Читать книгу Der Weg über die Southwark Bridge - Lisa Janssen - Страница 8
4. Kapitel
ОглавлениеMr Collins hatte beschlossen einen Theaterbesuch mit den Wentworths zu unternehmen. Im Royal Theatre in der Drury Lane gab es heute Abend die Premiere eines neuen Stückes, das von der Presse schon seit Wochen in den höchsten Tönen gelobt wurde. Mr Collins stand vor dem Spiegel in der Eingangshalle und setzte sich seinen Zylinder auf, den im James, der Butler der Collins, gereicht hatte. Mr Collins warf einen prüfenden Blick auf sein Spiegelbild, zupfte an seinem Schnurrbart herum und wies dann James an noch einmal die Schultern seines Fracks zu säubern. Er war ein sehr penibler Mann, der viel Wert auf sein Äußeres legte und auch andere zu einem großen Teil danach beurteilte, wie gepflegt ihr Erscheinungsbild war. Dann holte er die goldene Taschenuhr hervor, warf einen prüfenden Blick darauf und steckte sie schließlich verärgert wieder ein.
„Bernie hat die Kutsche vorgefahren Sir“, sagte James.
„Danke James, wo steckt Charles schon wieder! Holen Sie ihn von oben. Ich will nicht zu spät kommen. Die erste Verabredung mit den Wentworths. Wir sollten keinen schlechten Eindruck hinterlassen.“ James wies eines der Hausmädchen, die am Rande der Halle stillschweigend nebeneinander positioniert waren, an nach Charles zu sehen, der wie immer zu spät war. Matthew stand abfahrbereit neben der Eingangstür und half seiner Mutter mit dem großen Hut, an dessen Spitze eine Pfauenfeder angebracht war.
„Freust du dich schon auf Susan? Du hast sie jetzt über eine Woche nicht gesehen“, fragte sie ihn lächelnd. Matthew zuckte mit den Schultern. Seit seinem Besuch bei Polly hatte ihn sein Vater dermaßen viel in der Bank beschäftigt, dass es Matthew fast so vorgekommen war, als versuche er damit seinen Sohn von allem abzulenken, was auch nur in entferntester Weise nicht mit seiner bevorstehenden Hochzeit zu tun haben könnte. Charles kam nun gemächlichen Schrittes die Treppe hinunter, was ihm einen zornigen Blick seines Vaters einbrachte. Doch ohne ein weiteres Wort marschierte die Familie Collins zur Vordertür hinaus und setzte sich in die Kutsche.
Die Wentworths warteten bereits vor dem Eingang des Theaters, an dem sich eine große Menschenmenge gebildet hatte, die es alle nicht erwarten konnten, endlich ihre Plätze einzunehmen. Kutschen verstopften die Straßen und die Damen versuchten möglichst graziös den Weg über das holprige Kopfsteinpflaster bis zur Tür zu schaffen. Mr und Mrs Wentworth gaben ein ungleiches Paar ab, das etwas Ulkiges an sich hatte. Der rundliche George Wentworth reichte seiner Frau gerade einmal bis zu den Schulterblättern. Sie war eine große schlanke Frau, die mit kühlem Blick den Collins entgegen sah.
„Wir hätten doch die andere Strecke nehmen sollen, anstatt durch den verstopften Trafalgar Square“, schimpfte Mr Collins vor sich hin, weil er es nicht ertragen konnte, dass jemand auf ihn wartete. Susan Wentworth sah genauso hinreißend aus wie ihre Mutter in ihrem grünen Abendkleid und der perlenbestickten Handtasche, die von ihrem Handgelenk baumelte. Nach der Begrüßung schritten die Männer voran, Mrs Collins und Mrs Wentworth hinter ihren Männern her und dann folgten Matthew und Susan, der ihr seinen Arm gereicht hatte, den sie ohne ein Wort des Dankes annahm. Charles bildete die Nachhut.
