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Kapitel 14

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Zurück im Büro, blätterte Bennie ungläubig die Akte Connolly durch. Jemison, Crabbe hatten absolut nichts für die Verteidigung vorbereitet; keine Zeugenbefragungen, keine Ermittlungsergebnisse, keine Umfragen in der Nachbarschaft, nicht einmal Anmerkungen eines der Anwälte waren enthalten. Was hatten sich Burden und Miller bloß gedacht? Sie griff nach dem einzigen vollen Ordner, dem mit dem Etikett AKTE – STAATSANWALTSCHAFT – ERGEBNISSE DER VORUNTERSUCHUNG. Er enthielt eine magere Abschrift der Voruntersuchung und eine wenig aussagekräftige Ansammlung von Einsatzberichten, Zeugenbefragungen, Autopsie- und toxikologischen Untersuchungsergebnissen sowie Berichten der Spurensicherung. Es gab keine Unterlagen über Aktivitäten der Polizeidienststellen, die detaillierten Daten der polizeilichen Ermittlungen fehlten.

»Habt Geduld mit mir, Kinder«, sagte Bennie, während sie den Manilaordner durchblätterte. Die beiden Mitarbeiterinnen Mary DiNunzio und Judy Carrier saßen ihr gegenüber am Besprechungstisch wie Goldmarie und Pechmarie mit Juraexamen. Die kleine DiNunzio in ihrem blauen Kostüm war angezogen wie Barbie als Rechtsanwältin; Carrier war fast so groß wie Bennie und in ihrem losefallenden Denimkittelkleid mit blauen Strumpfhosen und schwedischen Dansko-Clogs angezogen wie eine Künstlerin. Bennie beendete die Durchsicht der Akte und blickte auf. »Ich möchte, daß Sie alles liegen- und stehenlassen, Carrier. Verlangen Sie die Herausgabe der Einsatzberichte der Polizei. Ich möchte wissen, wer angerufen und den Mord gemeldet hat.«

»Wird erledigt.« Die Mitarbeiterin notierte sich die Anweisung auf dem auf ihrem Schoß liegenden Block. Ihre kinnlangen, hellgelben Haare, gerade abgesäbelt zu einem glatten Kochtopfschnitt, fielen beim Vorbeugen nach vorn wie die Ohren eines Bluthundes. »Die haben das alles auf Band, nicht wahr? Die Anrufe an 911?«

»Ja, aber inzwischen sind die Bänder wahrscheinlich gelöscht worden. Sie müssen die Herausgabe der Abschriften verlangen, die Computeraufzeichnungen. Jetzt holen Sie bitte die Bürokamera, wären Sie so nett? Marshall weiß, wo sie ist, fragen Sie sie. DiNunzio?« Bennie wandte sich an Mary, und Carrier verließ das Zimmer. »Kennen Sie jemanden bei Jemison, Crabbe?«

»Bestimmt, es ist eine große Firma. Zwei meiner Kommilitoninnen sind da hingegangen, glaube ich.«

»Falls die beiden diesen Entschluß bisher überlebt haben, rufen Sie sie an. Ich möchte wissen, wie Henry Burden an dieses Mandat gekommen ist, ob irgendeine Verbindung zwischen ihm und Richter Guthrie besteht. Gehen Sie aber diskret vor.«

»Und wie soll ich das anstellen?«

»Gehen Sie unter irgendeinem Vorwand mit ihnen essen. Kitzeln Sie die schmutzigen Geschichten heraus. Sie haben gehört, was Miller vor Gericht gesagt hat, daß Burden überraschend außer Landes mußte. Was hat es damit auf sich? Finden Sie das heraus. So, jetzt schnappen Sie Ihre Tasche und die Akte. Sind Sie bereit zum Tanz?«

»Ich denke schon. Sicher. Absolut.« Mary war zu eingeschüchtert, sie konnte nichts anderes sagen. Insgeheim wollte sie am liebsten nach Hause, ins Bett steigen und die Stellenanzeigen lesen. Gab es in Amerika Jobs, bei denen man dem Boss die Wahrheit sagen konnte?

