Читать книгу Der Weg über die Southwark Bridge - Lisa Janssen - Страница 11
7. Kapitel
ОглавлениеMai bis Dezember 1912
Matthew hatte nicht vor hier zu bleiben. Er wollte so schnell wie möglich wieder zurück ins Jahr 1892 und er dachte sich, dort, wo dieser Alptraum begonnen hatte, musste er auch wieder enden. Also machte er sich auf den Weg zur Southwark Bridge. Auf den Straßen drängten sich die Autos, Straßenbahnen und rote Omnibusse ohne Pferde schlängelten sich zwischen ihnen hindurch. Er war angespannt und doch, ganz langsam, begann er fasziniert seine Umgebung zu betrachten. Ein Zeitungsjunge lief laut schreiend an ihm vorbei und versuchte seine Zeitungen an den Mann zu bringen. Matthew lief ihm hinterher und kaufte ihm eine ab. Er dachte, dann hätte er ein Souvenir aus der Zukunft und musste im selben Moment über sich schmunzeln. Der Junge starrte verwundert auf den Penny.
„Ist eine Sonderprägung“, erklärte Matthew rasch und ging schnell davon. Plötzlich erspähte er in der Ferne die riesigen Ausmaße einer Klappbrücke. Der mittlere Teil war gerade vollständig hochgeklappt und ein Schiff passierte die Brücke. Matthew blieb staunend stehen und verstand erst nach einer Weile, dass es sich um die Tower Bridge handeln musste. Er kannte sie nur als mit Gerüsten umgebenes Stahlkonstrukt, halb fertig. Die Tower Bridge sollte ein Meisterwerk werden und er hatte ihrer Fertigstellung von Anfang an entgegengefiebert. Sie jetzt ganz plötzlich in ihrer vollen Pracht hier vor sich zu sehen, ließ sein Herz vor Freude höher schlagen.
„Sie können doch nicht einfach mitten auf der Straße stehen bleiben“, schimpfte ein Mann, der ihm in den Rücken rannte. Verärgert richtete er seinen verrutschten Bowler zurecht, musterte Matthew mit einem abschätzigen Blick und konnte es auch nicht lassen ein paar Schritte weiter erneut einen Blick über die Schulter zu werfen. Matthew starrte weiterhin gedankenversunken die Tower Bridge an. Und mit einem Mal erschien es ihm fast wie ein Geschenk, dass er die Chance bekommen hatte, vor allen anderen von seinen Freunden und Bekannten die Brücke in ihrer vollen Pracht zu erleben. Er könnte ihnen stolz davon berichten, obwohl es ihm natürlich keiner glauben würde. Er selbst glaubte noch nicht wirklich daran. Aber diese Fantasien, die er sich gerade ausmalte, konnten nur Wirklichkeit werden, wenn er wieder zurückkam und daran musste er als allererstes denken. Er ging weiter an der Themse entlang, betrachtete die dicht befahrene London Bridge, die ihm breiter vorkam, als er sie in Erinnerung hatte. Und dann war sie vor ihm, die Southwark Bridge. Er blickte sie eine Weile an, sah den Menschen entgegen, die über die Brücke auf ihn zukamen, den Wagen und Bussen. Die Brücke lag fest und starr vor ihm, so wie es sich für eine Brücke gehörte. Dann betrat er sie. Er glaubte im ersten Moment, der Schwindel würde ihn erneut packen, sobald er einen Fuß auf sie setzte, aber das tat er nicht. Matthew hatte einen klaren Kopf, abgesehen von dem leichten Schmerz durch die Wunde an seiner Stirn. Doch nichts geschah. Hinter den Dächern von Southwark neigte sich die Sonne langsam dem Horizont entgegen. Vielleicht musste er wieder bis zum Sonnenuntergang warten? Schließlich war es gestern auch um diese Zeit passiert, obwohl gestern natürlich der falsche Ausdruck war, schließlich lagen zwanzig Jahre dazwischen. Er lief bis zum mittleren Bogen und legte die Hand auf das Brückengeländer. Pochenden Herzens lehnte er sich über die Brüstung und starrte in die tiefen Fluten unter ihm. Die Londoner liefen an ihm vorbei, keiner kümmerte sich um den jungen Mann in der verschmutzten Kleidung, der sich über das Geländer beugte und verzweifelt darauf wartete, dass etwas geschah, irgendetwas. Doch nichts passierte. Matthew wurde immer nervöser. Musste er etwas Bestimmtes tun, etwas sagen? Er hatte keine Ahnung und das verstärkte seine Verzweiflung nur noch mehr. Er hatte keine Ahnung, wie zum Teufel er ins Jahr 1912 geraten war.
„Kann ich Ihnen helfen Sir?“, hörte er hinter sich die Stimme eines Mannes, „es gibt bestimmt eine bessere Lösung als zu springen.“ Matthew wurde erst jetzt bewusst, wie tief er sich über das Geländer gebeugt hatte. Jemand musste geglaubt haben, er wolle sich in die Themse stürzen! Rasch trat er einen Schritt zurück und sah sich einem Mann etwa in seinem Alter gegenüber, in der Kleidung eines einfachen Arbeiters und mit einem Hut auf dem Kopf. Der Mann musterte ihn immer noch besorgt.
„Mir geht es gut, danke“, antwortete Matthew.
