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ОглавлениеIn Situationen wie diesen wird mir bewußt, daß ich zu alt bin, um von vorn anzufangen und mit Gerichtsreferendaren zusammenzuarbeiten. Ich besitze Strumpfhosen, die mehr Kilometer drauf haben und über ein besseres Urteilsvermögen verfügen als diese Jungs. So zanken sich zum Beispiel eben zwei unserer Referendare, Ben Safer und Artie Weiss, während einer öffentlichen Verhandlung; es ist ihnen egal, daß sie in einem ansonsten stillen Gerichtssaal vor den teuersten Mitgliedern der Anwaltskammer Philadelphias eine Szene machen.
»Keine Streitereien im Gerichtssaal«, sage ich zu ihnen im gleichen Ton, den ich gegenüber meiner Sechsjährigen anschlage. Die Wirkung ist in beiden Fällen gleich Null.
»Er hat angefangen, Grace«, behauptet Ben, der sich vor den entlang der Wand aufgereihten Lederstühlen aufgebaut hat, in einem überdeutlich artikulierten Bühnenflüstern. »Er hat versprochen, mir einen Platz zu reservieren, aber er hat es nicht gemacht. Jetzt ist nichts mehr frei.«
»Bewegst du bald mal deinen Arsch, Blödmann? Du stehst mir im Licht«, bemerkt Artie, ohne sich die Mühe zu machen, den Blick von der Sportseite seiner Zeitung zu heben. Er überanstrengt sich selten; bis zum heutigen Tag ist er lässig durchs Leben gebummelt und hat sich dabei voll und ganz auf sein von der Natur begünstigtes gutes Aussehen verlassen, seine angeborene Intelligenz und seinen traumhaften Sprungwurf beim Basketball. Er schlägt ein durchtrainiertes Bein über das andere und blättert in der festen Überzeugung, diese Verhandlung zu gewinnen, selbst wenn es in die Verlängerung gehen sollte, unbeeindruckt eine Seite um. Mit anderen Worten, Artie ist ein Siegertyp.
Auf seine Weise ist das auch Ben; er war die Nummer zwei an der juristischen Fakultät in Chicago, der härtesten Schule des Mittelwestens. »Du hast gesagt, du reservierst mir einen Platz, Weiss«, sagt er, »also schuldest du mir einen. Nämlich deinen. Erheb dich.«
»Leck mich«, antwortet Artie laut genug, um die Aufmerksamkeit der Anwälte auf sich zu lenken, die sich, in ihre Beratung vertieft, wie ein Bukett von Glatzköpfen um den Anwaltstisch drapiert haben. Ein anderer hätte sich böse Blicke von ihnen eingefangen, aber weil Artie für den Gerichtsvorsitzenden arbeitet, lassen sie ein unterwürfiges Lächeln aufblitzen; du weißt nie, welcher Mitarbeiter des Richters deinen Fall auf den Tisch kriegt.
»Steh auf. Los, Weiss.«
»Schluß jetzt, ihr zwei«, melde ich mich erneut zu Wort. »Ben, setzen Sie sich nach hinten. Jeden Moment beginnt die Beweisführung.«
»Kommt nicht in Frage. Ich setze mich nicht ins Publikum. Er hat versprochen, mir einen Platz zu reservieren, also ist er mir einen Platz schuldig.«
»Es handelt sich nicht um einen Vertrag«, gebe ich ihm einen juristischen Rat. Kostenlos.
»Das ist mir bekannt. Aber er muß sich woanders hinsetzen, nicht ich.« Er rückt seinen Krawattenknoten gerade, der so stramm sitzt wie eine Aderpresse; Krawatte und Schließmuskel schnüren den Jungen an beiden Enden ein wie das Einwickelpapier ein schmales Sahnebonbon. »Immerhin wird einer meiner Fälle verhandelt.«
»Einer von mir auch, Klugscheißer.« Artie blättert eine weitere Seite um.
Ich mag Artie, aber das Problem mit den Artie Weiss' dieser Welt besteht darin, daß sie ihre Grenzen nicht kennen. »Artie, haben Sie ihm versprochen, einen Platz für ihn freizuhalten?«
»Wie komme ich dazu? Dann müßte ich ja neben ihm sitzen.« Er zeigt Ben hinter der ausgebreiteten Zeitung den Stinkefinger.
