Читать книгу Die Zwillingsschwester - Lisa Scott - Страница 7
Kapitel 4
ОглавлениеAlice Connolly lag auf der schmalen Pritsche in ihrer Gefängniszelle. Die anderen Gefangenen hielten sich nie in ihren Zellen auf, es sei denn, sie taten etwas, was sie die Wärter nicht sehen lassen wollten, oder sie taten etwas mit den Wärtern, was sie die anderen nicht sehen lassen wollten, aber Alice verbrachte die gesamte Zeit, die sie zur freien Verfügung hatte, allein in ihrer Zelle. Ihrer Zellengenossin Diane, einer weißen Schlampe aus den Südstaaten, hatte sie unmißverständlich klargemacht, was sie zu tun hatte. Bleib verdammt noch mal draußen. Diane hatte sich widerspruchslos gefügt. Sie war erst dreiundzwanzig, sah aber aus wie fünfzig. Das kam vom Crack. Die Crackkonsumentinnen sahen aus, als wären sie schon bei der Geburt fünfzig Jahre alt gewesen. Alice bewegte sich, um eine bequemere Lage zu finden. Die Zelle mit den grauen Steinwänden enthielt ein Edelstahlbecken, über dem ein Plastikspiegel von der Größe einer Boulevardzeitung hing. In die Wand war eine schmale Kunststoffplatte eingelassen, die einen Schreibtisch darstellen sollte. Das Ensemble komplettierte ein abgenutzter Hocker, der neben der Toilettenschüssel aus Edelstahl im Boden verschraubt war. Die Toilette hatte keinen Deckel, und in der Zelle stank es ständig. Aber Alice störte sich nicht an der Toilette. Es würde nichts bringen. Sie lag auf dem ungemütlichen Bett und starrte auf die gegenüberliegende leere Wand.
Im Unterschied zu den Zellen der meisten Gefangenen enthielt Alices Zelle keine persönlichen Dinge. Keine Fotos von Freunden mit Bierdosen in der Hand oder Klassenfotos von Kindern vor einem falschen blauen Himmel. Der neueste Schrei war, aus Zeitschriften ausgerissene Seiten zu einem Fächer zu falten. Diese stellten sie wie einen bescheuerten Blumenstrauß in Bleistifthalter in dem rührenden Versuch, aus dem Scheißhaus ein Heim zu machen. Du lieber Gott. Alice hatte kein Verständnis dafür. Seit dem Tag, an dem man ihr die Gefängniskleidung ausgehändigt und sie in die Zelle gebracht hatte, hatte sie jede Minute eines jeden Tages darüber nachgedacht, wie sie wieder herauskam. Eine Verurteilung war ihr praktisch sicher. Aber sie dachte nicht daran, sich vor Gericht stellen und von Pennsylvania an die Steckdose anschließen zu lassen.
Also war Alice vom ersten Tag an ein Musterhäftling. Schrubbte den Küchenboden, kratzte Dreck aus den Duschkabinen, erteilte Computerunterricht. Versuchte, einen Ausweg zu finden, ihren Hals irgendwie aus der Schlinge zu ziehen. Baute Beziehungen zu den Ganganführerinnen auf, zu den Schwarzen und den Latinos, und bemühte sich, soviel wie möglich zu erfahren. Zapfte sogar Valencia, die dämliche kleine illegale mexikanische Einwanderin, wegen Informationen an. Aber in dem ganzen Jahr war Alice keinen Schritt weitergekommen. Jetzt stand ihr Prozeß kurz bevor. Nicht mehr lange, und sie würde in eine Zelle im Gerichtsgebäude verlegt, den Bescheid hatte sie bereits erhalten.
Und dann hatte sich ihr wie von selbst die Chance geboten. Das einzige bißchen Glück in ihrem ganzen Leben. Es geschah an jenem Tag, an dem die Aufseherin an ihre Zellentür klopfte und sagte, ein William Winslow sei da, um sie zu besuchen.