„Mr Collins! Wie schön Sie im Royal Theatre begrüßen zu dürfen“, wurden sie von einem älteren Herrn empfangen, bei dem es sich um den Direktor persönlich handelte, „man wird Sie in ihre Loge führen.“ Mr Collins war ein gern gesehener Gast in vielen Theatern und Restaurants. Zum Einen weil die Familie Collins einen hervorragenden Ruf in der Londoner Gesellschaft genoss, zum Anderen weil Collins & Sons bei vielen Veranstaltungen Geld stiftete und niemand gern in der Schuld eines Bankhauses stand. Sie saßen weit oben an der rechten Seite und hatten einen hervorragenden Blick sowohl auf die Bühne selbst als auch auf das Gedränge unter ihnen. Matthew nahm zwischen seiner Verlobten und seinem Vater in der ersten Reihe Platz.
„Mögen Sie das Theater?“, wandte er sich, in bester Absicht eine höfliche Konversation zu führen, an Susan. Diese blickte kühl nach vorne und machte sich gar nicht erst die Mühe Matthew anzusehen.
„Es kommt ganz auf das Stück an“, antwortete sie knapp.
„Nun dieses Stück soll wirklich sehr gut werden. Im Daily Courant las ich einen Artikel über den Regisseur und die Hauptdarstellerin Mary Sinclair.“
„Meine Mutter hat mir von dem Artikel erzählt.“
Matthew kam sich lächerlich vor, wie mühselig es war, sich mit seiner künftigen Ehefrau zu unterhalten. Und Susan machte keinerlei Anstalten das Gespräch fortzuführen. Es war eine Erleichterung, als das Licht im Saal gedämpft wurde, die Stimmen leiser wurden und man sich zurück lehnte, um diesen Abend zu genießen. Das Theaterstück erfüllte die hohen Erwartungen, die die Gäste mitgebracht hatten. Matthew war kein großer Theatergänger, aber auch er klatschte begeistert als sich der Vorhang senkte. In der Pause drängten sich die Leute in das große Foyer, um eine Erfrischung zu sich nehmen, um sich auszutauschen und um gesehen zu werden. Das war einer der Hauptgründe, warum die feine Gesellschaft ins Theater, in die Oper oder zu all den anderen Vergnügungen ging, die das West End zu bieten hatte. Die Collins und die Wentworths waren da keine Ausnahme. Sie standen in der Nähe der Bar zusammen mit einem Glas Champagner in der Hand. Die Frauen unterhielten sich über das Stück, Charles war in ein angeregtes Gespräch mit einer jungen Dame vertieft, die er vor kurzem bei einem Dinner einer gemeinsamen Bekannten kennen gelernt hatte. Mr Collins stellte sich dicht neben Matthew.
„Ich möchte, dass du dich morgen mit John Rennie triffst“, sagte er unvermittelt zu ihm. Matthew hatte sich schon denken können, dass die Vorstellung neulich auf der Verlobungsfeier nicht ohne Grund gewesen war.
„Warum?“, hakte er nach.
„John Rennie hat vor Jahren einen hohen Kredit bei uns aufgenommen, im nächsten Monat wird der Restbetrag fällig, aber er ist schon mit den letzten Raten in Verzug. Ich will, dass du mit ihm redest. Man kann dem alten Mann nicht zumuten, zu uns in die Bank zu kommen, deswegen wirst du morgen zu ihm fahren. Die Unterlagen liegen zu Hause in meinem Büro. Du kannst sie dir später noch ansehen.“ Matthew glaubte nicht an die Besorgnis seines Vaters um die Gesundheit von John Rennie. Vielmehr erhoffte er sich von diesem Eindringen in dessen Privatsphäre den Mann unter Druck setzen zu können.
„Was halten die Herren von dem Stück und von der bezaubernden Mary Sinclair“, wandte sich Mr Wentworth ihnen zu.