Ich ziehe die Grenze. »Artie, lassen Sie das mit dem Finger.«
»Ooooh, schlagen Sie mich, Grace. Versohlen Sie mir richtig den Hintern. Ziehen Sie mein Höschen runter und legen Sie mich über Ihre prachtvollen Knie.«
»Das würden Sie nicht überstehen, Sie Angeber.«
»Probieren Sie's.« Mit einem breiten Grinsen beugt er sich herüber.
»Es ist mir Ernst, Artie. Sie sind gewarnt.« Er weiß nicht, daß ich seit dem Ende meiner Ehe vor drei Jahren keinen Sex hatte. Für eine alleinerziehende Mutter ist niemand auf dem Markt, nicht einmal für eine ganz passabel aussehende mit aufgepeppten braunen Haaren, echten blauen Augen und einer Figur, die, zur Zeit wenigstens noch, die Form hält.
»Komm schon, Süße«, sagt Artie und tätschelt meine Schultern. »Und ein Traum wird wahr.«
»Lassen Sie den Quatsch.«
»Wer A sagt, muß auch B sagen.«
Ich wende mich an Ben, um mir das Lachen zu verbeißen; es ist nicht gut, wenn man lacht, während man Grenzen zieht. »Ben, Sie sehen doch, er rührt sich nicht von der Stelle. Die Richter können jeden Moment herauskommen. Suchen Sie sich hinten einen Platz.«
Ben überfliegt mit einem Blick die hintere Reihe, in der die Gerichtsgroupies sitzen; es handelt sich um eine Phalanx von Rentnern, wahrhaft Unzurechnungsfähigen und Obdachlosen. Bens Augen wandern die Reihe entlang. Er macht keinerlei Anstalten, seinen Abscheu zu verbergen; man könnte meinen, er sei eben zu einem Nacktbad im Ganges aufgefordert worden. Fast verzweifelt wendet er sich an mich. »Überlassen Sie mir Ihren Platz, Grace. Ich mache die Notizen für Sie.«
»Nein.«
»Aber meine Notizen sind praktisch wörtliche Abschriften. Auf der Universität habe ich damit gehandelt.«
»Ich kann meine Notizen selbst machen, vielen Dank.« Nach zehn Jahren als Prozeßanwältin bin ich imstande, Notizen zu machen; und als Assistentin des Gerichtsvorsitzenden besteht meine Hauptarbeit im Notizenmachen. Ich mache Notizen, während die richtigen Anwälte argumentieren, im Anschluß daran gehe ich in die Bibliothek und verfasse ein Rechtsgutachten, das die richtigen Anwälte in ihrer nächsten Argumentation zitieren. Aber ich will mich nicht beklagen. Ich habe diese Stellung angenommen, weil es sich um eine Teilzeitbeschäftigung handelt und ich keine so gute Zeitjongleurin bin wie Joan Lunden, Paula Zahn und andere Zirkusartistinnen.
»Wie steht's mit dir, Sarah?« fragt Ben die dritte des Referendargespanns, Sarah Whittemore, die an meiner anderen Seite sitzt. »Du hast heute morgen keinen Fall, der verhandelt wird. Also kannst du hinten sitzen.«
Herzlich wenig Aussicht. Sarah streicht sich eine widerspenstige blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und enthüllt dabei im Profil eine so winzige Nase, daß man sich kaum vorstellen kann, wie sie es fertigbringt, mit diesem Organ auch nur die kleinste Prise Sauerstoff in ihre Lungen zu saugen. »Tut mir leid, ich brauche den Platz«, erklärt sie.
Das hätte ich ihm vorher sagen können. Sarah möchte die Unterdrückten vertreten und nicht eine von ihnen werden.
Nicht weit von der Richterbank entfernt öffnet sich eine getäfelte Tür, und der Gerichtsdiener, ein gedrungener Mann mit kompetentem Auftreten, nimmt in letzter Minute eine Überprüfung der Mikrophone auf Podest und Podium vor. Mit einem entsetzten Blick streift Ben die hinterste Zuschauerreihe. »Ich kann doch nicht dort sitzen, bei all diesen Leuten. Mein Gott, einer trägt sogar eine Plastikhaube.«
Artie schielt über den Rand seiner Zeitung. »Eine Plastikhaube? Wo sitzt der?«
»Da.« Ben stößt seinen Daumen in Richtung auf einen bärtigen Mann, der eine zerknitterte Plastikregenhaube trägt und sich in einen schwarzen, bis zum Hals zugeknöpften Regenmantel gehüllt hat. Allzeit bereit für die Monsunzeit, hat er den Mantelkragen hochgeschlagen, aber heute regnet es nicht im Gerichtssaal.