Nee.

Nieselregen verdüsterte den Himmel vorzeitig, und Tropfen sprenkelten die Windschutzscheibe von Bennies Ford. In der Trose Street fuhr sie rechts ran und parkte gegenüber dem Haus, in dem Della Porta mit Connolly gewohnt hatte. Das Haus war links und rechts angebaut, hatte nur ein Stockwerk, und eine Holztafel, die knarzend an verrosteten Haken hing, verkündete APT ZU VERMIETEN. Das Haus hatte schwarze Fensterläden, deren Farbe abblätterte, ohne daß es jemanden gekümmert hätte, und die Klinker hatten im Unterschied zu der gedämpften Orangetönung der Klinkerhäuser aus der Kolonialzeit das für billige Mietshäuser typische Rostrot. Es war zwischen einer ehemaligen Ladenfront, nun eine Tagesstätte, und einem gleich hohen Haus eingeklemmt, bei dem im ersten Stock ein Fensterladen fehlte. Angebaut an dieses Haus folgte ein Bistro, das Pleite gemacht hatte. Ein zerrissenes rosa Werbeband, das auf das mit Brettern vernagelte Fenster geklebt war, kündete vom fehlgeschlagenen Optimismus des Betreibers.

»Gehen wir, Kinder.« Bennie machte den Motor aus. »DiNunzio, Sie nehmen die Akte. Carrier, Sie die Kamera. Ich möchte, daß Sie Aufnahmen von der Straße und der Umgebung machen.«

»Verstanden.« Judy stieg aus dem Ford und schlug die Kapuze ihres gelben Patagonia-Regenmantels hoch. Sie hängte sich die Kamera um den Hals und begann, das Objektiv gegen den Regen schützend, Fotos zu schießen.

Bennie stellte sich neben sie, zog einen Block aus ihrer Tasche und brachte eine schnelle Skizze von der Straße zu Papier. Sie hielt den Block dicht an ihre Brust, damit er nicht naß wurde. Sie zeichnete die Häuser und die hinter der Tagesstätte nach Westen abgehende Gasse ein, in der das blutige Sweatshirt gefunden worden war. Bis zur Straßenecke Tenth Street folgten zwei weitere angebaute Häuser. Bennie ging vor zur Gasse und zeichnete den verbeulten blauen Müllcontainer ein. Nach wie vor stand er vor sich hinrostend an der Ziegelmauer in der Gasse auf der rechten Seite. Die Gasse ging durch bis zur nächsten Straße, war also auch aus der anderen Richtung zu betreten. Aufbereitet und mit Spray auf ein Kunststofftableau aufgetragen, würde diese Skizze Bennies Beweisstück D-1 werden.

Als sie die Skizze fertig hatte, ließ sie den Blick durch die Straße schweifen. Sie überlegte, ob es Zeugen für das Kommen und Gehen im Mordhaus geben könnte. Auf der Südseite der Trose Street reihten sich zwischen Della Portas Haus und der Gasse ein paar Häuser aneinander. Aus diesen Häusern mußten die meisten Zeugen kommen, und das hieß, in den nächsten paar Tagen mußte sich die Verteidigung auf die se konzentrieren.

Bennie machte auf dem Absatz kehrt. Auf der anderen Straßenseite, Della Portas Haus direkt gegenüber, stand ein neues Wohngebäude, offensichtlich hatte man alte Häuser abgerissen oder der Bauunternehmer hatte eine Baulücke ausgenutzt. Bis auf vier alte Häuser waren jedenfalls alle verschwunden, um dem Gebäude Platz zu machen. Das grenzte die Anzahl der Zeugen, die den besten Blick auf das Della-Porta-Haus hatten, ein. Auf einem Plastikspruchband am Gebäude stand VERMIETUNG AB SEPTEMBER, und Bennie erinnerte sich an die Baustelle, von der Connolly bei ihrer Befragung gesprochen hatte.

