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Kapitel 2

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Bennie starrte die Gefangene fassungslos an. Ihre Zwillingsschwester? »Meine Zwillingsschwester? Soll das ein Witz sein?«

»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete Connolly. Sie ließ ihre Hand, die nicht ergriffen worden war, sinken und kehrte die Handfläche nach oben. »Sieh mich doch an.«

Langsam schüttelte Bennie den Kopf. Es war unmöglich. Trotz der äußerlichen Ähnlichkeit strahlte die andere eine Kälte aus, die Bennie beim Blick in den Spiegel nie aufgefallen war. Der Vergleich zwischen der Fremden und ihr selbst schien wie der zwischen einem Leichnam und einer lebendigen Person. »Mag sein, daß wir uns ähnlich sehen, aber Zwillinge sind wir bestimmt nicht.«

»Es kommt nur zu plötzlich für dich. Ich verstehe das, mir ging es genauso. Trotzdem, es stimmt.«

»Das kann gar nicht sein.« Bennie konnte es nicht fassen.

Unentwegt schüttelte sie den Kopf. Aus dem Gesicht einer Gefangenen blickten sie ihre eigenen Augen an. »Bei Ihrem Anruf haben Sie kein Wort davon gesagt, Connolly. Sie sagten lediglich, Sie bräuchten einen neuen Anwalt.«

»Ich wollte es dir nicht am Telefon sagen, du wärst sonst nicht gekommen. Du hättest mich für verrückt erklärt.«

»Das sind Sie auch.«

»Du wußtest nicht, daß ich existiere, was? Ich wußte bis vor kurzem auch nichts von dir.« Connolly setzte sich auf der anderen Seite des Tisches und deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. »Setz dich lieber, du siehst ein wenig blaß aus. Ein komisches Gefühl, wenn man erfährt, daß man einen Zwilling hat, ich verstehe das völlig, mir ist es erst neulich so ergangen.«

»Das ist verrückt. Ich habe keine Zwillingsschwester.« Bennie sank auf den Plastiksitz auf ihrer Seite des Tisches und gewann langsam ihre emotionale Sicherheit zurück. Benedetta »Bennie« Rosato, fast vierzig Jahre alt, war das einzige Kind einer kränkelnden Mutter und eines Vaters, den sie nie kennengelernt hatte. Sie hatte keine Zwillingsschwester, sie hatte eine Anwaltskanzlei. Plus einen jüngeren Freund und einen Golden Retriever. »Ich habe keine Zwillingsschwester«, wiederholte Bennie im Brustton der Überzeugung.

»Doch, hast du. Laß dir Zeit. Das muß sich erst setzen. Wie du siehst, haben wir die gleiche Statur. Ich bin über einsachtzig groß, du auch. Ich wiege hundertfünfundzwanzig Pfund. Du bist schwerer, aber nicht sehr viel, stimmt’s?«

»Ich wiege zwanzig Pfund mehr.«

»Das liegt an den Muskeln. Trainierst du?«

»Ich rudere.«

»Rudern?« Connolly taxierte Bennie kritisch. »Dadurch sind deine Schultern zu kräftig geworden. Weißt du, du solltest ein bißchen abnehmen, mehr für dich tun. Du hast ein hübsches Gesicht, aber dein Make-up ist zu dezent, und dein Haar, das braucht einen Schnitt und mehr Farbe. Ich habe draußen eine Freundin, die macht dir eine tolle Frisur. Willst du meine Farbe?«

»Nein, danke«, sagte Bennie verdutzt.

»Sieh mal, für mich ist es auch komisch, wenn ich dich ansehe. Irgendwie total abgefahren. Eine Frau, die aussieht wie ich ohne Make-up. Du bist eine Zweitausgabe von mir.«

»Ich bin keineswegs eine Zweitausgabe von Ihnen«, widersprach Bennie automatisch. Schon der bloße Gedanke. Eine Gefangene, eine Mörderin möglicherweise. »Nur weil wir uns ein bißchen ähnlich sehen, sind wir noch lange keine Zwillinge. Viele Menschen sehen sich ähnlich. Zu mir sagen oft irgendwelche Leute: ›Ich kenne jemanden, die ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnittene«

»Das ist etwas ganz anderes. Sieh dir mein Gesicht an. Traust du deinen eigenen Augen nicht?«

»Nicht unbedingt. Ich bin Prozeßanwältin, das letzte, worauf ich mich verlasse, ist der äußere Schein. Außerdem weiß ich Bescheid über meine Familie.«

»Du kennst nur die halbe Geschichte. Ich bin die andere Hälfte. Hör doch. Ich klinge sogar wie du. Meine Stimme.« Connolly sprach schnell und bestimmt, vage Anklänge an Tonfall und Modulation der Anwältin waren nicht zu leugnen.

