Читать книгу Die Zwillingsschwester - Lisa Scott - Страница 19
Kapitel 16
ОглавлениеBennie fuhr auf der I-95 Richtung Süden. Der Regen verflüchtigte sich dampfend und tränkte den dämmrigen Himmel mit Feuchtigkeit. Sie schaltete die Klimaanlage im Ford nicht ein, die feuchte Luft auf der Wange zu spüren, gefiel ihr sogar. Bear, die den Kopf aus dem hinteren Fenster steckte, genoß es ebenfalls. Sie zeigte ein Hundegrinsen, ihre Zottelohren flogen, und aus ihren Lefzen rannen Speichelfäden. Bennie war zu Hause vorbeigefahren, um den Hund rauszulassen, hatte sich aber durch sein Winseln erweichen lassen, ihn mitzunehmen. Sie überlegte keine Sekunde, ob es eine gute Idee wäre, den Golden Retriever mitzunehmen; wäre sie der Typ Mensch, der sich vorher genau überlegte, was er tat, hätte sie den Connolly-Prozeß nie übernommen. Oder sich zum Beispiel nie auf diesen kleinen Ausflug aufgemacht.
708 Lakeside Drive, Montchanin, Delaware. Die Adresse hatte sie aus dem Besucherbuch des Gefängnisses. Montchanin war nicht weit von Wilmington. Bennie befand sich auf dem Weg zu Bill Winslow. Vielleicht war er ihr Vater, vielleicht auch nicht. In einer halben Stunde wüßte sie mehr. Ihre Finger schlossen sich fester um das Lenkrad. Und wenn Winslow ihr Vater war, hieß das, daß Connolly tatsächlich ihre Zwillingsschwester sein könnte? Sie wechselte auf die linke Spur und schaltete den CD-Player ein. Dann gab es nur noch Bruce Springsteen, immer Bruce Springsteen, und eine freie Straße nach Delaware. Sie strich sich die Haare aus den Augen und beschleunigte zügig.
Nach einiger Zeit verengte sich der vierspurige Highway zu einer zweispurigen Landstraße, die sich durch Städte und vorbei an endlos aneinandergereihten Einkaufszentren mit imitierten Stuckfassaden und Neonschildern zog. Als Bennie bei der zweiten CD aus dem programmierten Stapel angelangt war, hatten Weidezäune und saftig grüne Weiden die Straßenlampen abgelöst. Hundertjährige Bäume bildeten den in allen Grünschattierungen schimmernden Hintergrund. Die Sonne war untergegangen, aber der Himmel leuchtete noch in einem ins Grau übergehenden Blau. Die Feuchtigkeit hatte sich gelegt, als sie weiter nach Süden kam, die Luft duftete süß und erdig. Friedlich grasende Pferde schlugen mit ihren langen Schweifen nach den Stichen der unsichtbaren Mücken. Die Tiere hoben die Köpfe, als Bennie vorbeifuhr, und schauten ihr nach. Der Allrad passierte schmale Landstraßen, die zu derart riesigen Anwesen führten, daß Bennie die Häuser von der Straße aus nicht sehen konnte.
Lakeside Drive. Bennie drosselte das Tempo und hielt Ausschau nach Nummer 708. Sie gab wieder Gas und las die Hausnummern auf verbeulten Briefkästen und die Firmenembleme auf den Alarmanlagen, bis sie zu einem kompakten Briefkasten aus Aluminium mit der 708 kam. Ihr Mund wurde trocken. Sie hatte den Mann gefunden, der ihr Leben lang ein Fragezeichen für sie gewesen war; und jetzt war er der Mann, der im Besitz einer Antwort war, die sie brauchte.