„Sie sehen blass aus. Geht es Ihnen wirklich gut?“, fragte er weiter.
„Doch doch, mir geht es gut“, versuchte Matthew den Mann zu beruhigen, aber er fühlte sich schlapp und müde. Die Sonne war fast am Horizont versunken. Die Southwark Bridge war fest unter seinen Füßen. Es gab kein Zurück, dachte er plötzlich und diese erschreckende Erkenntnis, die jetzt von ihm Besitz ergriff, schnürte ihm den Brustkorb zu und ließ ihn keuchend nach Luft schnappen. Musste er jetzt für den Rest seines Lebens hier bleiben? Hatte er zwanzig gottverdammte Jahre verpasst?
„Ich nun, ich bräuchte eine Unterkunft für eine Nacht. Wissen Sie zufällig, wo ich ein freies Zimmer in der Nähe bekommen kann?“, wandte sich Matthew wieder an den Mann. Das erste, was er brauchte war ein Dach über dem Kopf. Er hatte Geld in seiner Manteltasche, eigentlich für die Reise mit Polly, aber jetzt musste er eine Bleibe für die Nacht suchen. Er hatte nur für eine Sekunde an sein Zuhause in Belgravia gedacht, doch was würde sein Vater sagen, wenn er so unvermittelt vor ihm stünde? Und darüber hinaus verspürte Matthew nicht mehr die Kraft für solch einen langen Weg durch diese fremdgewordene Stadt.
„Natürlich Sir, im Sullivan müsste noch was frei sein, die haben immer ein paar Zimmer zu vermieten. Nichts großes, aber wenn es Ihnen reicht. Es ist ganz in der Nähe, gehen Sie einfach…“
„Danke, ich kenne das Sullivan“, sagte Matthew. Es war ein billiger Pub mit ein paar Zimmern unter dem Dach. Keine Absteige für einen Matthew Collins, aber das war vor zwanzig Jahren gewesen. Jetzt war es ihm egal. Er sehnte sich nach einem Bett, wollte nur die Augen schließen und wenn er sie wieder öffnete in seinem großen bequemen Bett am Belgrave Place liegen. Der Mann blickte ihm noch nach als er den Weg zurück lief. Das Sullivan befand sich in der Nähe der Fleet Street. Er war ein paar Mal daran vorbei gelaufen, wenn er Polly besucht oder geschäftlich bei einer der vielen Zeitungen vorbeigeschaut hatte. Betreten hatte er den Pub jedoch noch nie. Die Schenke war im Grunde genommen nicht mehr als ein schmaler Durchgang mit ein paar Tischen auf der linken Seite und dem Tresen auf der rechten. Das Sullivan war gut besucht, alle Tische waren besetzt und auch an der Theke tummelten sich ein paar Männer mit einem Bier in der Hand. Er bahnte sich einen Weg durch den schmalen Pub bis zur Theke und ließ sich auf einem freien Hocker nieder. Der Wirt starrte ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Misstrauen an. Trotz der verschmutzten und zum Teil gerissenen Kleidung erkannte er in Matthew einen Gentleman.
„Was darf’s denn sein Sir?“, brummte er und wischte mit einem dreckigen grauen Lappen über seinen Tresen.
„Ich hätte gern ein Zimmer, nur für eine Nacht“, sagte Matthew und hoffte inständig, der Wirt habe noch etwas frei, denn allmählich fielen ihm die Augen vor Müdigkeit zu. Der Wirt grinste plötzlich und auch die Männer neben ihm stimmten in lautes Gelächter ein.
„Hast die Kleine noch nicht mitgebracht? Kommt wohl noch nach, was! Wenn Sie Zeit hat, darf sie gerne auch mal bei mir vorbei schauen“, lachte einer von ihnen spöttisch bis Matthew klar wurde, was sie von ihm dachten. Ärgerlich wandte er sich wieder dem Wirt zu.
„Haben Sie nun ein Zimmer oder nicht?“
„Kommen Sie mit.“ Er schmiss den Lappen beiseite und trottete hinter seiner Theke hervor. Am Ende des Pubs führte eine Holztreppe in das obere Stockwerk und dort in einen schmalen Gang mit vier Türen.
„Hinten rechts ist frei. Macht dann fünf Schillinge die Nacht.“ Der Wirt hielt ihm fordernd die Hand entgegen und Matthew kramte in seinen Taschen nach Geld.