Ich kenne keinen Winslow, hatte Alice geantwortet, doch aus Neugier war sie der Aufseherin gefolgt, hatte nach dem Abtasten den häßlichen orangeroten Overall angezogen, das Plastikarmband mit dem Strichcode entgegengenommen und war in das Besucherzimmer gegangen. Die zu vieren gruppierten Stahlstühle in dem großem Raum waren fast alle besetzt, die Familien quasselten, und unter dem Schild NICHT KÜSSEN amüsierten sich die Jungs, die ihre Mädchen besuchten, mit Petting. Auf einem Stuhl saß ein alter Mann, der aussah wie eine Vogelscheuche. Er war groß und hager, und sein Kopf stand vor, als sei sein Genick mit Heu ausgestopft. Er trug ein braunes Sportsakko, ein Flanellhemd und einen braunen Filzhut, den er abnahm, als er Alice sah.
Das war ihr Besucher? Fast hätte Alice laut herausgelacht. Sie ging hin und setzte sich ihm gegenüber. Der Mann räusperte sich unaufhörlich, er schien kein Wort herauszubringen. Aus der Nähe betrachtet, sah sie, daß sein Gesicht wettergegerbt und sehr runzlig war. Alice fragte ihn, wer er sei und was er wolle. Und da sagte er, sie sei seine kleine Tochter.
Zum Teufel, wovon reden Sie? hatte sie gesagt. Sie war nicht adoptiert worden, jedenfalls nicht, daß sie wüßte, und ihre Eltern waren zu tot, um sie zu fragen. Sie waren ohnehin nicht unbedingt die besten Eltern gewesen, nicht einmal, als sie noch lebten.
Das bist du, als Baby, hatte die Vogelscheuche gesagt. Mit zittriger Hand streckte er ihr ein Schwarzweißfoto entgegen.
Schön. Was soll’s. Er war ein alter Knacker, vielleicht war er senil. Auf dem Foto war ein dickes Baby mit runden Augen zu sehen. Es sah aus wie jedes andere Baby. Alice gab ihm sein Foto zurück und sagte, er solle sich zum Teufel scheren. Er sei zu lange in der Sonne gewesen. Aber von dem Tag an kam Bill ungefähr sechs Monate lang jeden Monat zu Besuch. Die Aufseher zogen sie damit auf und sagten, sie hätte ein Groupie. Das war keine Seltenheit. Verrückte Typen, die eine Schwäche für unartige Mädchen hatten und ihnen irgendwelchen Mist mitbrachten. Manches von dem Zeug bastelten sie selbst, wie der Jamaikaner, der Diane kleine Schachteln mit aufgeklebten Bildchen gebracht hatte. Manche brachten auch Geld mit.
Winslow bot Alice niemals Geld an, aber meist ging sie hin, wenn er sie besuchte, weil sie dachte, irgendwann könnte er sich vielleicht noch als nützlich erweisen. Jeder war irgendwann mal nützlich, sogar einer, der nicht ganz dicht war. Er erkundigte sich nach ihrer Verteidigung, und als Alice sagte, ihr Anwalt sei ein Idiot, verfinsterte sich sein Gesicht. Sie bemerkte das wohl und gedachte, dies auszunutzen und ihn so weit zu bringen, daß er ihr einen anderen Anwalt besorgte. Am nächsten Tag ließ der Alte die Bombe platzen: Du bist ein Zwilling, Alice. Deine Zwillingsschwester ist die beste Strafverteidigerin hier in der Stadt. Sie weiß bestens Bescheid über die Polizei. Es wird Zeit, daß du dich mit ihr in Verbindung setzt. Zeig ihr das da.
Verdammter Bill. Er hatte ihr einen Umschlag gegeben. Alice warf einen Blick auf das, was im Umschlag war, und hatte das Gefühl, in der Lotterie gewonnen zu haben. Es war ihr egal, ob das, was er sagte, der Wahrheit entsprach, oder ob er komplett verrückt war. Aus diesem Stroh ließ sich Gold spinnen. Das war ihre Fahrkarte nach draußen. Nur eines begriff sie nicht. Warum zum Teufel hast du mir das nicht früher gesagt? Seit einem Jahr verrotte ich in diesem Scheißloch. Ich hätte Rosato längst anrufen können!
Angesichts ihrer offen gezeigten Wut reagierte die Vogelscheuche erschrocken. Der Alte öffnete und schloß die um die Hutkrempe verkrampften Finger. Ich dachte, bei dir läuft alles gut, Alice. Ich dachte, du hast einen guten Anwalt. Mir ist erst jetzt klargeworden, daß du Bennie brauchst.
