Читать книгу Die Zwillingsschwester - Lisa Scott - Страница 18
Kapitel 15
ОглавлениеJudy saß Mary, die die Connolly-Akte ordnete, im Konferenzzimmer gegenüber und tippte auf ihrem Laptop einen Schriftsatz. Schon seit ewigen Zeiten arbeiteten sie so zusammen, bis spät in die Nacht beschäftigt mit Prozeßvorbereitungen, eingekerkert in einer Operationsbasis, an einem übervollen Konferenztisch, auf dem aufgeschlagene juristische Bücher lagen und chinesisches Essen in Pappbehältern stand.
»Du spinnst«, sagte Judy und drückte auf die Entertaste.
»Du warst heute nicht im Gericht, aber ich.« Mary klebte ein orangefarbenes Etikett auf den Bericht des Gerichtsmediziners und kennzeichnete ihn damit als Beweisstück D11. »Ich habe es gesehen. Sie. Alle beide. Ich sage dir, Connolly ist Bennies Zwillingsschwester.«
»Das glaube ich nicht.« Judy hörte auf zu tippen. »Bennie hat nie von einer Zwillingsschwester gesprochen. Sie ist verschlossen, aber so verschlossen nun auch wieder nicht.«
»Ich kann dir nichts weiter sagen, als daß Bennie und Connolly Zwillinge sind. Die gleiche Gesichtsform, die gleiche Größe, die gleichen Augen. Und die beiden sind nicht nur Schwestern. Das sind Zwillinge, ich spüre das.«
»Wie das denn?«
»Weil ich ein Zwilling bin. Zwillinge wissen so was.«
»So langsam hörst du dich an wie ich.« Judy legte den Kopf schräg, und ihre gerade abgeschnittenen Haare fielen zur Seite. »Du hast eine Zwillings-Schwingung, heißt das im Klartext.«
»Katholiken glauben nicht an Schwingungen. Verlaß dich einfach auf mich, das sind Zwillinge.«
»Wenn sie einander wirklich so ähnlich sehen, wieso ist es sonst niemandem im Gerichtssaal aufgefallen?«
»Kein Mensch hat sie richtig angesehen, alle haben einfach Schema F durchgezogen. Und Connolly und Bennie sehen schon verschieden aus. Connolly ist dünn und hat rote Haare. Sie trägt Make-up, sie ist hübsch. Bennies Haar hat dieses fade Blond und wirkt ein bißchen unordentlich, und sie sieht immer aus, als würde sie einfach anziehen, was ihr als erstes in die Hände fällt, als lege sie keinen großen Wert auf ihr Äußeres.« Mary war mit dem Sortieren und Etikettieren der Beweisstücke fertig. »Außerdem war es einfach zu abwegig.
Mein Gott, Bennie ist eine hochkarätige Rechtsanwältin, und Connolly sitzt im Staatsgefängnis. Die eine ist eine Siegerin, die andere eine Verliererin. Da hat niemand eine Verbindung hergestellt.«
»Was soll das nun wieder heißen? Entweder Bennie und Connolly sehen aus wie Zwillinge, oder sie sehen nicht so aus.«
»Das muß nicht zwangsläufig immer so auffallend sein. Bei mir und Angie ist das nicht anders. Es gab mal eine Zeit, ich weiß nicht, ob du dich noch erinnerst, ganz am Anfang bei Stalling? Ich war Mitarbeiterin im zweiten Jahr. Ich hatte zwanzig Pfund abgenommen. Mein Gesicht war richtig eingefallen, ich bekam ständig rote Flecken, ich sah furchtbar aus. So schlimm habe ich in meinem ganzen Leben nicht ausgesehen.«
»Noch schlimmer als jetzt?«
»Halt den Mund. Ich erinnere mich, wie Angie ins Kloster ging. Wir durften die Zeremonie hinter einer geschnitzten Holztrennwand verfolgen. War das nicht enorm großzügig von ihnen?«
Judy lächelte. »Wenn du deine Religion nicht hättest, würde dir was fehlen. Dann hättest du nichts, worauf du herumhacken könntest.«
»Doch, hätte ich, wie wär’s mit meinem Beruf? Laß gut sein. Ich habe damals Fotos von mir und Angie gemacht, und wenn du dir die ansiehst, kämst du nie auf die Idee, daß wir eineiige Zwillinge sind. Da steht Angie, absolut glücklich und mit sich im reinen. Entspannt, erfüllt. Auf du und du mit dem Heiligen Geist.«
»Den Heiligen Geist kann man duzen? Hat er denn einen Vornamen?«
»Natürlich, Al. Du kannst Al zu ihm sagen. Würdest du vielleicht mal den Mund halten, damit ich weiterreden kann, ja? Also auf dem Foto sah ich so furchtbar aus wie nie, und Angie sah so gut aus wie nie. Sie war gerade Nonne geworden, und ich war eine völlig überarbeitete Mitarbeiterin einer großen Anwaltskanzlei. Sie diente Gott, ich diente dem Satan.«
»Schon begriffen«, sagte Judy, doch Mary ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.