„Wenn’s mal raschelt, keine Sorge. Sind nur die Ratten.“ Er grinste wieder, dann stieg er die Treppe hinab. Der Raum bestand nur aus einem schmalen Bett und einer Kommode, auf der eine Schüssel und ein Krug mit Wasser standen. Es erinnerte Matthew stark an Pollys Wohnung, aber dieser Gedanke schmerzte ihn, sodass er ihn schnell wieder verdrängte. Er legte sich in seinen Klamotten auf das knarrende Bett und starrte an die Decke. Schimmel breitete sich an einer Seite aus und ein merkwürdiger dunkler Fleck direkt über ihm, ließ ihn sich vor Ekel auf die Seite drehen. Das Haus war so hellhörig, dass er das Quietschen eines Bettgestells hinter der Wand gegenüber vernahm und von unten drangen die Stimmen aus dem Pub zu ihm hinauf. Hier lag er also, gestrandet in einer anderen Zeit, allein und ohne Hoffnung, zurückzukehren. Wie er die Sache auch drehte und wendete, er wusste sich keinen Ausweg. Was war in diesen zehn Jahren alles geschehen? Was war aus Polly geworden? Hatte sie einen anderen Mann kennen gelernt? Und aus seinen Eltern, gab es Collins & Sons noch? Und die Frage, die ihn am meisten beschäftigte, was war mit ihm selbst? Wenn er im Jahre 1912 war, dann musste er in seiner Zeit plötzlich wie vom Erdboden verschluckt sein, man würde sich fragen, was aus ihm geworden war. Er drehte sich auf die andere Seite. Es gab eine Möglichkeit, dass alles herauszufinden, schließlich war er immer noch am selben Ort, in London, nur zu einer anderen Zeit. Er könnte ganz einfach nach Belgravia fahren und nachsehen. Was musste sein Vater denken? Vermutlich würde er ihm eine Standpredigt halten, er hätte seine Pflichten als zukünftiger Ehemann und Leiter von Collins & Sons vernachlässigt. Doch das musste Matthew morgen herausfinden. Jetzt überfiel ihn die Müdigkeit und die Anspannung, die er seit seinem Erwachen in sich getragen hatte, wich langsam aus seinem Körper. Mit einem kleinen verkrampften Lächeln auf den Lippen schlief er schließlich ein.
Er stellte sich zu den anderen Menschen in die Schlange an der Haltestelle für einen dieser roten Omnibusse in der Nähe des Pubs. Er war etwas nervös, aber offensichtlich schien fast jeder Londoner mit diesen roten Wagen zu fahren. Er dachte an den Pferdeomnibus, mit dem er in die City gekommen war und wenn er jetzt an diese motorisierten schnellen Dinger dachte, wurde ihm ganz flau im Magen. Trotzdem stand er jetzt hier zwischen zwei Frauen in der Schlange, die sich über ihn hinweg lautstark unterhielten. Matthew hatte am Morgen versucht mit dem Wasser auf seinem Zimmer sein Aussehen einigermaßen wieder herzurichten, die Kleidung glatt zu streichen und den Blutfleck aus seinem weißen Hemd zu waschen. Er war eher mäßig erfolgreich gewesen. Auf seiner Stirn hatte sich über Nacht ein großer unschöner Bluterguss entwickelt, den er nicht einmal mit seinem Zylinder verdecken konnte. Den musste er auf der Brücke verloren haben. Stattdessen hatte er sich das blonde Haar mit den Fingern ins Gesicht gekämmt und war zumindest damit einigermaßen zufrieden. Die Frau in der Schlange vor ihm warf ihm einen kurzen Blick zu, errötete leicht, als sie sah, dass er es bemerkt hatte und drehte sich dann hastig um.
„Verzeihen Sie“, sagte Matthew amüsiert zu ihr, „ist das die Kutsche, ich meine ähm Omnibus in Richtung Westen? Ich muss nach Belgravia.“ Sie weitete etwas überrascht die Augen als sie sich ihm wieder zuwandte, nickte dann aber.
„Ja, er fährt bis zum St James Park, bis dahin sind es sieben Haltestationen. Dort können Sie umsteigen oder den Rest zu Fuß nehmen. Wollen Sie auch zu Harrods?“, fragte sie mit einer lieblichen Stimme. Hinter seinem Rücken hörte Matthew ihre Freundin leise kichern.
„Nun ich…“ Er hatte keine Ahnung was das Harrods war.
„Vom Park aus nehmen Sie dann die Linie drei. Der Bus hält direkt vor dem Eingang. Können Sie gar nicht verfehlen.“ Sie schien den gesamten Fahrplan auswendig zu kennen.
„Danke, aber ich muss gar nicht zum Harolds, ich…“
„Harrods“, verbesserte sie ihn lächelnd, „sagen Sie, ist Ihnen das Kaufhaus kein Begriff? Dann haben Sie wirklich etwas verpasst, stimmt’s Mary?“ Sie beugte sich an Matthew vorbei zu ihrer Freundin, die fleißig nickte.
„Ähm nein tut mir leid.“ Der Omnibus rettete ihn aus dieser peinlichen Lage. Eine Fahrt kostete ihn fünf Pence. Dieser Omnibus war deutlich größer und geräumiger als die kleinen Wagen, die sonst hinter die Pferde gespannt worden waren. Er setzte sich in die zweite Reihe ans Fenster hinter den beiden Freundinnen, die sich immer noch lauthals unterhielten. Unbewusst hielt er sich mit beiden Händen krampfhaft an seinem Sitz fest, als sich der Bus mit einem leichten Ruck in Bewegung setzte. Während der Bus durch die Fleet Street in Richtung Westen fuhr, sah Matthew ein anderes London an ihm vorbei ziehen, ein London, dessen Straßen nicht mehr von Pferden und Kutschen überfüllt waren. Häufig kam ihnen eine Straßenbahn entgegen, die Matthew 1892 nur selten zu Gesicht bekommen hatte. Er sah Schilder der London Underground an Plätzen, wo zuvor noch keine gewesen waren. In zwanzig Jahren hatte sich so viel verändert, dass er glaubte, diese Zeit niemals aufholen zu können. London war moderner, schneller und lebhafter, als er es sich je hätte ausmalen können. Ein lautes Kichern von der Sitzbank vor ihm, riss ihn aus seinen Gedanken. Die junge Frau hatte sich zu ihm umgedreht und schaute ihn mit glühenden Wangen an. Sie hatte ein rundliches hübsches Gesicht mit kleinen Sommersprossen auf der Nase. Matthews Mutter wäre darüber entsetzt gewesen.