„Die Fähigkeiten von Miss Sinclair werden doch reichlich überschätzt“, sagte Mr Collins kühl und nach einem kurzen Augenaustausch mit Matthew gab er zu ihm verstehen, dass ihr vorheriges Gespräch beendet war.
„Mr Collins, gehen Sie nicht zu hart mit Englands Künstlern ins Gericht“, erwiderte Wentworth gut gelaunt. Matthew hatte den Eindruck gewonnen, dass sein Vater nicht besonders gut auf den lebhaften kleinen Mann zu sprechen war, aber die Wentworths besaßen viele Fabriken im Osten der Stadt und hatten sich dadurch ein Vermögen erwirtschaftet. Was genau Wentworth Industries produzierte, vermochte Matthew auch nicht zu sagen. Thomas Collins lebte nach dem Grundsatz, dass man nicht den Menschen hinter dem Geld mögen musste, sondern nur das Geld selbst. Der Gong ertönte und ließ sie wieder zurück in den Saal schwärmen.
Der erhoffte gesellschaftliche Effekt, den Mr Collins mit diesem Theaterbesuch bezwecken wollte, war ihm gelungen. Für Matthew hatte er eine gezwungene Konservation mit Susan bedeutet, die ihn in seinem Bestreben, mit Polly London zu verlassen, nur noch bestärkt hatte.
John Rennie junior wohnte mit seiner Frau in einem der vornehmen Stadtvillen im Stadtteil Mayfair. Mayfair hatte sich in den letzten Jahren zu einer der besten Adressen der Stadt entwickelt und jeder, der etwas auf sich hielt und sich dieses Ansehen auch leisten konnte, besaß eines der wundervollen Stadthäuser. John Rennie, als begnadeter Architekt, musste jedes Mal das Herz aufgehen, wenn er durch diese Straßen ging, dachte sich Matthew. Er kannte sich hier ein wenig aus, denn ganz in der Nähe befand sich auch der Schneider seines Vaters. Mit einem Aktenkoffer unter einem Arm geklemmt und einem Regenschirm in der Hand stieg Matthew aus der Kutsche in den strömenden Regen, der seit dem frühen Morgen eingesetzt hatte. Auf dem kurzen Weg bis zur Eingangstür, die zum Glück durch einen schmalen Balkon geschützt war, war er in zwei Pfützen gestiegen und sein Hosensaum war schmutzig und durchnässt. Ärgerlich klopfte er an die Tür und wurde schon ein paar Sekunden später hinein gebeten. John Rennie saß noch im Speisezimmer und aß zu Mittag. Matthew entschuldigte sich vielmals und bot an so lange im Salon zu warten, doch Rennie rief ihn schon durch die offene Tür zu sich herein. Als Matthew auf dem Weg in das Esszimmer eine Spur aus Wasser und Dreck hinterließ, hörte er hinter sich den Butler laut die Nase rümpfen. Der alte Mann saß allein an einer langen Tafel in einem geschmackvoll eingerichteten hellen Zimmer, dessen hohe Fenster zur Straße hinaus zeigten.
„Mr Matthew, ich darf Sie doch so nennen, oder? Bei Mr Collins muss ich immer an Ihren Vater denken“, begrüßte er ihn fröhlich und stand langsam, auf seinen Stock gestützt, auf, um ihm die Hand zu reichen.
„Lassen Sie sich nicht durch mich stören. Ich bin heute etwas spät mit dem Essen. Wollen Sie auch noch etwas?“, bot er ihm an, doch Matthew lehnte dankend ab.
„Ihr Vater schickt Sie also, bei unangenehmen Dingen lässt er Ihnen den Vortritt, habe ich Recht?“ Er zwinkerte ihm zu und Matthew, der die Worte nicht abstreiten konnte, ohne dabei zu lügen, setzte sich nur.
„Wie geht es Ihrer Verlobten?“ Rennie ließ sich stöhnend wieder am Tisch nieder und aß weiter.
„Ganz gut.“ Er warf Matthew einen verstehenden Blick zu.