Die Nikkormat vor dem Auge, fotografierte Judy die Trose Street in beiden Richtungen, bis ihr auffiel, daß Mary nicht aus dem Allrad gestiegen war, Sie trat einen Schritt zur Seite zum halboffenen Autofenster hin. »Mare«, flüsterte sie. »Mare, los, komm raus.«

»Nein.« Mary saß wie festgeklebt auf dem Rücksitz. »Ich denke nicht daran.«

»Was? Was soll das heißen, du denkst nicht daran?«

»Ich steige nicht aus. Welches dieser Wörter ist dir fremd?«

»Machst du Witze?«

Das war eine gute Frage, Mary war sich nicht ganz sicher. »Ich war noch nie an einem Tatort. Und ich will auch jetzt nicht an einen Tatort. Was glaubst du, warum immer diese gelben Absperrbänder darum herumgespannt werden? Weil man tunlichst keinen Tatort betreten sollte.«

»Mary, das ist dein Job.«

»Ach wirklich.« Die junge Anwältin schob den Kopf aus dem Fenster und kniff die Augen gegen den Regen zusammen. »Ich weiß, daß das mein Job ist. Warum, glaubst du, hasse ich ihn? Wäre es mein Job, Schokoladeneclairs zu machen, würde ich ihn nicht hassen.«

»Spinnst du komplett? Steig aus dem Auto.«

»Wäre es mein Job, Klamotten zu kaufen, wäre er mir nicht verhaßt. Oder Bücher zu lesen. Essen tue ich auch gern. Vielleicht bekomme ich einen Job, wo ich essen muß. Gibt es solche Jobs, Jude?«

»Was ist denn los mit dir? Willst du entlassen werden?«

Sofort hellte sich Marys Gesicht auf. »Warum habe ich daran noch nicht gedacht? Dann könnte ich Arbeitslosenunterstützung kassieren wie der Rest von Amerika.«

»Carrier! DiNunzio! Los, gehen wir!« rief Bennie mit hörbarer Ungeduld in der Stimme. Sie stieg bereits die Stufen zum Vordach des Reihenhauses hinauf.

»Komm schon, sonst feuert sie mich auch noch.« Judy öffnete die Autotür und packte Mary am Ärmel ihres Kostüms. »Dir passiert schon nichts, du wirst sehen.« Sie zerrte die Freundin aus dem Wagen und schlug die Tür hinter ihr zu. Nebeneinander schritten sie zur Haustür, ein ganzes Stück hinter Bennie, die bereits den Finger auf der Klingel unter einem zerbeulten Briefkasten aus Aluminium hatte.

»Wir haben Glück«, teilte Bennie ihnen mit. »Der Hausverwalter wohnt im Erdgeschoß.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Judy.

»Da steht’s.« Bennie deutete auf ein Namensschild. J. Boston, Hausverw.

»Erstklassige Detektivarbeit«, bemerkte Judy, aber Mary lachte nicht.

Der Hausverwalter war klein, hatte ein schmuddeliges T-Shirt und ausgebeulte Hosen an und sah grau und apathisch aus. Als er den Mund aufmachte, um zu sprechen, wehte eine Scotchfahne zu Bennie herüber. »Nein, ich hab nichts gehört an dem Abend, wo Anthony umgebracht wurde«, krächzte er mit einer von Zigaretten rauh geschmirgelten Stimme.