»Das ist Shake and Bake! Er ist tatsächlich gekommen!« Ein Leuchten geht über Arties Gesicht, und er winkt mit seiner Zeitung zu dem Mann hinüber. »Los, setz dich zu ihm, Meister, er ist in Ordnung.«
»Sie kennen den Typ, Artie?« erkundige ich mich und richte mich ein wenig auf, um besser sehen zu können. Der bärtige Mann grinst irgendwie leicht behämmert auf das hinter dem Podium hängende massive Goldsiegel der Vereinigten Staaten. Dabei dreht er sein ungepflegtes Gesicht zu der funkelnden Scheibe wie eine Schwarzäugige Susanne ihr Köpfchen zur Sonne.
»Klar. Er hängt am Spielfeld rum, er spielt mit mir und Armen Basketball. Ihr solltet mal sehen, wie schnell er herumwirbelt, das ist echt ehrfurchtgebietend, wenn er nicht gerade daneben ist. Ich habe ihm gesagt, er soll doch mal vorbeischauen und dem Richter bei der Arbeit zusehen.«
Bens dunkle Augen weiten sich. »Du hast diesen Spinner zu einer Verhandlung eingeladen? Wie kommst du dazu?«
Ich halte den Mund, aber zum erstenmal bin ich mit Ben einer Meinung. Ich entwickle mich langsam zu einem Kotzbrocken, einem pensionsreifen Kotzbrocken.
»Warum sollte er nicht ins Gericht kommen?« fragt Artie. »Das ist schließlich ein freies Land. Er hat die gleichen Rechte wie alle anderen.« Er steht auf und winkt heftig, seine Manieren sind nicht besser als die eines Golden-Retriever-Welpen; Artie ist ein Eliteprodukt von Harvard, wo gesunder Menschenverstand offensichtlich nicht auf dem Lehrplan steht.
Die in den ersten drei Reihen im Gerichtssaal sitzenden Anwälte verrenken sich die Hälse nach ihm, und ich zerre an seiner derben Khakisportjacke. »Artie, bringen Sie mich nicht in Verlegenheit«, zische ich.
Sarah beugt sich herüber. »Artie, du bist noch verrückter als er. Setz dich.«
»Er ist nicht verrückt«, widerspricht Artie unentwegt winkend.
»Er ist über und über in Plastikfolie gehüllt«, kommentiere ich.
»Das ist er immer. Das ist Shake and Bake, Mensch. Man muß ihn einfach gern haben.«
»Schön«, sagt Ben. »Wenn du ihn so sehr magst, dann setz du dich doch zu ihm.«
»Denk dir nichts, ich tu's. Viel Spaß weiterhin, Meister.« Artie schlägt Ben auf den Rücken und marschiert auf die letzte Reihe zu.
»Bitte erheben Sie sich!« ruft der Gerichtsdiener, der nun hinter einem Pult neben dem Podium steht. »Die Ehrenwerten Richter des Berufungsgerichts des Third Circuit der Vereinigten Staaten.«
Links vom Podium öffnet sich eine versteckte Tür, und die Richter, prächtig anzusehen in ihren raschelnden schwarzen Roben, marschieren herein. In Berufungsfällen entscheiden die Bundesgerichte mit drei Richtern, was zwangsläufig den Vergleich mit den drei Weisen oder den drei Affen herausfordert, je nachdem, ob Sie in der Berufung gewinnen oder verlieren. Die Prozession führt der Ehrenwerte Phillip Galanter an, hochgewachsen, mager, ein Arier mit schlaffen Backen und blonden Haaren, die langsam ergrauen und schütter werden. Ihm folgt ein verhutzelter älterer Richter, der langsam daherschlurfende Ehrenwerte Morris Townsend, und schließlich erscheint der Sehr Ehrenwerte und Schrecklich Gutaussehende Vorsitzende Armen Gregorian, mein Chef.