„Glauben Sie mir, die meisten Ehen werden nicht aus Liebe geschlossen, sondern aus reinem Eigennutz, aus gesellschaftlichem Zwang oder Habgier. Ich war nicht besser, als ich meine Frau heiratete, aber inzwischen kann ich nicht mehr ohne sie leben.“ Er zwinkerte ihm zu. Matthew, dem es unangenehm war, über seine Ehe mit Susan zu sprechen, räusperte sich und holte die Unterlagen aus seinem Aktenkoffer.
„Mr Rennie, es geht um Ihren Kredit in Höhe von 50.000 Pfund. Im nächsten Monat wird der Restbetrag fällig von 10.000 Pfund und wir sind besorgt über ihre noch ausstehenden Zahlungen. Da Sie und ihre Familie treue Kunden von Collins & Sons sind, hat mein Vater Ihnen ein Angebot ausgearbeitet bezüglich der Restsumme. Wenn Sie sich das einmal anschauen würden.“ Er schob ihm die Mappe zu, doch Rennie lehnte sich in seinem Stuhl zurück und tupfte sich den Mund mit einer Stoffserviette ab.
„Wissen Sie warum ich den Kredit damals aufgenommen habe?“
„Nun nicht genau, aber es geht jetzt um Ihre noch ausstehenden Zahlungen und…“, begann Matthew.
„Ich bin immer noch auf der Suche nach meinem Vater“, fuhr er, ohne auf Matthew einzugehen, fort. „Ich brauchte das Geld, um einen Privatdetektiv anzuheuern. Wissen Sie, wieviel Geld so eine Untersuchung schluckt, die ich ins Leben gerufen habe? Natürlich weiß ich, dass mein Vater inzwischen längst tot sein muss, aber John Rennie senior war nicht nur einfach mein Vater, er war mein Lehrmeister, mein Vorbild, meine Inspiration. Den Bau der London Bridge führte ich in seinem Namen fort, sie ist mehr für mich als nur eine Brücke, die über die Themse führt. Sie ist mein Abschiedsgeschenk an ihn.“ Matthew lauschte den Worten des Mannes, doch es war ihm unangenehm. Es war ganz so, als würde er in die tiefsten Gefühlswelten des alten Mannes Einblick bekommen und das verstörte ihn. Er blätterte durch die Seiten des Vertrages, um seinen Händen eine Beschäftigung zu geben. Rennie, der jetzt die Stirn runzelte, war ganz versunken in seinen Erinnerungen.
„Es war Weihnachten 1821 als er verschwand. Ich weiß es noch genau. Meine Mutter und ich saßen im Wohnzimmer unter dem Weihnachtsbaum. Sie hatte sich etwas zum Nähen geholt, wie immer, wenn sie nervös wurde. Mein Vater hatte die Angewohnheit lange Spaziergänge zu machen, meist war er Stunden lang fort, um auf andere Gedanken zu kommen, um sich Anregungen zu holen, wie er mir einmal erzählte. Aber an diesem Tag war er schon lange überfällig. Irgendwann ging meine Mutter zu Bett, ich blieb die ganze Nacht auf, aber er kehrte nie zurück.“
Matthew hatte den Vertrag auf den Tisch fallen lassen und die Hände so stark aneinander gepresst, dass sie jetzt schneeweiß wurden und anfingen zu kribbeln. Erschrocken schüttelte er sie und setzte sich dann wieder aufrecht hin. Er war sich nicht sicher, ob Rennie jetzt eine Antwort von ihm erwartete, doch Rennie fuhr schon mit seiner Erzählung fort.
„Der Stock hier“, Rennie klopfte auf den Handstock mit der silbernen Schlange, „ist eines der wenigen Dinge, die mir von ihm geblieben sind.“
„Haben Sie nie auch nur einen Anhaltspunkt gefunden Mr Rennie?“, fragte Matthew jetzt neugierig, denn die Erzählung begann ihn zu faszinieren. Der Kredit war völlig vergessen.