»Aber Sie wohnen im Erdgeschoß«, wandte Bennie ein. »Sie haben doch den Schuß gehört, oder?«

»Das haben mich die Bullen schon gefragt. Ich hab denen gesagt, daß ich an dem Abend gar nichts gehört hab.«

»Nicht einmal einen Schuß?«

»Ich hab ein paar gekippt. Ist das gegen das Gesetz?«

»Haben Sie Connolly und Della Porta manchmal gehört? Sprechen, streiten, irgendwas?«

Die wässerigen Augen des alten Mannes leuchteten auf. »Irgendwas? Sie meinen irgendwas?«

»Ja, prima. Irgendwas.«

»Nein«, blaffte er zurück und brach in Gelächter aus, das in einem stoßweise kommenden Husten endete. Judy und Mary, die im Flur vor seiner Wohnung standen, wechselten Blicke. Der Fernseher, genauer gesagt die Erkennungsmelodie der Oprah-Winfrey-Show, plärrte hinter der weißen, mit Fingerabdrücken übersäten Tür. »Ich hab die kaum mal zu Gesicht gekriegt. Die waren nie da. Er war’n Bulle und so, ich dachte, der hat viel zu tun.«

»Hatten die beiden oft Besuch?«

»Das weiß ich doch nicht. Ich bleib an meinem Platz. Mein Schwager, das ist der Besitzer, der will das so. Und alles, was der will, ist mir recht.« Der Hausverwalter kniff die Augen zusammen. »Sie behaupten, Sie sind Anwältin, und das junge Gemüse, diese Mädels da, sind auch Anwältinnen? Können die das denn?«

Bennie ließ es durchgehen. »Bedeutet das Schild da draußen, daß die Wohnung von Della Porta leer steht?«

»Ja, verdammt. Die Wohnung macht nichts wie Ärger. Und wenn ich die den ganzen Tag vorzeigen täte, die mietet kein Mensch. Niemand will eine Wohnung, in der einer erschossen wurde, nicht mal möbliert und alles. Außerdem verlangt er zuviel.«

»Die Wohnung steht seit dem Mord leer? Noch mit den Möbeln von damals?.«

»Klar. Alles da, bis auf den Teppich. Den hab ich weggeschmissen, als die Bullen fertig waren.«

Bennie seufzte. Es gab längst keine Spuren mehr. »Sind die Möbel tatsächlich noch so wie damals? Haben Sie sie nicht umgestellt?«

»Ich krieg nicht genug, daß ich was rumrücke.«

»Ich möchte mir die Wohnung ansehen. Kann ich den Schlüssel haben?«

»Klar, was soll’s.« Der Hausverwalter fummelte in seiner Tasche herum. »Was glauben Sie, wer die Sauerei da oben saubergemacht hat? Meine Wenigkeit. Was glauben Sie, wer den besch ... Teppich weggebracht hat, mit dem ganzen Blut drauf? Meine Wenigkeit. Wer hat die Böden geschmirgelt? Die blutige Wand neu gestrichen? Den ganzen Krempel zusammengepackt und in den Keller geschafft?«

»Ihre Wenigkeit?« sagte Judy, und der Hausverwalter grinste in zahnloser Anerkennung.

Nachdem sie den Schlüssel bekommen hatten, eilte Bennie mit den jungen Frauen in den ersten Stock. Ein schmuddeliger roter Läufer lag auf der langen, schmalen Treppe. Im ersten Stock befand sich eine Tür ohne Namensschild oder Nummer.

Bennie schloß die Tür auf. »Halten Sie die Augen offen«, sagte sie beim Betreten der Wohnung. »Achten Sie auf den Grundriß der Wohnung. Sehen Sie sich auch die Lage der Zimmer an, die Stellung der Möbel. Prüfen Sie den Ausblick aus den Fenstern, die Beleuchtung. Prägen Sie sich alles ein, und mag es noch so bedeutungslos erscheinen. Alles klar?«

»Ja«, antwortete Judy und machte ein Foto. Mary verharrte auf der Schwelle. Niemand achtete auf sie.