»Könnte sein, Sie verfolgen damit einen bestimmten Zweck.«

»Du meinst, ich täusche alles vor? Warum sollte ich?«

»Um mich soweit zu bringen, Ihren Fall zu übernehmen.«

»Du glaubst, ich lüge dich an?« Connollys Stirn legte sich in kummervolle Falten. Sie sah nun genauso aus wie Bennie, wenn sie bedrückt war, und sofort bedauerte die Anwältin ihre Worte, wenn auch nicht ihre Gedanken.

»Was soll ich denn sonst denken?« Bennie war voller Abwehr. »Ich glaube, daß hier etwas ganz entschieden nicht stimmt. Ich habe keine Zwillingsschwester. Es gibt nur mich und hat immer nur mich gegeben, mein ganzes Leben lang. Punkt.«

Herausfordernd hob Connolly den Kopf. »Ich wurde am 7. Juli 1962 geboren, genau wie du. Wie könnte ich in diesem Punkt etwas manipulieren?«

»Was meinen Geburtstag angeht? Den herauszufinden gibt es viele Möglichkeiten. Er steht zum Beispiel in der Liste der ehemaligen Studenten, im Martindale-Hubbell, im Who’s who der amerikanischen Anwälte, er wurde weiß Gott wie oft veröffentlicht.«

»Wir kamen im Pennsylvania Hospital zur Welt.«

»Fast ganz Philadelphia kam im Pennsylvania Hospital zur Welt.«

Connollys blaue Augen wurden schmal. »Du wurdest zuerst geboren, morgens um neun. Ich fünfzehn Minuten später. Bei der Geburt wogst du zehn Pfund. Woher könnte ich das wissen, ha?«

Bennie wurde unsicher. Es stimmte. Sie war morgens um neun zur Welt gekommen. Sie dachte oft, genau pünktlich zum Arbeitsbeginn. Hatte sie das je erwähnt, vielleicht in einem Interview? »Das läßt sich alles leicht feststellen. Geburtsaufzeichnungen sind öffentlich einsehbar.«

»Aber nicht die genaue Uhrzeit deiner Geburt, nicht dein damaliges Gewicht. Diese Daten sind nicht allgemein zugänglich.«

»Wir leben im Informationszeitalter, alles ist für jeden zugänglich. Vielleicht haben Sie aber auch nur auf gut Glück geschätzt. Du meine Güte, jeder der mich ansieht, kann schätzen, daß ich bei der Geburt zehn Pfund gewogen haben muß. Ich bin eine Amazone.«

»Okay, wie wär’s damit?« Connolly stützte sich auf die mageren, aber kräftigen Arme und beugte sich vor. »Unsere Mutter heißt Carmella Rosato, unser Vater William Winslow.«

Bennies Mund wurde trocken. Das waren die Namen ihrer Mutter und ihres Vaters. Der Name ihres Vaters war nie irgendwo veröffentlicht worden. »Woher wissen Sie das?«

»Weil es wahr ist. Unser Vater hat uns vor unserer Geburt verlassen. Carmella hat ihr zweites Zwillingsmädchen weggegeben. Mich.« Connollys Gesicht verzog sich bitter, aber Bennie entging nicht, daß sie der Frage auswich.