Was für ein Witz. Alice verlagerte ihr Gewicht in dem durchgelegenen Bett. Bennie Rosato, bekannte Staranwältin, war ihr Zwilling? Und wenn nicht? Sie hatte keine Ahnung, ob Rosato wirklich ihre Zwillingsschwester war, und es interessierte sie einen Dreck. Sie sollte sie nur hier rausholen. Allerdings mußte Alice Rosato davon überzeugen, daß sie Zwillinge waren, und so verfiel sie in emsige Betriebsamkeit. Las Zeitungen und ging in Gedanken immer wieder die Artikel über Rosato und deren Prozesse durch. Suchte im Internet nach der Website von Rosatos Kanzlei, und als sie diese gefunden hatte, prägte sie sich ein, wie die Anwältin aussah und wie sie sich kleidete. Begann mehr zu essen, um ein paar Pfund zuzulegen, und entschloß sich, die Haare wachsen zu lassen, um Rosato ähnlicher zu sehen. Sah sich sogar die Fernsehnachrichten und COURT-TV an, um Rosatos Stimme nachahmen zu können.
Außerdem entwickelte sich Alice zur Zwillingsexpertin. Paukte, als hinge ihr Leben davon ab, was ja auch der Fall war. Ging ins Internet, beschäftigte sich mit Fachliteratur und studierte Webpages über Zwillinge, um sich Details anzueignen, damit sie Rosato die Geschichte überzeugender verkaufen konnte. Beschäftigte sich mit dem medizinischen Aspekt und kam auf die Erinnerungen aus dem Mutterleib, sie mußte alle Register ziehen. Alice hatte nicht viel Zeit, und sie stopfte innerhalb von wenigen Tagen soviel Wissen in sich hinein, wie es nur ging. Fast hatte sie sich selbst überzeugt. Vielleicht war sie adoptiert. Vielleicht war sie wirklich ein Zwilling. Es würde einige Dinge erklären, so zum Beispiel, daß sie nicht gerne allein war. Und daß sie ihren Eltern überhaupt nicht ähnlich war. Sie waren völlig anders als sie. Langweiler. Dummköpfe. Verlierer.
Alice bereitete sich seelisch und äußerlich auf die Begegnung mit Rosato vor. An jenem Abend, als die Anwältin in den Nachrichten kam, wußte sie, daß es soweit war. Rosato war nur kurz im Bild erschienen, aber eine Schwarze, die ebenfalls vor dem Fernseher saß, hatte spontan ausgerufen, Die sieht ja aus wie du, Alice.
Darauf kannst du einen lassen, hatte Alice gedacht. Am nächsten Morgen hatte sie Rosato angerufen, und die Anwältin kam eiligst angerannt. Ihre Begegnung war nicht gerade gut gelaufen, aber Rosato würde wiederkommen. Die Anwältin war etwas durcheinandergeraten, aber dieses Stadium hatte sie sicher bald überwunden. Die Neugier würde siegen. Die Neugier auf Alice. Auf sich selbst.
Eine rundliche Gestalt in Anstaltskleidung schlurfte den Flur entlang und unterbrach Alices Gedankengang. Valencia Mendoza steckte den Kopf in die Zelle. Lange, üppige Locken tanzten um ihr Gesicht, das dank übermäßigem Fett und zu dick aufgetragenem Make-up glatt und hübsch schien. Mit einem lauten Seufzer setzte sich Alice im Bett auf. »Was willst du?« fragte sie, als Valencias billiges Parfüm die Zelle schwängerte. Es überdeckte den Gestank der Toilette, aber Alice war sich nicht sicher, was ihr lieber war.
»Nichts wollen«, antwortete Valencia mit ihrer Piepsstimme.