Bennie gab Gas und bog auf die zum Grundstück führende asphaltierte Zufahrt ab. Sie fuhr bis zu einer Gabelung. Rechts ging die schwarze Asphaltstraße als imposante Allee weiter; die linke Abzweigung hatte eine Fahrbahndecke aus Kies und Splitt. Wenn eine dieser Zufahrten zum Haus des Verwalters führte, dann die linke. Bennie entschied sich für diese Abzweigung. Der Wald wurde mit jedem Meter dichter, sie mußte die Scheinwerfer einschalten. Im Wald zirpten laut die Grillen, und in der Ferne wieherte eine Stute nach ihrem Hengst. Unter den mächtigen Reifen des Allrads spritzte hörbar der Kies auf, und Bennie fuhr langsamer. Weiter vorn auf einer Lichtung kam ein weiß verputztes Cottage in Sicht.
Konnte das Winslows Haus sein? Ein üppiger, eingewachsener Blumengarten umgab das einstöckige Haus, als umarme er es. Bennie erkannte weiße und gelbe Tausendschönchen, in Gruppen gepflanzte rosafarbene und rote Rosensträucher und dunkelrote Flammende Herzen in Kombination mit anderen Stauden. In einem erhöhten Beetkasten wuchs Gemüse. Rosarote und lavendelblaue Cosmeen, ein Meer aus langen wohlgeformten Stengeln mit fiedrigen Blättern, schaukelten in der kühlen Abendbrise. Groll stieg in ihr auf. Ihr Vater lebte in einem reizenden Cottage; ihre Mutter lebte in einer psychiatrischen Klinik. Hatte Winslow auch so beschaulich gelebt, als ihre Mutter nacheinander eine Reihe kleiner erbärmlicher Apartments in überfüllten, schmutzigen Blocks in der Stadt mieten mußte, in Philadelphias miesesten Gegenden? Noch dazu mit einem Kind im Schlepptau.
Bennie schaltete die Zündung aus, stieg aus dem Wagen und streckte die Beine. Auf ihrem hinteren Fenster hatte der Fahrtwind versabberten Hundespeichel verteilt, und Bear schlug mit der Pfote gegen die Tür. Bennie ließ den Hund raus. Er sprang auf den Kies, schnüffelte aufgeregt und jagte in großen Sätzen davon. Bennies Herz schlug schneller, als sie auf die in frischem Jägergrün gestrichene Haustür zuging. An dem kleinen Teerpappendach über dem Eingang hingen klingelnde Windglockenspiele. Bennie zwang sich zur Ruhe und klopfte. Nichts. Sie klopfte wieder. Keine Reaktion. Sie lugte durch das viereckige, facettierte Türfenster. Im Haus war alles dunkel, nichts rührte sich. Verdammt.
Bennie sah sich um. Weder in der Auffahrt noch sonstwo war ein Wagen zu sehen. Winslow schien nicht zu Hause zu sein. Sie klopfte lauter. Hatte sie etwa die lange Fahrt umsonst gemacht? Probehalber drehte sie am Türknauf, und die Tür öffnete sich. Verblüfft verharrte sie, aber Bear sauste sofort durch die offene Tür. »Der Teufel soll dich holen!« fluchte Bennie, denn fluchen war bei einem Golden Retriever nie verkehrt. »Hierher! Verdammt!« Zähneknirschend beugte sie sich in den dämmrigen Flur. Was sie sah, versetzte sie in Erstaunen.
Das Cottage war voller Bücher. Bücher säumten die Diele, tapezierten die Wände eines winzigen Wohnzimmers und zogen sich, soweit sie sehen konnte, die Treppenstufen hinauf. Stapelweise lagen gebundene Ausgaben auf Beistelltischchen und in Stößen davor auf einem Läufer. Bear kam von rechts aus einem Raum heraus. »He!« schrie Bennie. »Du ungezogener Hund.« Bear ließ sich auf ihr buschiges Hinterteil fallen, klopfte mit dem Schwanz und lächelte zu ihrer Herrin hinauf. »Schäm dich«, sagte diese und deutete mit dem Finger auf den Boden, aber Bear schnüffelte nur interessiert an ihrer Fingerspitze. Golden Retriever begreifen nie, wenn man mit dem Finger zeigt.