„Angeblich war mein Vater in eine Verschwörung verwickelt zusammen mit Lord Winslow, dem Vorsitzenden der damaligen Southwark Bridge Company. Sie existiert inzwischen gar nicht mehr. Aber das ist alles nur Humbug, wenn Sie mich fragen. Aber nein, mein Vater ist bis heute spurlos verschwunden, kein Haar hat man von ihm entdeckt.“ Rennie räkelte sich auf seinem Stuhl und trank einen Schluck Wein.
„Wissen Sie, warum ich Ihnen das erzähle? Seien Sie nicht so streng mit Ihrem Vater. Man weiß nie, was einem der Tag noch alles bringt.“ Er zwinkerte ihm zu, dann hievte er sich mit seinem Stock hoch und humpelte auf Matthew zu.
„Das Angebot Ihres Vaters nehme ich an. Schicken Sie mir den neuen Vertrag zu, ich werde ihn unterzeichnen.“ Er klopfte Matthew auf die Schulter.
„Ich muss mich jetzt ein wenig hinlegen. Diese scheußliche Gicht, meine ganzen Knochen tuen weh. Gilbert wird Sie hinausbegleiten.“ Wie auf ein Stichwort erschien der Butler in der Tür. Matthew, der nicht wusste, wie mit ihm geschah und ob er jetzt seine Sache gut gemacht hatte oder nicht, packte hastig seine Unterlagen zusammen und folgte Gilbert hinaus.
„Tut mir Leid mit dem Schmutz“, murmelte er noch ehe Gilbert die Tür hinter ihm schloss. Zum Glück hatte es inzwischen aufgehört zu regnen und Matthew konnte den Schirm getrost zugeklappt lassen. Als er die Kutsche erreichte, die ein paar Häuser entfernt wartete, war er überrascht, als er Marty, den kleinen Jungen aus Whitechapel, auf dem Kutschbock neben Bernie erblickte. Marty zog gerade genüsslich an einer Zigarette und stützte die Beine gegen das vordere Ende der Kutsche.
„Marty, was um Himmels Willen tust du hier?“, rief Matthew überrascht als er auf die beiden zukam.
„Matthew! Was ein Zufall, ne! Musste zweimal hingucken, aber dann hab ich Bernie erkannt. Er hat mir gesagt, dass er auf dich wartet, du wärst in einem dieser pickfeinen Häuser. Mann, was für Paläste! Da passt unser kleiner Schuppen bestimmt hundertmal rein!“ Er schien ganz aufgeregt zu sein und bewunderte die hohen Gebäude zu beiden Seiten. Bernie verdrehte genervt die Augen.
„Und was machst du hier?“, fragte Matthew noch einmal. Marty grinste plötzlich und holte dann einen Sovereign aus seiner Hosentasche, den er ihm stolz präsentierte.
„Hab ihn mir verdient! Was sagst du dazu! Ist der beste Job, den ich je hatte. Und war keine große Sache. Naja, bis auf die Füße.“ Und er zeigte auf seine bloßen Füße, die von Dreck und Blut verklebt waren. Matthew war schockiert. Von Whitechapel bis nach Mayfair zu laufen, war die eine Sache, aber dann auch noch auf bloßen Füßen! Für ein Pfund war es Marty das wert gewesen.