»Und warum bist du dann hier?«
»Große Sorgen.«
»Ich habe keine Zeit für deine Sorgen.« Was für eine Nervensäge diese Mexikanerin war. Diese Leute gaben gute Hausangestellte ab, waren gewohnt, Befehle zu befolgen, aber sie konnten einem verdammt auf den Geist gehen. »Du hast keinen Grund, dir Sorgen zu machen.«
»Eine Woche von Santo nichts hören«, sagte Valencia unglücklich. »Meine Mutter, die rufen jede Woche an, sagen, wie ihm gehen. Holen ihn an Telefon. Kein Telefon diese Woche. Etwas nicht in Ordnung.«
»Santo geht es gut. Deine Mutter hat gestern ihr Geld gekriegt.« Alice mußte kurz überlegen, sie ging es noch einmal im Kopf durch. Ohne Computer war es schwierig, mit den Zahlungen auf dem laufenden zu bleiben, aber niemand gab Laptops an Häftlinge aus. »Santo geht es gut.«
»Gestern sie kriegen Geld? Warum rufen nicht an?«
»Ich weiß es nicht, Valencia. Ich kenne deine Mutter nicht. Vielleicht hatte sie eine Verabredung.«
Valencias schwarzgeränderte Augenlider flatterten kurz. »Letztes Mal ich sprechen Santo, er wieder Ohrentzündung. Doktor sagen, noch ein Ohrentzündung, er brauchen Tropfen. Das teuer.«
»Willst du mich erpressen, Valencia?« Alices Augen wurden schmal, und Valencias hochrote Nägel flogen hinauf an ihren Hals zu dem blauen Plastikrosenkranz.
»Nein, nein, Alice. Nein. Nicht ich.«
»Das paßt gar nicht zu dir. Ich dachte, du bist ein nettes Mädchen.« Alice musterte ihre Untergebene wachsam. Valencia war die Freundin eines Bantamgewichtlers, und Alice hatte sie auf der Stelle angeheuert. Valencia war klüger als die meisten Mex, immer pünktlich bei der Übergabe und tat stets, was man ihr sagte. Dann wurde sie schwanger, das brach ihr das Genick. Sie hatte Koks in Santos Windelsack versteckt und wurde prompt geschnappt. Der älteste Trick der Welt.
»Bin nettes Mädchen«, sagte Valencia. »Dich nicht erpressen. Nie. Ich nicht.«
»Deine Mutter kriegt jede Woche ihr Geld, wenn du die Klappe hältst. So lautet die Vereinbarung. Du kennst die Vereinbarung, auch wenn du nicht so gut sein mit Englisch?«
»Stimmt.«
»Was stimmt?«
»Ja, ich kennen Vereinbarung.« Valencia nickte. »Ich schwören.«
»Weiter schließt diese Vereinbarung nichts ein. Keine Tropfen, nichts.« Alice stand auf, legte eine Hand auf Valencias weiche Schulter und drückte zu. Es war nicht schwer, die kleine Mexikanerin, die wußte, wozu Alice imstande war, einzuschüchtern. »Wenn du kein nettes Mädchen mehr bist, stelle ich die Zahlungen ein. Was passiert dann mit Santo? Was, Valencia?«
»Ich nichts sagen.« Valencias Augenbrauen rutschten nach unten. Sie waren so dick nachgemalt, daß es aussah, als habe ein Kind in einem Malbuch über die vorgezeichneten Ränder hinausgestrichelt. Genauso sah der kirschrote Lippenstift aus, den sie auf ihren Schmollmund geschmiert hatte.
»Du liebst doch Santo, nicht wahr?« Alice bohrte ihre kräftigen Finger in die Schulter der Mexikanerin.
»‘türlich lieben ich meine Santo. Er mein Baby. Ich nichts sagen.«
»Miguel wird sich nicht um Santo kümmern, oder? Nicht bei den Kämpfen, die er vor sich hat. Zum Teufel, er heiratet dich nicht einmal. Oder wird er dich heiraten?« Tränen stiegen in Valencias Augen, und der Anblick erfüllte Alice mit Abscheu. »Wird er, Valencia?«
»Nein«, antwortete sie, fast nur ein Flüstern.
»Wer kümmert sich um Santo, Valencia?«
»Du.«
»Stimmt. Ich. Vergiß das nicht.« Alice lockerte ihren Griff. »Hör auf zu heulen. Wenn das Baby Tropfen braucht, kriegt es Tropfen. Von mir. Hast du verstanden?«
»Ja.« Valencias Unterlippe bebte, und eine Träne rollte über ihre Wange.
»Was hast du zu tun, Valencia? Weißt du das?«
»Ich wissen.«
»Du hältst die Klappe. Du hältst verdammt noch mal die Klappe.«
»Ich halten verdammt noch mal die Klappe«, wiederholte Valencia und brach in Tränen aus. Alice lächelte grimmig. Valencia war unzweifelhaft ein ungelöstes Problem. Und Alice konnte sich kein ungelöstes Problem leisten, nicht jetzt.