Bennie schnappte den Hund an seinem roten Halsband und sah nach, wo Bear gewesen war; in einer winzigen Küche mit weißem Linoleumboden und fleckenlosen weißgestrichenen Holzschränken. Oben auf den Schränken standen Bücher und eine Schachtel Crackers. In der Küche war es so still wie im ganzen Cottage. »Winslow?« rief sie von der Diele aus. »Jemand zu Hause?« Keine Antwort, kein Laut. Bennie wartete und lauschte, und dabei kam ihr wie von selbst eine Idee. Winslow war nicht zu Hause, aber vielleicht konnte ihr sein Cottage die Antworten geben, nach denen sie suchte. Sie straffte die Schultern. Bis zu diesem Moment eine gestrenge Hüterin der Freiheit des einzelnen machte sich Bennie nun daran, das Haus zu durchsuchen und gegebenenfalls Beweise zu beschlagnahmen.
Sie ging in das Wohnzimmer. Es war sparsam möbliert, ein geblümtes Sofa und ein Chintzsessel waren die einzigen Sitzgelegenheiten. Sie knipste die Keramiklampe auf dem Beistelltisch an, und warmes gelbes Licht fiel auf die in den Regalen stehenden Bände. Sie las die Namen der Autoren. Milton. Spenser. Sandburg. Chaucer. Frost. Bennie zog ein dünnes Taschenbuch aus einem Fach. Ein Gedichtband von Ferlinghetti. Sie blätterte die Seiten durch, die durch Nässeeinwirkung wellig geworden waren. Die Seiten waren abgegriffen, der schmale Buchrücken angeknackst. Ferlinghetti war also gelesen worden, zumindest einmal. Von Winslow? Das paßte nicht zu dem Bild, das sie sich die wenigen Male, die sie an ihn gedacht hatte, von ihm gemacht hatte. Sie blätterte wieder zur ersten Seite und suchte nach einer Widmung oder dem Stempel einer Bibliothek. Nichts. Sie klappte das Buch zu und ging zum nächsten Regal.
Romane, meist Klassiker. Eine amerikanische Tragödie. Ulysses. Robinson Crusoe. Die Göttliche Komödie. Die Besessenen. Die Autoren zählten zu den besten: John Steinbeck, P.G. Wodehouse, Aldous Huxley, S.J. Perelman. Eine literarische Vorliebe ließ sich nicht erkennen, es war alles vertreten. Konnte sich ein Mann, der klug genug war, S.J. Perelman zu schätzen, durch Finnegan’s Wake kämpfen? Hatte Winslow alle diese Bücher tatsächlich gelesen? Bennie drehte sich um und ließ den Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Nirgendwo ein Fernseher oder eine Stereoanlage, nur ein altes Telefon mit Wählscheibe. Sie sah kein Radio, nichts hing an den Wänden. Die Wand hinter dem Sofa war mit neueren Büchern bestückt, und sie ging hinüber, um sich die Titel anzusehen. Rosenzucht. Gärtnerleitfaden für Stauden. Schöne Gärten auf kleinem Raum. Bennie fuhr mit einem Finger an den Buchrücken entlang. Keine Staubspur.
Aus ihren bisherigen Entdeckungen zog sie rasche Schlußfolgerungen, ihre Spezialität. Winslow war ein ordentlicher Mann, der ohne jede Berührungsangst die unterschiedlichsten Bücher sammelte und offensichtlich auch las. Er hegte und pflegte einen herrlichen Garten, also liebte er die Natur und schöne Dinge. Trotz seines Alters hielt er sein Heim tadellos in Schuß, also war er diszipliniert und scheute keine Arbeit. Er verwaltete ein großes Anwesen, also war er, das Alter seines Gartens zugrunde gelegt, immerhin so verantwortungsvoll, daß er über lange Zeit seine Anstellung innehatte. Alles in allem, Winslow war ein netter, zuverlässiger Bursche. Mal abgesehen davon, daß er eine Mutter und ein Baby im Stich gelassen hatte. Vielleicht auch zwei Babys.