»Armen sieht einfach toll aus da oben, was?« meint Sarah und schlägt die Beine unter dem Rock ihres schicken schiefergrauen Kostüms übereinander.
Das kann man wohl sagen. Die beiden anderen an Größe weit überragend, grinst Armen unbefangen auf die Menge herab. Sein Teint hat eine leichte Olivfärbung; die übergroßen Zähne erinnern mich an eine exotische Ausgabe von JFK. Im Rechtswesen arbeiten herzlich wenig erfreuliche Erscheinungen, und ein Chef, der aussieht wie ein Sultan, zählt zweifellos zu den Lichtblicken. Ich beuge mich dicht an Sarahs parfümierten Hals und flüstere: »Ich habe das Vorrecht auf ihn.«
»In Ihren Träumen.«
»Aber Sie sind zu jung für ihn.«
Sie feixt dämlich. »Zu jung? Gibt es so was überhaupt?«
»Miststück.« Ich verpasse ihr einen Ellenbogenstoß in den Eierstock.
»Hört! Hört!« ruft der Gerichtsdiener. »Jeder, der ein Anliegen vor dem Berufungsgericht des Third Circuit der Vereinigten Staaten vorzubringen hat, möge vortreten und sich äußern. Die Sitzung dieses Gerichts ist eröffnet. Gott schütze die Vereinigten Staaten und dieses Ehrenwerte Gericht. Nehmen Sie bitte Platz.«
Die Richter setzen sich, und die erste Revisionsverhandlung beginnt. Ben macht sich Notizen von der Argumentation des Klägeranwalts, dessen Mandant den Zivilprozeß vor dem Bezirksgericht zehn Stockwerke unter uns verloren hat. Dem jungen Rechtsanwalt sind zehn Minuten ohne Unterbrechung durch Fragen seitens der Richter eingeräumt worden, in denen er seine Beweisführung vortragen kann, aber er vergibt die Chance schnell. Armens Stirn verzieht sich unwirsch; er möchte Dampf machen, aber dieser arme Kerl steht immer noch in den Startlöchern.
»Eine Jungfrau vor dem Third Circuit«, bemerkt Ben und kichert so überheblich, wie das nur ein Mensch kann, der sich nie in einer solchen Situation befunden hat. Ich habe kein Verständnis für diese Art von Humor. Ich weiß, wie es ist, vor einem Richter zu stehen, wenn die Worte, die man sich eingeprägt hat, einfach nicht kommen wollen und die, die man herausbringt, nach hinten durch die Kehle zu rutschen und am falschen Ende herauszupurzeln scheinen.
»Ich glaube, meine Zeit ist um«, sagt der Anwalt, offensichtlich erleichtert, daß das Weihnachtsbaumbirnchen auf dem Podium über Gelb auf Rot umspringt. Er glaubt, er habe das Schlimmste hinter sich, aber da täuscht er sich gewaltig. Das Lämpchen leuchtet bereits wieder grün. Weiter!
»Wer stellt die erste Frage?« erkundigt sich Armen und blickt seine Kollegen an. Er schnippt eine seidige schwarze Stirnlocke aus den Augen; er hat ständig einen Haarschnitt nötig, das macht einen Teil seines Sex-Appeals aus. »Richter Galanter?«
»Herr Anwalt«, reagiert Richter Galanter prompt. »Ihre Revision gründet sich auf RICO, den Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Act, auch Mafia-Gesetz genannt, aber ich frage mich, ob Sie begriffen haben, warum der Kongreß dieses Gesetz erlassen hat.«
»Es wurde zum Kampf gegen das organisierte Verbrechen verabschiedet, Euer Ehren.«
»Das Gesetz wird auf Erpresser, Mörder und Kredithaie angewandt. Auf die typischen Betätigungsfelder des organisierten Verbrechens, korrekt?«
Der junge Anwalt wirkt verwirrt. »Ja, Richter Galanter.«
»Es wird auf eine Reihe von Straftaten angewandt, die unter den Begriff des organisierten Gangstertums fallen, nicht wahr?«
»Ja, Sir.«
Armen rutscht auf seinem Stuhl mit der hohen Rückenlehne herum.