„Ich habe mich gefragt, ob Sie Interesse daran hätten mit zu Harrods zu fahren. Ich meine, wo sie es doch noch nie gesehen haben“, sagte sie schüchtern, „also ich verstehe, wenn sie zu beschäftigt sind, also vielleicht auf einen Tee.“
„Nein, also ich meine, ich bin nicht beschäftigt. Ich würde mich freuen“, sagte Matthew und fragte sich im selben Augenblick, was ihn dazu veranlasst hatte ja zu sagen. Er war auf dem Weg zu seinen Eltern, er musste wissen, was mit ihnen geschehen war! Aber es reizte ihn, diese völlig neue Welt kennen zu lernen, angefangen mit einer Fahrt in einem motorisierten Bus! Und die junge Dame lächelte ihn so freundlich an, dass er als Gentleman, der er immer noch war, dieses Angebot nicht ausschlagen konnte.
„Mein Name ist übrigens Susan Crowley. Das ist meine Freundin Samantha Smith.“
„Matthew Collins, sehr erfreut.“ Sie hörte gar nicht mehr auf zu lächeln und er wunderte sich, dass sie ihn nicht fragte, ob er zu Collins & Sons gehörte, wie jeder es getan hatte, mit dem er das erste Mal geredet hatte. Vermutlich interessierte sie sich nicht allzu sehr für Banken und das Geschäftsleben. Am St James‘ Park stiegen sie in einen anderen Bus und Matthew, völlig fasziniert von den Straßen, lief wie blind hinter den beiden Frauen her. Doch als er vor dem Kaufhaus in der Brompton Road stand, konnte er vor Staunen den Mund nicht schließen. So etwas wie Harrods hatte er noch nicht gesehen. Schon im Eingangsbereich wurde er förmlich erschlagen von den Menschenmassen, die sich in das Kaufhaus drängten und als er einen Fuß in die erste Halle setzte, die bis unter die Decke mit der neuesten Mode, Strümpfen, Hüten, Mänteln, eleganten Anzügen für den Herren, kurz, mit allem was der Mann von Welt und die moderne Frau sich wünschen konnte. Er kam sich noch schäbiger vor, als er ohnehin schon aussah und fasste ohne lange zu überlegen den Entschluss sich mit einem neuen Anzug aus dem Jahre 1912 einzudecken. Miss Crowley und Miss Smith berieten ihn vorzüglich, als er ihnen erklärte, sich seinen ersten Anzug bei Harrods kaufen zu wollen. Matthew probierte einen dunklen Tweed-Anzug an mit einer Hose, die an der Seite eine für ihn völlig neue Bügelfalte hatte. Dazu eine passende Krawatte und Weste sowie ein Paar dunkelbrauner Schuhe. Er betrachtete sich im Spiegel, drehte sich lächelnd hin und her und war zufrieden mit seinem Äußeren. Als er dem verblüfften Verkäufer das Geld in die Hand drückte und ihm erklärte, er wolle den Anzug sofort anbehalten, fingen die Damen erneut an zu kichern. Wieder musste Matthew an seine Mutter denken oder auch an Mrs Wentworth, die solch ein Verhalten als wenig damenhaft empfunden hätten. Aber genau das machte die beiden so charmant und herzlich. Dachte Matthew, er hätte mit der riesigen Modeabteilung bereits alles gesehen, wurde er eines besseren belehrt. Im zweiten Stockwerk bot Harrods seinen Kunden eine Vielzahl an in- und ausländischen Köstlichkeiten aus aller Herren Länder an. Neben edelster Schokolade, exotischen Früchten oder frischem Fisch duftete es nach frischem Brot und seltsamen Gewürzen. Matthew sah Obst und Gemüse, das ihm völlig fremd war und er sog die feine Note der Gewürze ein, die in großen Schalen dargeboten wurden. Miss Collins deckte sich mit einigen Lebensmitteln ein, dann winkten sie ihn weiter in das nächste Stockwerk. Mit jeder Etage war Matthew der Meinung, er könnte nicht noch einmal überrascht werden, aber jedesmal lag er falsch. Im oberen Geschoss befand sich ein gemütliches Café, in das sie sich an einem runden Tisch in der Mitte des Raumes setzten. Sie bestellten Tee und Gebäck und Matthew kam sich völlig verloren vor in diesem riesigen Gebäude, das wie eine eigene kleine Welt war.
„Und wie gefällt Ihnen Harrods?“, fragte Miss Crowley nach einer Weile, in der sie stillschweigend ihren Tee getrunken hatten.
„Wirklich überwältigend! Ich kann nicht glauben, dass ich all die Jahre nicht hier gewesen bin.“ Ja, das konnte Matthew wirklich nicht glauben, dachte er im Stillen.