Bennie verschaffte sich rasch einen Überblick über die Wohnung. Der große Raum hatte zwei Fenster zur Straße auf die Nordseite hinaus. Rechts stand ein Tisch mit vier Stühlen, der Eßbereich war also auf der Ostseite. Auf der linken Seite stand ein Sofa direkt an der Wand, davor ein Couchtisch aus Teak. Ein Sony Trinitron auf einem Fernsehwägelchen stand zwischen den Fenstern, ein ovaler Spiegel hing an der Wand. Bennie bemerkte hellere, viereckige Flecken auf der Strukturtapete, die Bilder hinterlassen hatten, und das helle Quadrat in der Mitte des Zimmers, wo ein Teppich gelegen hatte. »Machen Sie ein Foto von der Stelle, Carrier«, ordnete Bennie an. »Besser noch, mehrere.«

»Verstanden.« Judy fotografierte, und Bennie ging durch das Zimmer zum Sofa.

»Wer sagt’s denn. Hier ist der Blutfleck.« Bennie steuerte zielsicher auf die verfärbte Stelle auf den ungleichmäßigen Eichendielen zu, deren Oberfläche schlampig bearbeitet war. Della Portas Blut mußte durch den Teppich gesickert sein. Sie erinnerte sich, im Polizeibericht gelesen zu haben, daß es eine Kugel Kaliber .22 gewesen war. Sie hatte ein kleines Loch in Della Portas Stirn hinterlassen und war durch den Hinterkopf ausgetreten. Der Blutverlust war beträchtlich gewesen.

»Herrje.« Judy kam herüber und fotografierte. »Kein Wunder, daß der Hausverwalter die Bude nicht vermieten kann. Vielleicht sollte er mal die Dielenbretter auswechseln.«

»Wie ist die Leiche gefallen? Wo ist DiNunzio?« fragte Bennie, und die Köpfe beider Frauen fuhren gleichzeitig zur Eingangstür herum, wo Mary immer noch wie angewurzelt stand. »DiNunzio, was treiben Sie eigentlich da? Kommen Sie her.«

»Bin schon unterwegs.« So zielstrebig, wie es ihr möglich war, ging Mary zu den anderen, und schaute nach unten. Auf dem Boden befand sich ein dunkelbrauner Fleck mit einem Umriß wie Frankreich. Ihr Magen rebellierte. »Ist das das, was ich denke?«

»Della Porta wurde mit dem Gesicht nach oben aufgefunden«, sagte Bennie. »Lag sein Kopf Richtung Osten oder Westen?«

»Osten? Westen?« Mary konnte keinen klaren Gedanken fassen. Hier war ein Mensch gestorben, in den Kopf geschossen worden. Sie sah vor sich, wie die Kugel aus heißem Blei durch die weiche Feuchte seines Gehirns drang. Zerstörte, was unantastbar sein sollte.

»Westen ist zu Ihrer Linken, Osten zu Ihrer Rechten.«

Mary konnte die Augen nicht von dem Blutfleck abwenden. Sie hatte die Fotos von der Autopsie und der Spurensicherung gesehen. So viel Tod, und das bei einem Beruf, der allgemein als blutleer angesehen wurde.

»Also was nun? Osten oder Westen?«

»Kann ich ... in der Akte nachsehen?« Mary zog den Ordner unter dem Arm hervor.

»Nein. Sie haben sie gelesen, oder nicht?« blaffte Bennie, und Judy berührte sie am Ärmel.

»Was ist denn daran so tragisch, Bennie? Es ist schwer für sie ...«

»Schluß jetzt. Mary braucht keine Anwältin, sie ist Anwältin.« Bennie hatte einen bestimmten Grund für ihr Verhalten, aber den brauchte sie nicht hinauszuposaunen, außerdem wußte sie die Antwort sowieso und diese spielte auch weiter keine Rolle. »DiNunzio, das hier ist ein Mordfall, dazu ist Blut nun einmal meist die Voraussetzung. Denken Sie nicht an die Leiche, denken Sie an die Akte. Denken Sie an die Unterlagen. Es ist nur ein neuer Fall. Also, lag der Kopf Richtung Osten oder Westen?«

»Westen«, sagte Mary, die sich plötzlich an ein Polizeifoto erinnerte, von dem sie nicht einmal mehr gewußt hatte, daß sie es gesehen hatte.