Bennie konnte nicht anders, sie mußte es unbedingt wissen. Sie durchsuchte die Regale, lugte zwischen die Bände und tastete hinter die Bücher. In diesem Haus mußte etwas sein, was ihr mehr über Winslow verriet. Sie ging in die Küche und sah in die allesamt ordentlichen und sauberen Küchenschränke und öffnete sogar den Kühlschrank, doch der war leer bis auf eine Flasche französischen Merlot. Sie eilte die Treppe hinauf, Bears Krallen klackten dicht hinter ihr. Oben gelangte sie auf einen kleinen Vorplatz, von dem links ein Badezimmer abging, daneben ein Arbeitszimmer, schließlich das Schlafzimmer. Sie trat in das Arbeitszimmer und fand den Schalter einer Deckenlampe, die den Raum nur spärlich erhellte.
Auch das Arbeitszimmer war vollgestopft mit Büchern und unterschied sich bis auf einen kleinen Schreibtisch, auf dem ein alter grüner Tintenlöscher lag, nicht vom übrigen Haus. Nach kurzem Zögern öffnete Bennie die erste Schreibtischschublade. Sie erwartete, Rechnungen, Belege oder Quittungen zu finden. Aber da war nichts, was ihr Aufschluß über Winslow hätte geben können. Merkwürdig. Das zweite Schubfach enthielt Bleistifte und Kugelschreiber, Klebeband in einem Plastikspender, Klebstoff, Scheren, Büroklammern. Sie machte die Schublade zu und zog die nächste auf. In dieser lag stapelweise schweres schwarzes Papier. Sehr merkwürdig. Nur schwarzes Papier? Bennie nahm einen Bogen heraus und befühlte ihn. Die geschmeidige Struktur erinnerte sie an die schwarzen Papierreste auf der Rückseite der Fotos. Das Gewicht entsprach dem Papier in einem Foto- oder Sammelalbum. Bennie fiel ein, was Connolly im Gefängnis gesagt hatte.
Er hat alle Ausschnitte über dich.
Zeitungsausschnitte! Wo bewahrte er sie auf? Hatte Connolly sie angelogen? Hatte Winslow Connolly angelogen? Bennie überlegte. Die Ausschnitte könnten in eine Art Sammelalbum eingeklebt worden sein, das sich auf einem Regal zwischen den anderen Büchern befand. Bennie legte das Papier zurück, schloß die dritte Schublade und suchte in den Regalen nach einem Sammelalbum. Da standen Bücher über den Zweiten Weltkrieg, die Römische Kultur, den amerikanischen Sezessionskrieg und die britische Monarchie. Sie tastete hinter Biographien von Gustave Flaubert und Benjamin Franklin herum. Keine Zeitungsausschnitte.
Sie verließ das Arbeitszimmer und eilte in das Schlafzimmer. Entsetzt sah sie, daß Bear auf dem Boden lag und eine Rolle Toilettenpapier in mundgerechte Bissen zerkaute. »Sehr hilfreich, wirklich, Lassie«, schimpfte Bennie und zerrte dem Hund die nasse Rolle aus dem Maul. Sie bückte sich und hob die zernagten, zu Klumpen verklebten Toilettenpapierfetzen auf. Dabei fiel ihr Blick auf einen Gegenstand, der sich im Dunkel unter dem Bett verbarg. Einen großen Behälter aus Plastik.
Bennie legte das Toilettenpapier hin und schaute unter das Bett. Bear, das Hinterteil schwanzwedelnd in die Luft gestreckt, schaute ebenfalls nach. Sie schob den Hund mit Nachdruck beiseite, griff unter das Bett und zog den Kasten hervor. Der quadratische Behälter mit dem blauen Plastikdeckel maß nicht ganz einen Meter. Sie klappte den Deckel auf. Im Innern befanden sich in mehreren Lagen übereinander kleine, selbstgebastelte Bücher, von links nach rechts je sechs nebeneinander. Bennie nahm das zuoberst liegende Büchlein heraus und stellte fest, daß die Seiten dem schwarzen Papier in der Schublade im Arbeitszimmer entsprachen. Und dem auf der Rückseite der Fotos.
