen? Warum nicht irgendjemand anderen? War er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Oder war es sein Schicksal in jener Nacht auf der Southwark Bridge in die Zukunft gerissen zu werden? Plötzlich kam ihm das Bild der Gestalt mit dem Gehstock wieder in den Sinn, die eilig auf ihn zugelaufen, aber dann gestürzt war. War sie es gewesen, die an seiner statt auf der Brücke hätte sein sollen? Oder war sie ihm einfach nur zur Hilfe geeilt, weil er geschrien hatte? Letzten Endes war es auch egal, denn er saß hier fest und kein anderer.
„Alles gut Matthew?“ Jimmy hatte seinen traurigen Gesichtsausdruck bemerkt. Matthew nickte und erhob sich. Er hätte nie gedacht sich einmal auf die harte Matratze in seinem Zimmer zu freuen, aber jetzt gerade wünschte er sich nicht sehnlichster als einfach die Augen zu schließen und in seinen Träumen zu versinken. Jimmy winkte ihm fröhlich nach als er den Pub verließ.
Am nächsten Morgen hätte er beinahe verschlafen, wenn der Wirt nicht lautstark an seine Tür geklopft hätte. Matthew war dem brummigen Mann mehr als dankbar und schlüpfte in Windeseile in die übergroßen Klamotten. Es waren dieselben zwanzig Männer wie am gestrigen Tag, die vor dem kleinen Pub am Hafen auf Hinke-Joe warteten, wie ihn Matthew jetzt auch im Stillen nannte. Die Blicke, die sie ihm zuwarfen, waren noch feindseliger, aber nur der Umstand, dass der Aufseher jeden Moment aufkreuzen und sie bei einer Schlägerei sehen könnte, hielt sie davon ab Matthew in die Mangel zu nehmen. Als Hinke-Joe auftauchte mit seinem Klemmbrett unter dem Arm und der Zigarette im Mund, war es für Matthew ein vertrautes Bild, obwohl es schließlich erst sein zweiter Tag war. Das Leben der einfachen Bevölkerung war eben eintönig und schlicht. Und so wurde Matthew neben Harry, Robert, Fynn und John als erstes aufgerufen und konnte ohne Furcht die Auswahl der anderen beobachten. Joe würdigte ihn keines Blickes und das war Matthew deutlich lieber als noch der hämische kalte Ausdruck von gestern. Jimmy und die anderen vier warteten bereits vor der Halle und begrüßten ihn gutgelaunt. Es erschien Matthew seltsam, wie sie nach all den Jahren immer noch jeden Morgen fröhlich hier stehen konnten. Doch die meisten wirkten nicht annähernd so wie die vier. Grimmige verhärmte Mienen, Flüche, laute Befehle und die dumpfen Geräusche aus den Fabriken waren das eigentliche Bild, das die Gegend prägte. Matthews Arme und Schultern schmerzten immer noch und seine Hände hatte er mit einem alten Leinenstoff umwickelt, damit die Wunden nicht ein zweiten Mal aufplatzten. Alles in allem erwartete er von der ersten Sekunde an sehnlichst den Gong zur Mittagspause und nach dem Mittag den Gong zum Feierabend. Am Abend forderte ihn Jimmy wieder auf mit in den Pub zu gehen und Matthew, der zwar müde und geschafft war, sich aber freute in Jimmy einen netten Kollegen kennengelernt zu haben, folgte ihm erneut in die Wirtsstube. Er hatte das Gefühl heute war es noch voller als am vorherigen Abend und auf seine Nachfrage hin erklärte Jimmy, dass jeden Dienstag die hübsche Mary auf dem Klavier spielte und dann waren die Männer natürlich noch betrunkener und noch fröhlicher. Bei dem Namen Mary musste Matthew an die Kellnerin aus dem Ten Bells denken und als er schließlich in derselben Ecke wie zuvor Platz nahm und durch die grölenden Männer hindurch zum Klavier blickte, erkannte er tatsächlich ihren braunen Lockenkopf und die schmale Taille. Er musste zugeben, sie war etwas grau geworden und ihre Taille war nicht mehr ganz so schlank, aber eine Augenweide war sie immer noch. Es war auszuschließen, dass sie ihn nach all den Jahren wiedererkannte, aber da er es nicht drauf ankommen lassen und unangenehme Fragen aus dem Weg gehen wollte, beschränkte er sich darauf am Tisch sitzen zu bleiben während Jimmy laut singend durch den Pub lief und mit einem anderen Mann ein Ständchen schmetterte. Matthew musste laut lachen bei dem Anblick der beiden und als Jimmy ihn sah, lief er auf ihn zu und zerrte Matthew zu sich in die Mitte des Raumes.
„Na los, stell dich nicht so an. Is lustig.“ Das sommersprossige Gesicht glühte vor Aufregung und Hitze, dann schlang er Matthew einen Arm um die Schulter und wies Mary an sein Lieblingslied zu spielen. Jemand drückte ihm einen Schnaps in die Hand und feuerte ihn an mitzusingen und Matthew, dicht umdrängt von schwitzenden stinkenden Leibern, beflügelt von dem Schnaps und dem Bier, schlang jetzt ebenfalls seinen Arm um Jimmys Schulter und begann mitzusingen. Er kannte das Lied, hatte es schon mehrfach im Ten Bells gehört und stand Jimmy so in nichts nach. Die beiden wurden begeistert beklatscht und immer mehr stimmten in ihren Gesang ein. Es war ein einziges Gelage und Matthew mittendrin. Irgendwann wusste er nicht mehr wie spät es war oder überhaupt wo er war, aber das scherte ihn nicht. Es musste weit nach Mitternacht sein als die beiden aus dem Pub stolperten, sich freundschaftlich auf die Schulter klopften und jeder in seine Richtung taumelte. Im Nachhinein betrachtet, grenzte es fast an ein Wunder, dass Matthew unbeschadet den Weg zum Sullivan fand, obwohl er nicht mehr genau sagen konnte, welchen Weg er genommen hatte. Das Einzige, was ihm noch im Kopf hängen geblieben war, war das Bild eines alten Mannes, der neben der Tür des Sullivan gestanden und ihn dabei beobachtet hatte, wie er mühsam die zwei Treppenstufen hochgetaumelt war. Doch ob es sich wirklich so zugetragen hatte, sei dahingestellt. Wieder war es der Wirt, dessen Hämmern an die Tür ihn am nächsten Morgen weckte und als er beim Frühstück saß und mit flauem Magen auf sein Toast starrte, gab ihm der Wirt unmissverständlich zu verstehen, dass es das letzte Mal war, dass er Matthew geweckt hatte. Und das Geld für das Zimmer würde auch noch ausstehen. Matthew kramte seine letzten Münzen beisammen und musste sich eingestehen, dass die abendlichen Pubbesuche seinem Geldbeutel nicht guttaten. Und seinem Kopf ohnehin nicht. Die stechenden Kopfschmerzen und die Übelkeit begleiteten ihn auf dem Weg zum Hafen und noch jemand schien ihm zu folgen. Matthew beschlich das Gefühl, dass er beobachtet wurde. Doch als er sich mitten auf der Straße umdrehte, konnte er niemand bestimmtes erkennen. Schulterzuckend schrieb er diese Wahrnehmung dem Restalkohol in seinem Blut zu und trottete weiter.