»Du kennst doch diese Anzeigen mit den ›Vorher-Nachher‹-Fotos? Ich sah aus wie das ›Vorher‹-Foto und Angie wie das ›Nachher‹-Foto. Ich in meinem Kostüm und sie in ihrer Nonnentracht, das hat den Eindruck noch verstärkt.« Mary trank einen Schluck kalten Kaffee aus einem Plastikbecher. »Aber es ändert nichts, wenn man sich verschieden anzieht wie Connolly und Bennie im Gericht. Man merkt es ohnehin nicht nur an Äußerlichkeiten.«
»Sondern?«
»Ob man Zwillinge vor sich hat, merkt man an anderen Dingen. Ich kannte zweieiige Zwillinge in der Schule. Sie saßen näher beieinander als andere Menschen. Wenn sie miteinander sprachen, standen sie nah beisammen. Sie waren einfach daran gewöhnt, sich körperlich nahe zu sein. Sie wurden zueinander hingezogen wie zwei Fleischklößchen in einer Schüssel. Bei Angie und mir war es auch so.«
»Ist ja cool.« Judy auf ihrem Drehstuhl richtete sich interessiert auf, und Mary hatte plötzlich das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Es tat gut, sich als etwas Besonderes zu fühlen, wenn auch nur aufgrund eines Zufalls bei der Zeugung.
»Bei Zwillingen gibt es Dinge, die anderen nicht auffallen. Niemand außer einem Zwilling merkt das. Wenn ich Angie ansehe, sehe ich mich. Es ist nicht nur ihr Aussehen, es ist die Art und Weise, wie sie sich verhält.«
»Was genau?« fragte Judy, obwohl sie eine vage Vorstellung hatte. Sie kannte Angie nicht besonders gut, trotzdem war es ihr aufgefallen. Es war, als wäre Marys Zwillingsschwester eine Reflexion von Mary. Die gleiche Person, aber nicht dieselbe. Physisch geklont, aber emotional ein anderer Mensch.
»Kennst du Angies Körpersprache? Sie sitzt wie ich. Immer schiebt sie ihren rechten Fuß unter ihren Hintern, wie ich. Außerdem spricht sie zu schnell, wie ich. Meine Mutter muß sie bitten, alles zu wiederholen. Ich bin die einzige, die Angie auf Anhieb versteht.«
Judy spottete: »Das zählt nicht. Ihr redet beide mit dem Akzent von Süd-Philadelphia. Kein Mensch versteht eine von euch auf Anhieb.«
»Das habe ich überhört. Es ist der Tonfall. Und die Gestik, die Art und Weise, wie sie mit den Händen redet.«
»Ihr seid beide Italienerinnen.«
»Schuldig im Sinne der Anklage.« Mary überlegte kurz. »Uns gefallen die gleichen Kleider. Wenn wir einkaufen gehen, zanken wir uns um das gleiche Kleid. Das passiert andauernd.«
»Das zählt nicht. Ihr seid zusammen aufgewachsen. Ihr habt in Kleidungsfragen den gleichen Geschmack entwickelt. Haben eure Eltern euch nicht sogar gleich angezogen, als ihr noch klein wart?«
»Stimmt, immer. Die gleiche Geburtstagsparty, die gleichen Spielsachen. Bis wir drei Jahre alt waren, haben wir einander mit dem Namen angeredet, der uns gerade in den Sinn kam. Angie, Mary, für uns war das eins.« Mary überlegte angestrengter. »Aber da sind noch andere Dinge. Im Wesen bedingt, nicht durch Erziehung geprägt. Dinge, die man nicht anerziehen kann. Ich spreche ihre Sätze zu Ende.«
»Wir sprechen gegenseitig auch unsere Sätze zu Ende.«
»Das kommt daher, weil du andauernd vom Essen sprichst. Das ist nicht das gleiche.«
Judy schnalzte eine Büroklammer nach ihr. »Was ist der Unterschied?«
»Na ja, manchmal weiß ich, was Angie gerade denkt. Ich wußte es, als sie im Kloster unglücklich war. Ich wußte, wann sie sich Sorgen um mich oder um meinen Vater machte. Ich weiß, wann sie daran denkt, mich anzurufen. Sehr oft nehme ich den Hörer ab, um sie anzurufen, und es ist besetzt, weil sie gerade versucht, mich anzurufen.«