»Ich habe Sie gefragt, woher Sie den Namen meines Vaters kennen.«

»Bill und ich verstehen uns gut. Sehr gut.«

»Bill? Sie und mein Vater verstehen sich gut?«

»Ja. Ein sehr netter Mann. Er arbeitet als Grundstücksverwalter. Das wußtest du nicht, stimmt’s? Bill hat mir erzählt, daß er dich nie kennengelernt hat und daß Carmella zu krank war, um sie zu besuchen. Was fehlt ihr denn, unserer Mutter? Bill will nicht darüber reden.«

Unserer Mutter? Völlig konfus schüttelte Bennie den Kopf. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Connolly an diese Informationen über ihren Vater herangekommen war. Ihre Mutter hatte den Mann gehaßt, der sich noch vor der Hochzeit verdrückt hatte, und seitdem Bennie erwachsen war, war ihr Vater für sie unerheblich geworden, höchstens eine Fußnote in einem arbeitsreichen Leben. »Das ist doch alles Quatsch.«

»Laß mich ausreden.« Connolly hob eine Hand. »Ich gebe dir noch ein paar Hintergrundinformationen. Du mußt wissen, ich war der kranke Zwilling, als wir noch gar nicht geboren waren. Wir litten an einem Zwillingssyndrom, genauer gesagt, wir teilten uns eine Plazenta und das für den einen Zwilling bestimmte Blut wurde dem anderen zugeführt. Im Mutterleib hat mein Blut dich genährt. Ich wog bei der Geburt vier Pfund. Die meisten dieser Babys sterben, jedenfalls damals noch. Ich nicht.«

»Oh, hören Sie auf.« Plötzlich wallte Ärger in Bennie auf. »Ich habe mich von Ihrem Blut genährt? So ein Blödsinn.«

»Es ist die Wahrheit, alles, jedes einzelne Wort. Bill hat es mir bei einem seiner Besuche erzählt.«

»Wollen Sie mir erzählen, daß mein Vater Sie besucht? Im Gefängnis?«

»Sicher. Kommt immer in seinem Flanellhemd und seinem Tweedsakko daher, egal, wie heiß es ist. Er sagte, er müsse auf mich aufpassen. Bei seinem letzten Besuch hat er mir erzählt, daß du mein Zwilling bist. Er meinte, ich soll dich anrufen. Nur du könntest meinen Prozeß gewinnen, niemand wüßte besser Bescheid über die Polizei von Philadelphia als du.«

Bennie lächelte höhnisch. »Jetzt hab ich Sie, Connolly. Mein Vater hat keine Ahnung, was ich beruflich mache. Er kennt mich überhaupt nicht.«

»Ah ja? Er verfolgt deine Karriere. Er hat Ausschnitte über dich gesammelt.«

»Ausschnitte, Sie meinen Zeitungsausschnitte?«

»Versteh doch, mein Prozeß ist schon in einer Woche. Nachdem ich über uns Bescheid wußte, konnte ich mit dem Anruf nicht warten, bis wir uns auf andere Weise kennenlernen können. Dabei hätte ich so viele Fragen an dich. Erinnerst du dich an etwas? So, na ja, noch aus der Zeit im Mutterleib?« Connolly beugte sich vor, aber Bennie wich zurück.

»Im Mutterleib?«

»Ich schon. Ich erinnere mich irgendwie an dich, so wie an einen Geist. Ein Phantom, aber sehr vertraut. Das muß aus der Zeit im Mutterleib herrühren, sonst waren wir nie zusammen. Als ich klein war, fühlte ich mich immer einsam. Als würde ein Stück von mir fehlen. Ich habe es immer gehaßt, allein zu sein. Ist heute noch so. Und dann erzählte mir Bill, daß es dich gibt, und auf einmal paßte alles zusammen. Und jetzt erzähl mir etwas von unserer Mutter. Was fehlt ihr denn? Warum will niemand darüber reden?« .

»Ich muß gehen.« Bennie stand auf. Entweder war diese Frau eine begnadete Schwindlerin oder sie litt unter Wahnvorstellungen. Die Polizeiverschwörung beruhte auf schierer Paranoia. Manche Mandanten lohnten den ganzen Ärger nicht, mochte der Fall noch so faszinierend sein. Sie griff nach ihrer Aktentasche. »Tut mir leid, ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute.«

»Nein, warte, ich brauche deine Hilfe.« Wie ein verspätet auftauchender Schatten von Bennie erhob sich nun auch Connolly. »Du bist meine letzte Chance. Ich habe Anthony nicht umgebracht, ich schwöre es. Es waren die Bullen. Sie halten zusammen und haben mir den Mord bloß angehängt. Es handelt sich um eine ganze Gruppe.«

»Sie haben bereits einen Anwalt, überlassen Sie ihm die Sache.« Bennie nahm den Hörer des Wandtelefons ab, und damit klingelte es automatisch beim Wachposten.