»Braves Mädchen. Was sagte der Gerichtsmediziner über den Zeitpunkt des Todes?«

»Der Gerichtsmediziner sagte zwischen 19.30 und 20.30 Uhr. So stand es in seinem Bericht.«

»Na also. Weiter. Connolly sagte, sie sei in der Bibliothek am Logan Circle gewesen. Sie ging dort um 18.30 Uhr weg und zu Fuß nach Hause. Ich glaube, Della Porta hat den Täter mit dem automatischen Türöffner eingelassen, und fast unmittelbar danach hat sich der Mord ereignet. Della Porta stand vor dem Täter und wurde einfach über den Haufen geschossen. Er brach zusammen und fiel nach hinten, mit dem Gesicht nach oben. So stimmt es mit dem Bericht des Gerichtsmediziners überein. Habe ich Ihrer Meinung nach Recht, DiNunzio?«

»So wird der Tathergang allgemein geschildert.« Judy schien verdutzt. »Wissen Sie, was mir nicht in den Kopf will? Es ist ein weiter Weg von der Bibliothek bis hierher, eine Stunde oder länger. Warum ist sie gelaufen? Es gibt Busse, Taxis, alles.«

»Ich weiß es nicht, vielleicht geht sie gern zu Fuß.«

»Das heißt, sie hat kein Alibi. Wenn sie um 18.30 Uhr dort weggegangen ist, ist sie zur Tatzeit noch unterwegs gewesen.«

»Das ist mir bewußt.«

Judy schluckte, dann riskierte sie es. »Hat sie es getan?«

»Sie ist unsere Mandantin, Carrier. Ob sie es getan hat oder nicht, ist nicht der Punkt.« Bennie unterdrückte ihren aufsteigenden Ärger. »Anwaltsethik Regel 101. Ankläger stehen nicht auf der einen und Verteidiger nicht auf der anderen Seite als Gegner mit gleichen Aufgaben. So einfach darf man es sich nicht machen. Sie haben tatsächlich verschiedene Aufgaben. Vom Ankläger wird erwartet, daß er der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft, und vom Verteidiger wird erwartet, daß er dem Angeklagten zu einem Freispruch verhilft.«

»Es ist also unerheblich für Sie, ob Connolly schuldig ist?«

»Connolly ist meine Mandantin, folglich ist es meine Aufgabe, ihr Leben zu retten. Mein Beruf hat mit Loyalität zu tun. Ist das edel genug für Sie?«

Herausfordernd reckte Judy das Kinn. »Soll das heißen, es besteht ein Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Loyalität?«

»Willkommen im Berufsstand.«

Mary bemerkte die Schärfe in Bennies Stimme, und sie wußte, daß sich dahinter Angst verbarg. Wenn Bennie und Connolly Zwillinge waren, und den Anschein hatte es bei der Verhandlung gehabt, konnte sich Mary den Druck vorstellen, unter dem Bennie stand. Judy, die bei der Verhandlung nicht dabeigewesen war, konnte das Entscheidende nicht wissen. »Dann verstehe ich gar nichts mehr«, meinte Judy. »Wenn es nicht darum geht, einen Mord aufzuklären, wozu sind wir dann hier?«

Bennie sah Judy direkt an. »Wir müssen begreifen, wie der Staatsanwalt den Tathergang konstruiert hat und selbst eine glaubwürdige Theorie für die Vorgänge am fraglichen Abend aufstellen. Wenn wir in den Gerichtssaal gehen, müssen wir für die Geschworenen der Inbegriff des Allwissenden sein, und mit diesem Vertrauen in uns müssen sie in die Beratung gehen. Soll ich weitermachen?«

»Nein, aber ...«, begann Judy, doch Bennie brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Wir haben keine Zeit, länger herumzudiskutieren. Connolly hat ein Recht auf effiziente Anwälte, also seien Sie effizient. Fotografieren Sie.« Verärgert sah sich Bennie im Wohnzimmer um. Carriers Frage hatte sie selbst von Anfang an zutiefst beschäftigt. Hatte Connolly es getan? Warum war Bennie von ihrer Unschuld überzeugt? »Verdammt, diese Wohnung ist zu sauber. Fangen wir mit der Küche an, DiNunzio, gehen wir sie systematisch durch ...«

»Okay«, sagte Mary überflüssigerweise, denn Bennie stand bereits, Hände in die Hüften gestemmt, auf der Schwelle zur Küche.