„Ich lief Aldgate entlang auf der Suche nach meinem Vater, da tauchte plötzlich dieser alte Mann neben mir auf, der mir einen Brief in die Hand drückte und mich fragte, ob ich den Brief zu John Rennie in die Grosvenor Street bringen könnte. Er gab mir die Münze und ich hab sofort ja gesagt. Hier, schau sie dir an!“ Immer noch vor Stolz platzend reichte er Matthew seinen wohl verdienten Lohn. Matthew runzelte verwundert die Stirn. Wer gab einem Jungen im East End so viel Geld, nur um einen Brief zu übermitteln? Es war natürlich nicht so, dass Matthew noch nie einen Sovereign in der Hand gehabt hätte, doch als er jetzt die Münze in der Hand hielt und ihre Vorderseite betrachtete, war er verwirrt. Solch eine Prägung hatte er noch nie im Leben gesehen! Die Münzen, die er kannte, zeigten den Kopf von Queen Victoria. Es gab verschiedene Prägungen von ihr, das ja, aber auf dieser Münze war nicht Queen Victoria abgebildet. Es war in der Tat überhaupt kein Frauenkopf, sondern der eines Mannes. Matthew blickte die Münze nun genauer an und versuchte die Gravierung am Rande unter dem Schmutz zu entziffern. Was er dort las, verwirrte ihn noch mehr: Georg V. Marty betrachtete ihn nervös.
„Is was mit dem Geld?“, fragte er ängstlich. Matthew wollte ihn nicht beunruhigen und gab ihm die Münze kopfschüttelnd zurück. Vielleicht eine Sonderprägung, von der er noch nichts gehört hatte. Dann sprang Marty vom Kutschbock und versuchte albern einen Knicks vor Matthew, der ihm nicht so recht gelang.
„Bis zum nächsten Mal Mr Matthew“, sagte er mit tiefer Stimme, grinste dann noch einmal und hüpfte pfeifend die Straße entlang davon.
„Aufgeweckter Bursche“, brummte Bernie.
Thomas Collins war ganz erstaunt, als Matthew etwa eine Stunde später wieder in der Bank auftauchte und ihm erzählte, dass John Rennie ohne irgendwelche Einwände den Vertrag unterschreiben würde. Dann nahm er es schließlich schulterzuckend hin und gratulierte seinem Sohn. Das an sich kostete seinen Vater schon Überwindung, denn er verteilte Lob nur sehr sparsam und quittierte die meisten erfreulichen Nachrichten nur mit einem Nicken. Von der Geschichte über den verschwundenen John Rennie senior sagte Matthew hingegen nichts. Er dachte an die Worte des alten Mannes, als er jetzt seinem Vater so gegenüberstand. Natürlich war Thomas Collins auch für ihn in gewisser Weise ein Lehrmeister, er hatte ihn in das Bankgeschäft eingeführt, ihm einen leitenden Posten zugesichert, wenn er alt genug war, aber Matthew würde wohl nie so für seinen Vater empfinden, wie John Rennie junior es getan hatte.
Es waren noch genau sechs Wochen bis zur Hochzeit und Mr und Mrs Wentworth waren voll und ganz mit den Vorbereitungen beschäftigt. Sie hatten von Anfang an darauf bestanden die Feierlichkeiten in ihrem Haus abzuhalten und Matthews Vater, für den Gesellschaften und Soirées in seinem eigenen Haus mehr ein gesellschaftlicher Zwang denn ein Vergnügen waren, hatte dieses Angebot nur zu gerne angenommen. Mr Collins hatte ihnen jedoch vorgeschlagen, ein paar Leute seiner Dienerschaft für diese Zeit zur Verfügung zu stellen, doch die Wentworths hatten dankend abgelehnt. Man wollte sich nicht die Blöße geben, dass man nicht genug Personal beschäftigt hätte, um eine Hochzeitsfeier zu veranstalten. Es versetzte Matthew einen kleinen Stich, jedes Mal wenn er bei den Wentworths zum Tee eingeladen war und sah, wie die Vorbereitungen vorangingen. Er würde nicht an dieser Hochzeit teilnehmen. Er hatte Mr Wentworth zwar ins Herz geschlossen, den kleinen stets gut gelaunten Mann, dessen Tochter und