»Aber mein Anwalt taugt nichts. Er wurde vom Gericht bestellt. Er hat mich das ganze Jahr über vielleicht zweimal besucht. Seine ganzen Bemühungen dienten lediglich dazu, daß ich im Knast bleibe. Er ist an der Verschwörung gegen mich beteiligt.«

»Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht helfen.« Bennie legte den Hörer auf und trat an das Türfenster. Wo blieb der Wärter? Der Flur lag verlassen da. Zwischen ihr und der Außenwelt befanden sich drei verschlossene Türen. Eine ihr unerklärliche heftige Panik ergriff sie.

»Ich hatte gehofft, du würdest mir glauben, aber anscheinend vergeblich. Sieh dir das an, bevor du dich entscheidest. Unsere Mutter hat dir nicht alles gesagt. Das hier beweist, daß jedes Wort, das ich sage, wahr ist.« Connolly schob einen Manilaumschlag über den Tisch, aber Bennie griff nicht danach.

»Ich habe jetzt keine Zeit, das zu lesen. Ich muß weg, ich komme zu spät. Wärter!«

»Nimm das.« Connolly stieß den Umschlag weiter über den Tisch. »Wenn nicht, schicke ich ihn dir mit der Post.«

»Nein, ist nicht nötig. Ich muß zurück ins Büro.« Bennie rüttelte am Türknauf und preßte ihr Gesicht gegen das Türfenster. Eine schwergewichtige Wärterin eilte mit flatternden Hosenbeinen durch den Flur, aber ihre Miene drückte eher Verärgerung denn Besorgnis aus.

»Nimm den Umschlag«, drängte Connolly, aber Bennie beachtete sie nicht und rüttelte an der Tür. Vergebens. Komm schon. Endlich stand die Wärterin vor der Zelle, stieß einen Schlüssel in das Schloß und riß so heftig die Tür auf, daß Bennie beinahe in den Flur hinausgetaumelt wäre.

»Wärterin!« rief Connolly. »Meine Anwältin hat ihre Akte vergessen.« Mit dem Umschlag in der Hand beugte sie sich weit über den Tisch, und die Aufseherin zog mit einer blitzschnellen Bewegung einen schwarzen Schlagstock aus dem Gürtel und schwang ihn drohend.

»Nicht weiter, Sie!« schrie sie. »Setzen Sie sich, verdammt noch mal! Wollen Sie einen Eintrag?«

»Okay, okay, beruhigen Sie sich!« Connolly ließ sich unverzüglich auf den Stuhl zurückfallen und hob schützend die Arme. »Sie hat ihre Akte vergessen. Ich wollte nur behilflich sein. Es sind schließlich ihre Unterlagen!«

Innerlich aufgewühlt lehnte Bennie mit dem Rücken an der Tür. Sie wollte Connollys Umschlag nicht entgegennehmen, wollte aber auch nicht mit ansehen, wie sie geprügelt wurde. Die Gefangene, die ihr so sehr ähnlich sah, duckte sich auf dem Stuhl, und Bennie hatte gleichzeitig Angst um sie und vor ihr. »Sie wollte mir nichts tun«, hörte sie sich sagen.

Mit erhobenem Schlagstock drehte sich die Aufseherin um. »Ist das nun Ihre Akte oder nicht?«

»Äh, ja.« Sie wollte auf gar keinen Fall, daß Connolly geschlagen wurde.

»Dann nehmen Sie sie!« befahl die Aufseherin.

Bennie trat an den Tisch und klemmte den Umschlag unter ihren Arm. Ihr Mund war merkwürdig trocken, sie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Sie mußte endlich aus diesem Gefängnis. Den vermaledeiten Umschlag an die Brust gedrückt, lief sie aus der Tür Richtung Ausgang.

Die Zwillingsschwester

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