Es war eine kleine Einbauküche mit Kirschholzschränken, neuen Haushaltsgeräten und einem schicken Kühlschrank. Bennie öffnete die Schränke, die sämtlich leer waren bis auf einen, in dem ein Stapel schwerer weißer Teller stand. Da weiter nichts zu entdecken war, trat sie ans Fenster. »Wer hat nach dem Schuß beim Notruf angerufen, DiNunzio?«

»Mrs. Lambertsen von nebenan. Sie hat bei der Vorverhandlung ausgesagt. Sie sah Connolly auch an ihrem Haus vorbeilaufen, andere Nachbarn ebenfalls. Drei oder vier, wenn ich mich recht entsinne, stand im Protokoll.«

Bennie nickte. »Gehen wir davon aus, die Zentrale hat den Notruf empfangen und sofort über Funk weitergeleitet. Welcher Streifenwagen hat sich zuerst gemeldet?«

»Da muß ich nachsehen.«

Mary nahm den Ordner, zog einen Schnellhefter heraus und blätterte ihn durch. Bennie schaute ihr dabei über die Schulter. Auf jeder Seite waren Passagen gelb angestrichen, ein Beweis für DiNunzios sorgfältige Arbeit, und Bennie dachte, welch hervorragende Anwältin diese Mitarbeiterin sein könnte, spränge sie nur endlich einmal über ihren Schatten.

»Da steht’s«, sagte Mary. »Die Streifenwagenbesatzung Pichetti und Luz.«

»Nicht McShea und Reston?« Bennie überlegte. »Wo waren Pichetti und Luz, als sie den Funkspruch auffingen?«

Marys Finger glitt die Seite entlang. »Ein paar Straßen weiter, an der Seventh und Pine.«

»Was wir wissen müssen, ist, wo genau Reston und McShea waren, und warum sie sich überhaupt hier in dieser Gegend aufhielten.«

»In der Akte ist kein Bericht von ihnen.«

»Das überrascht mich nicht, aber es muß einen geben. Wir müssen diesen Bericht haben. Wir müssen ihn finden. Er müßte eigentlich in der Polizeiakte oder in der Akte von Jemison, Crabbe sein. Gehen Sie beide noch einmal sorgfältig durch, sobald wir wieder im Büro sind.«

»Okay.« Mary begann sich nützlich zu fühlen, außerdem sah sie von hier aus den Blutfleck nicht mehr.

»Gut. Sehen wir uns die anderen Räume an.« Bennie ging aus der Küche und durch das Wohnzimmer in das Schlafzimmer, das ebensowenig Aufschluß bot wie die Küche. Ein übergroßes Polsterbett mit Bettkasten stand zwischen zwei Fenstern an der Wand, gegenüber an der anderen Wand eine nußbaumfurnierte Kommode mit drei Schubladen. Bennie durchquerte das Zimmer und öffnete die Schubladen. Nichts.

»Da ist das Badezimmer.« Mary deutete mit dem Finger hinter sich, und Bennie nickte.

