Читать книгу Der Weg über die Southwark Bridge - Lisa Janssen - Страница 7
3. Kapitel
ОглавлениеMatthew stieg die knarrende Holztreppe an der Seite des Hauses hinauf, die zu der kleinen Dachgeschosswohnung führte, die Polly bei Mrs Walton, einer rundlichen fröhlichen Frau, gemietet hatte. Von Wohnung konnte man derweil kaum sprechen. Es handelte sich vielmehr um zwei kleine Zimmer. In dem ersten standen ein schmales Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen sowie eine Holztruhe, in der Polly ihre wenigen Habseligkeiten verwahrte. Sie sagte immer, wenn sie eines Tages nach Paris ginge, dann könne sie nicht so viel mitnehmen. Daher genüge ihr diese Truhe. Matthew hatte laut lachen müssen, als sie es ihm erzählt hatte, doch sie meinte es ernst. Das zweite Zimmer war eigentlich so gut wie nicht bewohnbar. Mrs Walton bewahrte dort einige ihrer Sachen auf, doch zeitgleich hatte sie auch Polly gestattet es zu nutzen. Polly hatte hier ihre Bilder untergebracht.
Als Polly die Tür öffnete und ihn erkannte, warf sie sich ihm sofort um den Hals, obwohl sie sich vorher vorgenommen hatte, es nicht zu tun. Sie hatte nie damit gerechnet, dass er nicht kommen würde, als Bernie ihr den Brief gebracht hatte und daher beschlossen den Abschied so kurz und schmerzlos wie möglich zu halten, wenn er denn schon kommen würde. Doch als er jetzt hier vor ihr stand, warf sie all ihre Überlegungen über den Haufen und lehnte den Kopf an seine breite Brust.
„Du hättest nicht kommen sollen“, sagte sie mit halber Überzeugung.
„Ich weiß“, flüsterte er. Dann beugte er sich zu ihr hinab und küsste sie zärtlich. Eng umschlungen stolperten sie in die Wohnung und Matthew ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Sie warfen sich auf das schmale Bett unter dem Dachfenster und Matthew wünschte sich, dass dieser Moment ewig dauern würde, dass er nie wieder diese kleine Dachgeschosswohnung verlassen und dass er nie Susan Wentworth heiraten müsste. Er strich ihre langen Haare glatt, die in den Lichtstrahlen, die durch das Fenster fielen, wie Gold aussahen. Sie lagen nebeneinander, betrachteten das Gesicht des anderen und die Welt um sie herum schien für einen winzigen Moment innezuhalten, um die zwei Liebenden nicht zu stören.
„Es ist das letzte Mal“, flüsterte sie und strich ihm eine Wimper von seiner rechten Wange. Er antwortete nicht.
„Ich will dich zeichnen“, sagte sie plötzlich und nur ungern ließ Matthew von ihr ab, doch sie löste sich sanft aus seiner Umarmung. Sie holte ihren kleinen Skizzenblock und einen Bleistift aus dem Nebenzimmer, zog sich einen Küchenstuhl heran und setzte sich im Schneidersitz darauf. Matthew richtete sich lachend auf, lehnte sich dann seufzend mit dem Rücken gegen die Wand, sodass das Abendlicht auf sein Gesicht fiel. Dann begann Polly zu zeichnen. Die blau grauen Augen unter den langen hellen Wimpern, die blonden Haare, die jetzt etwas zerzaust vom Kopf abstanden, das kleine Grübchen am Kinn, das weiße Hemd, das er jetzt offen trug, die breiten Schultern, die sich darunter abbildeten.
„Mein Vater sagte mir, ich solle dich vergessen“, sagte Matthew irgendwann, „aber das kann ich nicht. Ich will dich nicht vergessen.“ Sie blickte von ihrer Zeichnung hoch und betrachtete ihn traurig.