Frau waren aber so anders, dass es Matthew ein Rätsel war, wie er über all die Jahre diese Fröhlichkeit hatte beibehalten können. Man sah schon jetzt, dass die Hochzeitsfeier noch pompöser werden würde als die Verlobungsfeier. Er ging zusammen mit Susan und Mrs Wentworth die Speisenabfolge, die Aperitifs sowie die Hochzeitstorte durch. Doch so sehr er sich auch bemühte nach außen den perfekten Schwiegersohn zu spielen, er war nur mit halbem Herzen dabei. Seine eigentliche Energie verwendete er darauf, die Reise nach Paris zu planen. Polly hatte ihm zwar deutlich gemacht, dass er sie vergessen sollte, aber das tat er nicht. Er würde mit ihr fortgehen und wenn sie erstmal neben ihm im Zug sitzen würde, wäre sie froh darüber, das wusste er. Er schickte Bernie nach Paddington, um Fahrkarten für die nächstmögliche Fahrt nach Brighton zu kaufen. Ab dort würden sie mit dem Schiff übersetzen nach Frankreich. Als der Schneider seines Vaters zu ihnen nach Hause kam, um Maß zu nehmen an Matthew für einen neuen Frack, wusste er, dass er keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Er musste fort von hier. Auf einem Briefbogen, der mit dem Wasserzeichen der Familie Collins versehen war, schrieb er in fein säuberlicher Schrift: Sonntagabend bei Sonnenuntergang, Southwark Cathedral, letzte Bankreihe. Bernie nahm mit einem besorgten Ausdruck den Brief entgegen, denn er wusste, wenn er ihn Polly in die Hand drückte, gäbe es kein Zurück mehr. Aber Matthew ließ sich nicht beirren. Er hatte Glück. An genau jenem besagten Sonntag, den 13. Mai 1892, waren seine Eltern bei Freunden zum Dinner eingeladen. Charles würde sich die Zeit vermutlich mit der jungen Frau vertreiben und Matthew erklärte, er wolle noch einmal die Gästeliste für die Feier in Ruhe durchgehen. Mr Collins sah das als guten Willen seines Sohnes an, endlich Vernunft angenommen zu haben. Als Mr und Mrs Collins das Haus verließen und Matthew ihnen nachblickte, fiel ihm ein, dass er sie vielleicht niemals wiedersehen würde. Doch ein sentimentaler Gefühlsausbruch lag ihm fern. Vielmehr wollte er einen Brief hinterlassen mit ein paar Abschiedsworten, doch wohin seine Reise gehen sollte, das verriet er nicht. Er zündete sich eine Zigarre im Wohnzimmer an und schenkte sich einen Brandy ein. Anstatt der Gästeliste nahm er die Zeitung zur Hand. Dann ließ er sich auf der Couch nieder und blätterte durch die Seiten, doch die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er war viel zu nervös, um zu lesen. Polly würde da sein, das hatte sie ihm versprochen. Bernie war mit seinem Brief zurückgekehrt, auf dem sie ein schlichtes ja geschrieben hatte. Daraufhin war er vor Freude durch sein Zimmer getanzt und hätte dabei fast eines der Stubenmädchen zum Tanz aufgefordert. Er hatte sich noch gerade beherrschen können. Der Himmel draußen wurde langsam dunkler. In einer Stunde würden die Gaslampen angezündet werden. Sein Herz pochte. Die Zeiger der großen Standuhr tickten laut in dem ansonsten stillen Raum. Unaufhörlich schob sich der Sekundenzeiger vorwärts, drehte Runde um Runde und Matthew verfolgte seinen Weg mit angespanntem Blick. Schließlich faltete er die Zeitung zusammen, legte sie zurück auf den Beistelltisch und löschte die Lampen. Dann ging er leise in die Eingangshalle und nahm seinen Mantel und den Zylinder von der Garderobe. Die Fahrkarten steckten in der Innenseite. Er blickte sich noch einmal in der Eingangshalle um, sah sein blasses Gesicht in dem großen Wandspiegel gegenüber, dann gab er sich einen Ruck und verließ sein Elternhaus am Belgrave Place.