»Vielleicht ruft ihr euch jede Woche immer um die gleiche Zeit an.«
»Tun wir nicht. Es passiert ständig.« Marys Stimme wurde weich. »Nachdem sie aus dem Kloster ausgetreten war und sich für den Lehrgang für Rechtsbeistände beworben hatte, wußte ich, daß sie die Aufnahme geschafft hat. Ich fühlte einfach, wie froh sie war. Ich wußte es in derselben Minute, in der sie es erfuhr. Ich war in der Bibliothek und habe an einem Schriftsatz gearbeitet. Und urplötzlich spürte ich etwas in meinem Innern, als würde ich von Gefühlen überwältigt. Als hätte ich etwas Tolles erreicht. Und in dem Moment, in dem ich dieses Gefühl hatte, sagte eine innere Stimme zu mir: ›Ich habe es geschafft.‹ Nicht ›Angie hat es geschafft.‹ ›Ich habe es geschafft.‹ Es war, als dächte ich ihre Gedanken.«
»Wow.« Judys porzellanblaue Augen weiteten sich. »Wie Telepathie.«
»Nicht direkt. Bleib auf dem Teppich.« Mary errötete, sie bereute, darüber gesprochen zu haben. Außer mit Angie hatte sie noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Und selbst Angie fand, es klinge überspannt. Sie wollte das Thema wechseln, aber Judy beugte sich über den Konferenztisch zu ihr herüber.
»Du hast telepathische Fähigkeiten, Mare! Du und deine Zwillingsschwester. So ist das.«
»Nein, habe ich nicht.«
»Doch, hast du. Du dachtest ihre Gedanken. Kannst du sie empfangen, jetzt auf der Stelle?«
Mary verdrehte die Augen. »Nein, du Idiot. Das ist doch nicht wie beim Radio.«
»Schalte sie ein. Rufe sie. Tu, was immer nötig.«
»Nein. Hör auf. Du redest, als ginge es zu wie in einem Gruselfilm. Aber ich kann mit meinen Augen keine Gegenstände in Bewegung setzen.« Mary zog die Polizeiakte heran und schlug sie auf. »Wir sollten weiterarbeiten.«
»Kann Angie auch deine Gedanken lesen?«
»Das weiß ich nicht. Mach dich ah die Arbeit.«
»Doch, du weißt es. Sag es mir.«
»Wir stecken bis über beide Ohren in dringender Arbeit. Kümmere dich um deinen Schriftsatz. Und erzähl bloß keinem Menschen ein Wort von dem, was ich dir erzählt habe, okay?«
»Okay. Schön.« Judy schwieg. Wenn Mary dieses Thema zu persönlich war, wollte sie nicht weiter insistieren. Sie wollte sie nicht aufregen. Aber was Mary gesagt hatte, könnte Auswirkungen auf den Connolly-Prozeß haben. Schlagartig befiel Judy Unbehagen. »Mare, wenn Bennie Connollys Zwillingsschwester ist, sollte sie sie nicht in einem Mordprozeß vertreten. Dann kann sie die Fakten nicht objektiv bewerten. Dann wird sie von ihren Emotionen gesteuert. So wie sie vorhin in der Wohnung ausgerastet ist, fürchte ich, könnte das bereits der Fall sein.«
Mary hob den Blick von der Akte. »Natürlich wird sie von ihren Emotionen gesteuert, aber sie muß den Fall übernehmen. Ohne zu überlegen. Ohne zu fragen. Es ist eine rein gefühlsmäßige Entscheidung. Wenn Angie in Schwierigkeiten ist, bin ich da. Wenn Connolly Bennies Zwillingsschwester ist, muß Bennie sie verteidigen. Punkt. Ob das nun vernünftig ist oder nicht. Sie steckt in einer Sackgasse.«
Judy dachte darüber nach. »Du beweist ungewöhnlichen Scharfsinn, Grashüpfer.«
»Nur eine meiner übersinnlichen Fähigkeiten«, sagte Mary und widmete sich entschlossen ihrer Arbeit.