Sie starrte auf das geschlossene Buch in ihrer Hand. Es war nur zehn Seiten stark, und der Einband bestand aus dünnem, mit einem Dreiloch-Locher gelochten und von herkömmlichem Bindfaden zusammengehaltenem Karton. Hatte sie ein Recht, hineinzusehen? Wollte sie es? Bennie schlug die erste Seite auf. Sie schaute auf ein Schwarzweißfoto von einem kleinen Jungen auf einem Pinto-Pony. Die beiden schienen auf der Vorstadtstraße, auf der sie standen, völlig fehl am Platz. Der Junge war mit Halstuch und Cowboyhut ausstaffiert. Winslow? Bennie hätte zu gern auf der Rückseite des Fotos nachgesehen, aber es war eingeklebt. Wenn sie es herausriß, merkte er, daß sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Sie blätterte die Seite um. Es verschlug ihr den Atem.
Ein Schnappschuß von Winslow und ihrer Mutter. Es gab keinen Zweifel. Er zeigte das gleiche maskuline Grinsen und trug ein T-Shirt wie das auf dem Foto, das ihr Connolly gegeben hatte. Dieses Foto könnte die nächste Aufnahme auf dem gleichen Film gewesen sein, und Bennie kam in den Sinn, daß es ihre Mutter gewesen sein könnte, die das Bild aufgenommen hatte. Wieder schaute sie das Foto an, sie sog es förmlich in sich ein. Ihre Mutter sah aus wie etwa neunzehn und hatte sich bei Winslow eingehakt. Ihr geschminkter Mund lächelte fröhlich, und ihre Augen strahlten vor Glück.
Ihre Mutter? Ihr Vater? Bennie versuchte, das Foto herauszutrennen, aber nicht mit Gewalt. In welchem Jahr war es aufgenommen worden? Wenn ihre Mutter ungefähr neunzehn war, konnte das höchstens ein paar Monate vor ihrer Schwangerschaft mit Bennie gewesen sein. Und mit Connolly?
Bennie blätterte die Seite um. Die nächste war leer, die oberste Schicht des Papiers war an den Stellen beschädigt, an denen die Ecken eines Fotos hätten sein sollen. Sie strich mit einem Finger über die rauhen Flecken. Die Papierstruktur entsprach der Beschaffenheit der Rückstände hinten auf den Fotos, die Connolly ihr gegeben hatte. Waren die Fotos diesem Buch entnommen worden? Bennie blätterte weiter. Ein Foto aus dem Krieg. Ein Gruppenbild von Fliegern. Sie entdeckte Winslow rasch, aber das brachte sie im Hinblick auf Connolly nicht weiter. Die nächste Seite. Ein Bomber mit einem aufgemalten Pin-up auf dem genieteten Bug. Winslow und zwei andere Piloten posierten davor. Gab es auch Fotos von Connolly und ihr?
Die letzte Seite war leer, auch dieses Bild war herausgenommen worden. War auf dieser Seite das Foto von Winslow und den beiden Babys eingeklebt gewesen? Bennie kratzte über das dicke Papier, und Fasern sammelten sich unter ihrem Nagel. Sie betrachtete die ineinander verhedderten Fäden, und Bear beugte sich vor, um daran zu schnüffeln. Sie schloß das Buch und nahm das nächste heraus. Kein selbstgebasteltes Fotoalbum, sondern ein selbstgebasteltes Einklebebuch mit Zeitungsausschnitten.
Die Ausschnitte.