„Matthew, ich bin nicht eine von den Frauen, die sich von den reichen Herren aushalten lassen, das weißt du. Ich will nicht zwischen dir und Miss Wentworth stehen, ich will nicht, dass du wegen mir Ärger mit deinem Vater bekommst. Matthew, ich habe die Zeit wirklich genossen, aber wir wissen beide, dass es jetzt vorbei ist. Du hättest nicht kommen sollen.“ Ihre Worte taten weh, doch er wusste, dass sie Recht hatte. Polly hatte es nicht verdient, wie eine Mätresse behandelt zu werden, wie die vielen Frauen, die wie eine Hure von den vornehmen Herren ausgehalten wurden, wenn sie von ihrer Ehefrau genug hatten. Es war ihm wie sein halbes Leben vorgekommen, die Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, dabei waren es genau neun Monate gewesen. Neun Monate, in denen sie Hand in Hand durch die Straßen geschlendert waren, fernab von den vornehmen Gegenden, um unentdeckt zu bleiben. Am Anfang hatten sie sich einen geheimen Treffpunkt überlegt. Es war die Southwark Cathedrale am Südufer der Themse in der Nähe der Southwark Bridge. Die Kirchentür war nie verschlossen und so hatte sie ihm eines Tages einen Zettel in die Manteltasche gesteckt, bevor sie wieder zur Arbeit musste mit den Worten: Southwark Cathedral, bei Sonnenuntergang, in der letzten Bankreihe. Sie hatten nur dort gesessen und den Geräuschen der Nacht gelauscht, die durch die offene Tür zu ihnen drangen, dem Wind, der um den Kirchturm pfiff, die Krähen, das Knarzen des Holzes, wenn sie sich bewegten. Der Einzige, der von diesen Treffen wusste, war Bernie. Er ließ die Hintertür, durch die Matthew unbemerkt davonschleichen konnte, offen und schloss sie im Morgengrauen, wenn er zurückkam hinter ihm ab. Ein kurzes Nicken zwischen den beiden Männern, dass alles geklappt hatte, dann war Matthew die Treppe hinaufgeschlichen und hatte sich leise in sein Zimmer begeben. Neun Monate waren viel zu kurz, um Polly Perkins auch nur annähernd gut kennen zu lernen, doch er würde nicht die Möglichkeit bekommen, etwas daran zu ändern.
„Es ist fertig!“ Sie stand auf und setzte sich wieder neben ihn. „Ich will, dass du die Zeichnung immer bei dir trägst, als Andenken an mich. Wirst du das tun?“
Er blickte in sein eigenes Gesicht auf dem Blatt Papier und sah darin den Schmerz, der ihn erfüllte.
„Ich verspreche es.“
Sie legte ihren Kopf auf seinen rechten Arm und starrte über sich in den inzwischen dunklen Himmel.
„Mein Vater hat mir die Sternbilder erklärt, als ich ein kleines Mädchen war, aber ich habe schon wieder so viel vergessen, dass es mich traurig macht“, erzählte sie. Matthew lehnte sich ebenfalls zurück und blickte nach oben, doch er sah nicht die Sternbilder, die sie ihm jetzt versuchte zu erklären. Er sah sich selbst, wie er in einem schwarzen Frack, mit einer Blüte im Knopfloch vor den großen Türen von Westminster Abbey stand und seiner Verlobten entgegenblickte, die in einem langen weißen Kleid an der Hand ihres Vaters langsam auf ihn zuschritt. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, denn ein Schleier umhüllte es. Er wurde immer aufgeregter, er hörte eine Kapelle spielen, die Menschen klatschten und jubelten. Dann stand sie vor ihm. Mit zitternden Händen hob er den Schleier hoch und blickte in Pollys strahlende Augen.
„Wir fahren nach Paris!“
Polly hielt verdutzt inne und drehte sich dann auf die Seite, um ihn ansehen zu können.