»Sehen Sie es sich an. Ich übernehme das andere Schlafzimmer. Es interessiert mich, wozu sie es benutzt haben.«

Bennie ging zu der offenen Tür und verharrte wie angewurzelt auf der Schwelle. Das zweite Schlafzimmer war ein Arbeitszimmer, eine perfekte Kopie von Bennies Arbeitszimmer zu Hause. Es war ein relativ kleiner, rechteckiger Raum, und die Möbel waren exakt so angeordnet wie bei Bennie; an den Wänden standen nebeneinander Aktenschrank, Bücherregal, Schreibtisch, Bücherregal, in der äußersten Ecke ein Computertisch. Der gleiche Tisch wie bei Bennie zu Hause. Ein großer, weißer Arbeitstisch von IKEA mit zwei Regalbrettern darüber und ausziehbaren Ablagefächern auf jeder Seite. Bennie benutzte diese Ablagen ständig. Connolly auch?

Bennie ging zum Computertisch und hörte beim Herausziehen des rechten Ablagefachs das vertraute Schaben. Mitten auf der Platte prangte ein brauner Kreis. Bennie wußte, was es war, denn sie stellte ihren genau da auch immer hin; ein Ring von einem Kaffeebecher. Sie verkrampfte sich innerlich. Hatte das etwas zu bedeuten? Bei logischer Überlegung, nein. Die meisten Leute trinken Kaffee bei der Arbeit und richten ihre Arbeitszimmer zu Hause auf diese Weise ein. Und die Schlangen bei IKEA sind endlos.

»Im Badezimmer ist nichts«, verkündete DiNunzio von derTür her.

Bennie schüttelte den Kopf. Ohne zu wissen, warum, ging sie das kurze Stück zur Tür. »Da muß ein Kleiderhaken sein.« Sie schloß die Tür und starrte auf einen Haken im oberen Teil der Tür.

»Woher wußten Sie das?« fragte Mary.

Bennie hatte an ihrer Tür haargenau an der gleichen Stelle ebenfalls einen Haken angebracht, aber sie wollte mit DiNunzio jetzt nicht darüber reden. Sie mußte mehr über Connolly erfahren, bevor sie dieser Zwillingsgeschichte auch nur einen Funken Glauben schenkte. »Hat nicht jeder einen Haken in der Tür?«

»Bei ihr überrascht es mich. Sie hat ihn nie benutzt. Das Büro war der reinste Schweinestall.«

Überrascht drehte sich Bennie um. »Woher wissen Sie das?«

»Aus den Fotos in der Akte. Sie steckten in einem Umschlag von der Spurensicherung.«

Natürlich. Das hatte sie vergessen. »Zeigen Sie sie mir bitte.«

»Ich habe sie nicht bei mir.« Marys Anfall von Nützlichkeit schwand schlagartig. »Aus dem Büro dürfen keine Originale mitgenommen werden, wissen Sie nicht mehr?«

Bennie biß die Zähne zusammen. Es war nicht die Schuld der Kleinen, sie durfte sie also nicht erwürgen. »Was war auf den Fotos zu sehen?«

»Die Wohnung mit sämtlichem Mobiliar. Man sieht, wie sie eingerichtet war. Es war so ziemlich alles wie jetzt, bis auf dieses Zimmer hier. Die Wohnung war ordentlich, aber in Connollys Arbeitszimmer herrschte das totale Chaos.«

»Ich möchte mir die Fotos heute abend ansehen. Erinnern Sie mich daran, wenn wir zurück sind.«

»Okay, tut mir leid. Es war mir nicht klar.«

»Vergessen Sie’s.« Bennie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Connollys Arbeitszimmer war eine Offenbarung, warf aber mehr Fragen auf, als es beantwortete. Vielleicht war es an der Zeit, mal ein paar Antworten zu finden. »Holen Sie Carrier«, sagte sie unvermittelt. »Wir gehen.«

»Wohin?«

»Ins Erdgeschoß zum Hausverwalter. Ich miete diese Wohnung.«

»Sie wollen diese Wohnung mieten?« Mary war entsetzt. »Aber hier ist ein Verbrechen geschehen. Hier wurde ein Mensch ermordet.«

»Es gibt schlimmere Einfälle, als den Tatort eines Verbrechens zu mieten«, gab Bennie zur Antwort, aber Mary fiel nicht ein einziger ein.

Die Zwillingsschwester

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