Bennie überflog die erste Seite, eine Liste von Jurastudenten, die das Examen bestanden hatten. Trotz der winzigen Buchstaben hatte sie keine Mühe, ihren Namen zu finden, er war mit Bleistift umrandet. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Winslow hatte die Liste vor Jahrzehnten ausgeschnitten und in das Buch geklebt. Sie blätterte weiter. Ein Ausschnitt aus dem Inquirer fünf Jahre später, eine kurze Erwähnung, daß Bennie einen Guillermo Diaz in einem Mordprozeß erfolgreich verteidigt hatte. Wieder war ihr Name mit Bleistift eingekreist. Auf der folgenden Seite kam ein Bericht über einen anderen Mordprozeß, in dem sie die Verteidigung übernommen hatte, und sie wurde zitiert: »Das ist ein Prozeß, den sich nur ein Idiot antut. Muß ich noch mehr sagen?«
Bennie zuckte zusammen, ohne zu wissen, ob wegen der Überheblichkeit des Zitats oder weil auch dieses wieder von der gleichen sorgfältigen Hand eingekreist worden war. Der Rest des Buches war vollgeklebt mit Ausschnitten, das nächste ebenso und das danach. Die selbstgebastelten Einklebealben – fünfzehn an der Zahl – beinhalteten eine chronologische Abfolge ihrer Karriere und ihres Lebens. Die Erkenntnis erschütterte sie. Winslow mußte ihr Vater sein, und in irgendeiner Form nahm er Anteil an ihr.
Innerlich zutiefst aufgewühlt, starrte Bennie auf das Einklebealbum; in ihr tobte ein explosives Gemisch aus Zorn, Belustigung und Bestürzung. Daß sich die Gefühle nicht im einzelnen benennen ließen, nahm ihnen nichts von ihrer Stärke. Sie hatte immer gewußt, daß ihr Vater Winslow hieß, aber nun wußte sie auch, wie sein Gesicht aussah und wie er lebte. Er führte ein einfaches Leben. Er liebte Bücher und pflegte Stauden. Und als junger Mann hatte er bei den Bombern gedient und ihre Mutter geliebt. Eine Nacht lang.
Bennie ermahnte sich. Denk wie eine Anwältin, nicht wie eine Tochter. Die Einklebealben bewiesen lediglich, daß Winslow ihre Mutter gekannt und sich über Bennies Leben auf dem laufenden gehalten hatte. Das war zu mager, um daraus schließen zu können, daß Winslow ihr Vater war oder daß er sie liebte. Und in den Ausschnitten stand nichts über Connolly, nichts sprach für oder gegen ein Verwandtschaftsverhältnis. Bennie klappte das Album zu und legte es zuoberst auf den Stapel. Einen Moment lang blieb sie regungslos sitzen, dann legte sie die Alben in der Reihenfolge, in der sie sie herausgenommen hatte, wieder in den Kasten. Zuletzt kam das mit den fehlenden Fotos an die Reihe. Mit den Fingerballen rieb sie über den dunklen, rauhen Einband. Es war alles, was sie von einer im dunkeln liegenden Vergangenheit hatte, darum wollte sie es noch einen Augenblick länger in Händen halten. Ihre Finger schlossen sich um die Rückseite des Albums, und sie fühlte etwas Kühles, Papierdünnes, Glattes.
Sie drehte das Album um. Auf der Rückseite klebte ein kleiner, rosaroter Umschlag. Bennie hatte ihn zuvor übersehen. Sie hielt das Album seitlich, damit sie lesen konnte, was auf dem Umschlag stand. Die Tinte war verblichen und fleckig. Für Bill, las sie, geschrieben von einer Frauenhand. Der Hand ihrer Mutter. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Bennie hatte die Handschrift ihrer Mutter tausendmal gesehen, auf Vollmachten für Anwälte, auf Entlassungsscheinen aus dem Krankenhaus und auf Zustimmungserklärungen für eine Behandlung. Was Bennie in Händen hielt, war ein Brief ihrer Mutter an ihren Vater.
Sie spürte einen Kloß im Hals. Nie hatte sie die beiden ein einziges Wort miteinander wechseln hören, und nun konnte sie ihre geheimsten Gedanken lesen. Sie löste den Umschlag von dem Album.