„Wir fahren nach Paris“, wiederholte er laut, „du und ich. Ich kaufe dir ein Kleid und wir werden in einem gemütlichen Café an der Seine sitzen und du wirst die Menschen zeichnen.“
„Matthew, ich…“ Doch er ließ sie nicht ausreden. Mit einem Mal war er Feuer und Flamme für diese Idee. Er, Matthew Collins, der nie seinem Vater widersprochen, nie etwas wirklich gewagt hatte in seinem Leben, war drauf und dran London den Rücken zu kehren und Hals über Kopf mit seiner großen Liebe das Land zu verlassen. Und ihm gefiel diese Vorstellung. Er konnte vor sich das fassungslose Gesicht seines Vaters, das belustigte und anerkennende Grinsen seines Bruders sehen und auch das heimliche zufriedene Lächeln von Susan Wentworth. Dieser Gedanke füllte ihn mit einem Mal aus, beflügelte ihn und ließ ihn all die Vorsicht und Umsicht vergessen, die sonst sein Leben bestimmt hatten. Es war wie eine Käfigtür, die sich plötzlich öffnete und die ihm einen Weg in ein neues Leben schenkte.
„Matthew, das kannst du nicht tun!“, warf Polly ein, doch er hörte sie schon wieder nicht. Seine Gedanken kreisten um die große Stadt Paris, wie er mit Polly Arm in Arm am Fluss entlangspazieren konnte. Die Seine war bestimmt schöner, als die dreckige stinkende Brühe in der Themse. Der Himmel blauer, die Menschen freundlicher, das ganze Leben bunter und wunderbarer.
„Matthew!“ Sie musste fast schreien, damit er sich zu ihr umdrehte und ihr zuhörte.
„Es geht nicht, hörst du, das ist verrückt!“
„Das ist es ja gerade! Es ist verrückt!“ Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie sanft. Als seine Lippen sich langsam wieder von den ihren lösten, sagte sie leise: „Geh jetzt!“
Matthew stolperte wie blind durch die Straßen auf dem Weg nach Hause. Er war immer noch berauscht von seinem neu gewonnenen Mut und der Überzeugung, er könne doch noch einem öden Leben davonkommen. Bernie musste noch wach sein, wie immer, wenn Matthew durch die Hintertür in den Dienstbotentrakt schlüpfte. Bernie saß am Küchentisch, vor sich ein Bier und war eingedöst. Ein Kerzenstummel brannte schwach und das Wachs war auf den Tisch getropft. Morgen früh würde Mrs Simpson, die Köchin, vor Wut rasen und nach dem Übeltäter suchen. Matthew schüttelte den Kutscher unsanft wach. Schlaftrunken schreckte er hoch. Als er Matthews glühende Wangen und seinen aufgeregten Blick sah, grinste er.
„War’s gut Mr Matthew?“, fragte er schelmisch.
„Mehr als das Bernie. Ich habe beschlossen nach Paris zu gehen.“ Bernie kratzte sich verwirrt am Hinterkopf.
„Paris? Was wollen Sie denn in Paris? Mich würden keine zehn Pferde zu den Froschessern bringen, das sag ich Ihnen.“
„Bernie, ich meine es ernst. Ich kann Miss Wentworth nicht heiraten, ich kann mein Leben nicht damit verbringen an der Seite einer Frau zu sein, die kein Wort mit mir wechselt, die mich verächtlich anblickt, als sei es meine Schuld.“
„Die wird schon mit Ihnen reden Mr Matthew. Aber Paris? Mein Gott, so weit weg!“ Dann blickte er ihn ernst an. „Sie wollen mit Miss Perkins Reißaus nehmen, hab ich Recht? Schlafen Sie ne Nacht drüber Mr Matthew und morgen wird Ihnen das genauso absurd vorkommen wie mir gerade.“ Bernie pustete die Kerze aus und stellte sie zurück in den Schrank über dem Spülbecken.
„Ich geh jetzt schlafen, muss morgen früh raus. Mrs Collins will ein paar Besorgungen machen.“
„Bernie?“ Der Kutscher drehte sich im Türrahmen noch einmal um.
„Wenn ich wirklich gehen sollte, schließen Sie dann noch einmal die Tür hinter mir?“ Matthew konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, doch er wusste, dass er auf ihn zählen konnte.
„Natürlich Mr Matthew“, antwortete er, „gute Nacht!“