»Aber Ihr Mandant klagt nicht gegen Gangster, die unter dieses Gesetz fallen, oder, Herr Anwalt?« fragt Galanter.
»Bei allem gebührenden Respekt, Euer Ehren, ich glaube, dieser Berufung kommt nationale Bedeutung zu. Es geht um die Machenschaften der …«
»Blumenhändler, stimmt's nicht, Herr Anwalt? Keine Gangster, keine Erpresser, keine Killer. Blumenhändler. Sie werben mit: Für die Hochzeit oder Bar Mizwa nur das Beste.« Er lacht leise, das Publikum ebenfalls. Die Leute müssen lachen bei einem solchen Richter, denn er ist ein Richter nach Artikel III der Verfassung; wenn du nicht lachst, erscheint das FBI auf deiner Türschwelle.
»Ja, die Beklagten sind Blumenverkäufer.«
Galanters dünne Lippen verziehen sich zu der Andeutung eines Lächelns. Er zieht eine blonde Augenbraue so hoch, daß sie fast nicht zu sehen ist. »Blumenverkäufer? Ist das ein Fachausdruck, Herr Anwalt?«
Erneut Gelächter im Zuschauerraum.
»Blumenhändler«, räumt der Anwalt ein.
»Danke. Ihr Mandant macht den Großteil seines Geschäftes mit Nelken, ist das korrekt?« Selbstsicher blättert Galanter im Anhang herum und liest laut vor. »Rosa Nelken, rote, sogar gefärbte, nach der unter Eid abgegebenen Erklärung Ihres Mandanten. Außerdem ersehe ich aus den Unterlagen, daß im Februar rosarote Moosröschen gut gegangen sind.« Er hält inne und wirft einen vielsagenden Blick auf Richter Townsend, aber Townsends Augen sind geschlossen; Gott weiß, wie er sich in diesem Fall verhalten wird. Er ist der festen Überzeugung, Leute schlichen sich ungebeten in seine Träume, um Sex mit ihm zu haben, deshalb kann man unmöglich mit Sicherheit sagen, ob er jetzt gerade über RICO nachgrübelt oder lesbischen Spielchen zusieht.
»Es handelt sich um eine Gruppe von Blumenhändlern. Um ein Netz von Blumenhändlern.«
»Oh, ich verstehe, ein Ring von Blumenhändlern. Glauben Sie, der Kongreß hätte bei diesem Gesetz gegen das organisierte Verbrechen auch einen Ring von Blumenhändlern im Auge?«
Armen beugt sich zu seinem Mikrophon. »Herr Anwalt, ist es tatsächlich von Belang, was die Leute verkaufen?«
»Los, mach sie fertig, Boß«, flüstere ich.
»Sir?« Der Anwalt umklammert die Kante des Podiums wie ein Kind, das sich als blinder Passagier auf ein sinkendes Schiff geschmuggelt hat und sich nun an die Reling klammert.
»Ein Rechtsstaatsprinzip, das von dem ausgeübten Beruf der Beklagten ausgeht, erscheint nicht sehr sinnvoll, oder?«
»Nein, Sir«, antwortet der Anwalt kopfschüttelnd.
Armen beugt sich vor, seine Augen sind so schwarz wie türkischer Mokka. »Tatsächlich hat das Oberste Bundesgericht im Fall Scheidler auch entschieden, daß sogar eine Interessengruppe von Abtreibungsgegnern unter RICO fallen kann, stimmt das nicht, Mr. Noble?«
Galanter wirft einen raschen Blick auf Armen wie ein Jockey auf einem Vollblutpferd, der gerade von seinem Konkurrenten überholt wird. »Aber der Gerichtsvorsitzende Rehnquist führte im Fall Scheidler auch aus, daß Erpressung zugrunde lag, ein Tatbestand, der unter die Bundesgesetze fällt. Inwiefern ist dieses Blumenkomplott eine Bundessache? Blumenhändler, die drohend die Baumscheren schwingen? Geld her, oder ich schnipple die Orchidee ab?« Galanter erschaudert in übertriebener Komik, und die Zuschauer lachen aufs Stichwort.