„Und Sie kommen aus Belgravia?“, fragte sie neugierig. An seiner vorherigen schäbigen Kleidung hatte sie ihm vermutlich diesen Satz nicht abgenommen, aber jetzt, nachdem es sich gezeigt hatte, dass er sich einen teuren Anzug von Harrods leisten konnte, erschien er ihr in völlig anderem Licht. Matthew wusste indes nicht so recht, was er sagen sollte. Schließlich hatte er keine Ahnung, ob er das Haus am Belgrave Place immer noch sein Zuhause nennen konnte.
„Ich habe Verwandte dort“, entschied er sich für eine kleine Lüge. Sie lächelte ihn wieder an.
„Seltsam, ich hatte auch entfernte Verwandte in Belgravia, vielleicht kennen Sie sie ja sogar. George und Sybille Wentworth.“
Matthew lief es kalt den Rücken hinunter und erschrocken setzte er seine Teetasse so heftig auf, dass der Tee über den Rand schwappte. Er saß hier am Tisch mit einer Verwandten seiner Verlobten? Von all den Menschen, die er hätte treffen können, ausgerechnet sie? Dann kam Matthew der Gedanke, dass Miss Crowley um einiges jünger sein musste. Susan Wentworth war jetzt um die vierzig. Vielleicht hatten sie nie ein sonderlich enges Verhältnis gehabt. Hastig nahm er seine Serviette und tupfte den Tee von dem weißen Tischtuch. Ein unschöner brauner Fleck blieb zurück.
„Ja ich kenne sie“, sagte er zögerlich. Miss Crowley seufzte tief.
„Schrecklich oder? Wie konnte nur so etwas passieren?“ Als sie seinen verdutzten Blick bemerkte, führte sie aus: „Ich meine natürlich den Untergang der Titanic. Sybille Wentworth und ihre Tochter waren auf dem Schiff.“ Wieder kam es ihm so vor, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengegend versetzt. Dann waren sie tot? Er konnte es nicht fassen. Es kam ihm so unwirklich vor. Erst vorgestern hatte er sie noch gesehen. Sie hatten zusammen im Wohnzimmer gesessen und die letzten Details für die Feier besprochen und heute waren sie nicht mehr am Leben. Aber dann fiel ihm ein, dass keine zwei Tage vergangen waren, sondern zwanzig Jahre.
„Mr Collins!“ Sie beugte sich besorgt zu ihm rüber. „Wussten Sie das nicht? Ich wolle Ihnen diese tragische Nachricht nicht auf so eine ungeschickte Art vermitteln. Das tut mir aufrichtig leid.“ Sie wirkte verstört und fühlte sich schuldig, dass sie einen Mann, den sie gar nicht kannte, so unverblümt angesprochen hatte. Matthew schluckte heftig. Eigentlich hätte er über diese Nachricht erfreut sein müssen! Das hätte bedeutet, er wäre ihr entkommen, aber dann dachte er daran, was wäre gewesen, wenn Polly nicht in die Southwark Cathedral gekommen, er nicht geflohen, sondern Susan geheiratet hätte? Dann wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach auch auf der Titanic gewesen und mit ihr unter gegangen. Dieser Gedanke versetzte ihn in Panik. Das Leben war eine Abfolge von Zufällen und Entscheidungen und wie er es auch betrachtete, es war sein Schicksal, dass er nicht auf diesem Schiff gewesen war, sondern jetzt hier im Harrods mit zwei Damen an seiner Seite Tee trank.
„Was ist mit George Wentworth?“, sagte er leise.
„Er ist nicht mitgefahren. Er wohnt immer noch in dem Haus. Sybille und ihre Tochter wollten Verwandte in New York besuchen. Ein entfernter Cousin. Man erzählte mir, dass er angeblich Susan heiraten sollte, nachdem ihre erste Verlobung geplatzt ist.“ Matthew musste sich unwillkürlich räuspern. Die Wendung des Gesprächs behagte ihm nicht. Doch ehe er sich noch überlegen konnte, wie er es geschickt in eine andere Richtung lenken konnte, sprang ihm die bisher ruhige Miss Smith zur Seite.
„Morgen findet in der National Gallery eine Ausstellung statt. Angeblich soll der König auch anwesend sein und eine Rede halten. Werden Sie auch kommen?“, wandte sie sich an ihn. Würde er kommen? Er war neugierig darauf, den jetzigen Monarchen zu sehen. Obwohl ihn der Tod von Queen Victoria traurig stimmte.
„Ja, wenn ich es schaffe, werde ich kommen.“ Miss Crowley schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln. Matthew dachte immer noch an Susan. Er hatte sie nie sonderlich gemocht, aber solch einen tragischen Tod bei einem Schiffsunglück, das hatten sie und ihre Mutter nicht verdient. Wie musste es ihr ergangen sein, nachdem sie von ihrem Verlobten, von ihm, sitzen gelassen worden war? Vermutlich hatten ihre Eltern und auch seine die ganze Geschichte tragischer gefunden als sie selbst und innerlich musste sie ihm gedankt haben, dass er verschwunden war.
Er holte seine Taschenuhr heraus und stellte fest, dass sie stehen geblieben war. Sie hatte den Zeitsprung über zwei Jahrzehnte wohl nicht überlebt.
„Müssen Sie schon gehen?“ Miss Crowley hatte seinen Blick bemerkt und ein trauriger Ausdruck war auf ihr Gesicht getreten. Ja, er musste gehen. Er musste herausfinden, was mit seiner Familie geschehen war.
„Es hat mich sehr gefreut Sie kennen zu lernen, Miss Crowley, Miss Smith.“ Er gab den Damen einen Kuss auf die Hand, der Miss Crowley erröten ließ.
„Vielleicht sehen wir uns morgen wieder“, sagte sie.
Vom Harrods war es nur ein kurzer Weg nach Belgravia, den Matthew zu Fuß nahm. Er hatte sich genügend Geld eingesteckt, aber nach dem Kauf des Anzugs wollte er nicht mehr Geld ausgeben als unbedingt nötig. Er wusste schließlich nicht, was ihn noch alles erwartete. Belgrave Place lag noch genauso da wie er es in Erinnerung hatte. Die vornehmen Reihenhäuser mit den kleinen Balkonen, die schwarzen Zäune vor den Eingangstüren und die schmalen Treppen an der Seite jedes Hauses hinunter zu den Dienstboten. Er war aufgeregt, als er jetzt vor die Tür vom Belgrave Place Nummer 18 trat und anklopfte. Es rührte sich nichts. Er versuchte es erneut. Normalerweise war zumindest seine Mutter um diese Zeit zu Hause, wenn sie nicht gerade jemandem einen Besuch abstattete oder James. Er klopfte erneut. Er hörte das Pochen des Klopfers, das in der Eingangshalle wiederhallte, aber niemand öffnete. Dann stieg er die Treppe an der rechten Seite zum Dienstboteneingang hinunter und versuchte es dort. Auch hier rührte sich nichts. Vorsichtig drückte er schließlich die Türklinke hinunter und zu seiner Verwunderung war die Tür offen. Er schlüpfte hindurch und fand sich in dem schmalen Gang wieder, durch den er so oft davongeschlichen war. Immer noch sah er niemanden. Matthew ging weiter, steckte den Kopf durch die Küchentür, doch auch hier keine Menschenseele. Eine Tür weiter war der Aufenthaltsraum für die Bediensteten. Die Tür war verschlossen, aber er konnte Stimmen hören. Als er anklopfte, verstummten sie. Eine laute tiefe Stimme rief ihn herein. Um den langen Holztisch saßen etwa zehn Bedienstete, nach ihrer Uniform zu urteilen vier Hausmädchen, zwei Kammerzofen, zwei Kammerdiener und der Butler sowie die Hausdame. Doch es war nicht James, der ihn hereingebeten hatte. Matthew hatte diese Leute noch nie zuvor gesehen.
„Verzeihen Sie die Störung“, begann Matthew zögernd, „an der Vordertür hat niemand geöffnet. Ich suche Mr Collins, Thomas Collins.“ Eines der Hausmädchen kicherte, verstummte aber sofort nach einem scharfen Blick der Hausdame.
„Dann sind Sie hier falsch, Sir. Dies ist nicht das Haus der Collins, sondern von Mr und Mrs Bates.“ Matthew verstand die Welt nicht mehr.
„Aber dies ist doch Belgrave Place 18. Das ist das Haus von Thomas und Veronica Collins. Ich kann mich nicht geirrt haben!“, sagte er verzweifelt. Der Butler schüttelte den Kopf. Dann beugte sich plötzlich die Hausdame zu ihm hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Butler nickte verstehend und sagte dann zu ihm: „Die Collins haben früher hier gewohnt. Mr und Mrs Bates haben das Haus von Mr Collins übernommen, nachdem er fortgezogen ist.“
„Sie sind weg!“ Erst der Tod von Susan und ihrer Mutter und jetzt das. Matthew zog es den Boden unter den Füßen weg. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Was war passiert?
„Wissen Sie warum sie fortgegangen sind und wohin?“ Der Butler tauschte sich kurz mit der Hausdame aus, die jedoch den Kopf schüttelte.
„Nein tut mir leid.“ Matthew machte ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt und lief den Flur entlang nach draußen. Er setzte sich auf die Treppe und vergrub das Gesicht in den Händen. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, so verloren kam er sich mit einem mal vor. Nichts war mehr, wie er es zurück gelassen hatte. Und zum ersten Mal verwünschte er seinen Plan, mit Polly davonzulaufen. Wenn er hier geblieben wäre, sich nicht wiedersetzt hätte, so wie all die Jahre zuvor, dann wäre die Welt noch in Ordnung, dann säße er jetzt nicht hier auf den kalten Stufen vor seiner Haustür. Eine letzte Chance hatte er noch. Collins & Sons. Der Beamte der Metropolitan Police hatte ihn gefragt, ob er dazugehöre. Demnach musste die Bank noch existieren. Wenn er seinen Vater oder zumindest seinen Bruder finden wollte, dann dort. Er erhob sich entschlossen, wischte sich den Staub von den Hosen und machte sich auf den Weg zurück in die City. Zu Fuß war es zu weit, deshalb nahm er dieses Mal die Straßenbahn. Die Schienenstrecke war viel weitläufiger als er sie kannte, aber inzwischen verwunderte ihn gar nichts mehr. Ein paar Meter vor dem Bankgebäude stieg er aus und ging raschen Schrittes darauf zu, doch schon am Eingang fiel sein Blick auf den heruntergekommenen Schriftzug Collins & Sons über der riesigen Flügeltür zwischen den Marmorsäulen. Matthew betrat das Gebäude. Es gab immer noch die Empfangstische der Sekretärinnen an der rechten Seite, die kleinen abgegrenzten Bankschalter und die große Treppe im Hintergrund, die zu den Besprechungsräumen führte. Doch die meisten Schalter waren verwaist und statt fünf Sekretärinnen, die sonst fleißig am Tippen waren, sah Matthew nur eine an dem mittleren Tisch sitzen und gelangweilt mit ihrer Haarlocke spielen. Das war nicht die geschäftige stolze Bank, die Matthew kannte, die sein Vater und Großvater aufgebaut hatten.
„Ich muss mit Mr Collins sprechen“, sagte er zu der Frau, die genervt zu ihm aufblickte.
„Welchen Mr Collins meinen Sie denn?“
„Thomas Collins!“
„Der ist beschäftigt“, antwortete sie gelangweilt.
„Das ist mir egal! Ich muss sofort zu ihm. Sagen Sie ihm sein Sohn sei hier, Matthew Collins.“ Sie starrte ihn verdutzt an, musterte ihn dann einen Augenblick ehe sie sagte: „Na Sie machen aber Scherze. Der junge Matthew Collins ist in Indien und wie ich weiß noch nicht wieder zurückgekehrt.“ Er war in Indien? Sein Vater musste sich eine Geschichte überlegt haben, um das Verschwinden seines Sohnes so gut wie möglich zu erklären ohne zum Gesprächsthema der Londoner Gesellschaft und der Zeitungen zu werden.
„Dann lassen Sie mich zu Charles Collins, es ist wirklich wichtig!“, sagte er nachdringlich. Vermutlich, um ihn einfach loszuwerden, stand sie seufzend auf und führte ihn die Treppe zu den Büroräumen hinauf.
„Warten Sie hier“, wies sie ihn vor einer Tür an und betrat das Zimmer. Schon nach ein paar Sekunden kam sie wieder heraus und winkte ihn rein. Hastig schlüpfte Mathew durch die Tür und er wusste, wessen Büro dies war. Es war seins. Doch jetzt hockte Charles Collins auf dem Bürosessel hinter dem Schreibtisch, die Füße auf die Platte gelegt und mit einem Stapel Zettel in der Hand, die er dem Moment, als er Matthew bemerkte, wieder beiseitelegte. Die beiden Brüder musterten sich. Charles war gut gebaut, sein Gesicht hatte das jugendliche Aussehen verloren und wirkte schmaler und härter. Ein Oberlippenbart zierte sein Gesicht, den Matthew wahrlich abscheulich fand. Sein Haar trug er etwas kürzer und die Locken hatte er mit viel Pomade geglättet. Das hämische Grinsen war immer noch das alte.
„Matthew Collins, der verlorene Sohn!“, sagte er gehässig, „ist es wahr, was meine Sekretärin mir erzählt hat! Du bist also zurückgekehrt.“ Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und stellte sich Matthew direkt gegenüber. Seine Augen musterten ihn kühl, nahmen jedes Detail vom Haaransitz bis zur Schuhsohle wahr.
„Hast dich gar nicht verändert“, bemerkte er dann, „immer noch der eitle arrogante Bursche von vor zwanzig Jahren.“
„Ich freue mich auch dich zu sehen“, gab Matthew knapp zurück, doch er freute sich wirklich. Sein Bruder war noch genauso fies wie eh und jäh, aber er war hier. Und nur das zählte für Matthew in diesem Augenblick.
„Warst du wirklich in Indien, wie Vater mir weismachen wollte? Ich hab gleich gedacht, dass du dich nur drücken wolltest. Und, hatte ich Recht?“ Matthew knirschte mit den Zähnen. Am liebsten hätte er ihm die Wahrheit gesagt, aber das konnte er nicht.
„Ich war in Indien, geschäftlich.“ Charles hob skeptisch eine Augenbraue, wandte sich dann wieder um und ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder.
„Wo sind Mutter und Vater?“, platzte es aus Matthew heraus, der die Ungewissheit nicht länger ertragen konnte. Charles holte sich eine Nagelpfeile aus einer Schublade und begann ohne Eile an seinen Nägeln herumzuhantieren.
„Mutter ist tot.“ Es war ein Schlag ins Gesicht.
„Nein!“, rief Matthew entsetzt aus. Er konnte das alles nicht mehr ertragen. Es schien, als würde sich die Zeit gegen ihn wenden. Über Nacht war seine Welt aus den Fugen geraten und hatte ihm all das genommen, was ihm früher etwas bedeutet oder was sein Leben ausgemacht hatte. Wenn dies wirklich die Zukunft war, die ihm unter normalen Umständen bevorgestanden hätte, dann konnte er sich glücklich schätzen, all das Leid und das Elend übersprungen zu haben. Und doch machte es die jetzige Situation nicht besser.
„Doch, sie starb ein Jahr nachdem du fort warst an einer Lungenentzündung. Vater war zutiefst betrübt und hat es nach ihrem Tod nicht mehr zu Hause ausgehalten. War nur noch in der Bank. Irgendwann kam er dann auf die grandiose Idee das Haus zu verkaufen. Er lebt jetzt in Covent Garden“, erklärte Charles seelenruhig. Matthew klammerte sich an die Lehne eines Stuhls, um seine zitternden Hände zu beruhigen.
„Und was ist mit dir?“
„Ich bin glücklich verheiratet mit Penelope Stradden.“ Matthew erinnerte sich an sie, es war das Mädchen aus dem Theater.
„Und Matthew, wo warst du nun wirklich? Mir kannst du es doch erzählen.“ Charles zwinkerte ihm zu, sodass Matthew ihn nur verächtlich anschaute. Seinen Bruder hatte er nie besonders gemocht, vielleicht weil Charles im Stillen seinen großen Bruder immer beneidet hatte. Mr Collins hatte seinen ältesten Sohn verwöhnt, denn schließlich war er es, der eines Tages Collins & Sons übernehmen sollte. Charles hatte sich nie damit abgefunden. Doch jetzt war aus ihm ein regelrechtes Biest geworden, der arrogant auf Matthews Stuhl thronte und damit letztendlich doch das erreicht hatte, was er die ganze Zeit über hatte haben wollte.
„Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich wieder hier bin und auf meinen Platz möchte“, erwiderte Matthew kühl. Charles hatte immer noch dieses verächtliche Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte. Er legte die Nagelpfeile beiseite und faltete die Hände auf dem Tisch. Dann starrte er seinem Bruder tief in die Augen.
„Ich sitze jetzt hier, weil du weggegangen bist. So einfach ist das.“ Matthew verlor allmählich die Geduld und die Herablässigkeit seines Bruders und der mangelnde Respekt widerten ihn an.
„Schön“, sagte er schließlich, „das sollte Vater entscheiden.“ Er drehte sich um und wollte aus dem Büro treten, als er hinter sich ein leises Klicken vernahm, das ihn stehen bleiben ließ. Es war das Geräusch eines Abzugs, das Geräusch einer Waffe. Vorsichtig drehte er sich um und sah Charles, der mit einer kleinen Handpistole auf ihn zielte.
„Vater wird nie erfahren, dass sein Lieblingssohn wieder in London ist. Und ich werde nicht zulassen, dass du mir all das wegnimmst, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut habe. Du hast keine Ahnung, wie hart es war, Vaters Vertrauen zu gewinnen, erst recht, nachdem Mutter gestorben ist. Du hast keine Ahnung, wie viel ich hier geschuftet habe, um diesen Platz zu kriegen. Und jetzt verlangst du von mir, das alles einfach so wieder aufzugeben, wieder den langweiligen Job unten in der Halle zu machen? Oh nein, Matthew, so funktioniert das nicht. Einmal draußen, immer draußen.“ Matthew hatte sich nicht gerührt, sondern blickte in den Lauf der Pistole. War sein Bruder wirklich so verrückt ihn zu erschießen?
„Charles, ich…“
„Du wirst jetzt durch diese Tür gehen und Collins & Sons nie wieder betreten, hörst du? Es wird alles so sein, als seist du nie hier aufgetaucht. Ein Wort zu Vater und ich werde persönlich diesen Abzug betätigen!“ Auf Charles Gesicht bildeten sich rote Flecken vor Aufregung und Wut. Er war entschlossen, seinen eigenen Bruder umzubringen, das konnte Matthew jetzt in seinen Augen ablesen. Ehrgeiz und die Gier nach Größerem hatten ihn verdorben. Langsam ging er einen Schritt nach dem anderen rückwärts auf die Tür zu. Die Pistole war immer noch auf sein Herz gerichtet.
„Lebe wohl Charles“, sagte Matthew und die Abschätzigkeit war deutlich in seiner Stimme zu hören. Dann drückte er die Türklinke herunter und mit einem letzten Blick auf das hasserfüllte Gesicht des Mannes hinter dem Schreibtisch verließ er die Bank. Er wusste nicht genau, womit er gerechnet hatte, vermutlich mit einer herzlichen Umarmung, dem Angebot sofort Platz zu nehmen und da weiterzumachen wo er aufgehört hatte, so als wären nicht zwanzig Jahre vergangen sondern eben nur zwei Tage. Es war eigentlich eine lachhafte Vorstellung gewesen. Aber er musste sich darüber im Klaren werden, dass sich diese Zeit nicht einfach so überspringen ließ und dass dies keine Folgen haben würde. Es hatte Folgen. Seine Mutter war an einer Lungenentzündung gestorben, seine Verlobte und Schwiegermutter bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen, Collins & Sons heruntergekommen, sein Vater hatte ein gebrochenes Herz und sein Bruder hatte all dies schamlos ausgenutzt. Und Matthew fragte sich, ob dieser tragische Lauf der Geschichte nur aufgrund seines Verschwindens eingetreten war. Es gab keine Antwort auf diese Frage und dennoch fühlte er sich schuldig. Matthew musste sich eingestehen, dass, wenn er nicht zurückkonnte ins Jahr 1892, er gezwungen war ein neues Leben anzufangen. Er stand da, ohne einem richtigen Dach über dem Kopf, ohne Arbeit und ohne Familie. Es war ein kompletter Neuanfang. Diese Gedanken strömten auf ihn ein während er draußen auf den Stufen von Collins & Sons stand und in die Sonne blinzelte. Die Menschen und die Fahrzeuge rauschten an ihm vorbei wie an jedem anderen normalen Tag auch. Doch es war nichts normal, nicht für Matthew Collins.