»Aber sie sind eine Bedrohung für die Gesellschaft«, betont der Anwalt und tastet nach dem rettenden Tau. »Mr. Canavan hat einen Vertrag unterzeichnet, aber nie einen Auftrag erhalten. Die anderen wollten Canavan Flowers von vornherein in den Konkurs treiben. Diese Absicht bestand vorsätzlich.«
»Ihr Mandant hat Schutz nach Paragraph Elf beantragt, nicht wahr?« mischt sich Armen ein.
Plötzlich stößt Richter Townsend ein lautstarkes Schnauben aus.
Es hört sich an, als werde der tuckernde Motor eines alten Dampfbootes angeworfen. Als Richter Townsend seine schwerlidrigen Augen nicht ohne Anstrengung öffnet, sehen Armen und Galanter zu ihm hinüber. »Ich hätte da eine Frage.« Seine trockenen Lippen geben ein schmatzendes Geräusch von sich.
»Nur zu«, sagt Armen. Galanter setzt ein wohlerzogenes Lächeln auf.
»Danke, Herr Vorsitzender.« Richter Townsend nickt huldvoll. »Sagen Sie, Herr Anwalt, warum lassen Sie zu, daß Ihnen meine Kollegen derart zusetzen?«
Galanters Lächeln gefriert auf der Stelle. Das Publikum lacht unsicher.
»Sir?« sagt der Anwalt.
Richter Townsend schnaubt noch einmal und neigt sich dabei leicht nach Steuerbord. »Meiner Ansicht nach erhebt sich bei diesem neuen Gesetz stets die gleiche Frage.«
Ben flüstert: »Welches neue Gesetz? RICO wurde in den siebziger Jahren verabschiedet.«
»Die Frage lautet stets: Worin unterscheidet sich dieser Fall von einem x-beliebigen Betrugsfall? Welcher Unterschied besteht in der Zufügung geschäftlichen Schadens im Vergleich zu den Fällen, in denen wir nach gewöhnlichem Recht urteilen?« Richter Townsend fuchtelt mit seiner runzligen Hand herum und malt eine unregelmäßige Linie in die Luft. »Mit anderen Worten, haben Sie einen Präzedenzfall? Einen Fall, auf den Sie sich berufen können?«
Der Rechtsanwalt liest in seinen Aufzeichnungen. »Einen Augenblick, Euer Ehren.«
Richter Townsend blinzelt einmal, dann noch einmal. Galanter streicht die ihm noch verbliebenen, spärlichen Haare zurück. Die Anwälte im Zuschauerraum werfen einander vielsagende Blicke zu. Alle denken das gleiche: Niemand sagt zu diesem Gericht, es solle einen Augenblick warten. Es wird vorausgesetzt, daß jede Antwort aufs Stichwort kommt. Man muß alles, was den Fall betrifft, parat haben. Eher noch könnten Sie auf den Anwaltstisch pinkeln.
»Na bravo, Einstein«, kommentiert Ben.
»Ich weiß, ich habe den Fall irgendwo.« Nervös blättert der Anwalt in seinen Unterlagen. Er hat allen Grund zur Nervosität; dieses Gericht ist die letzte Instanz vor dem Obersten Bundesgericht, das jedes Jahr weniger Berufungen annimmt. Es kommt auf die mündlichen Verhandlungen an.
»Armen ist sauer«, flüstert Sarah. Ich folge ihrem Blick. Armen starrt auf das Podium hinunter, er sorgt sich um den Ausgang der Berufung. Das einzige Geräusch in dem spannungsgeladenen Gerichtssaal ist das hektische Geraschel, mit dem der Anwalt auf dem Podium in seinen Unterlagen wühlt. Eine gelbe Seite segelt auf den prachtvollen marineblauen Teppich.
Die Stille scheint noch intensiver zu werden.
Galanter starrt wütend auf den gesenkten Kopf des Rechtsanwalts.
Plötzlich bricht ein Geräusch hinten im Gerichtssaal die Stille – ticktickticktickticktick.
Die Zuschauer in den hinteren Reihen wenden die Köpfe. Das laute Geräusch ist unverwechselbar.
Ticktickticktickticktick.
Reihe für Reihe dreht sich erst ungläubig, aber zunehmend beunruhigt um.
Ticktickticktickticktick.
»Das ist eine Bombe!« ruft einer der Anwälte.
»Eine Bombe!« schreit ein älterer Anwalt. »Nein!«
Ticktickticktickticktick.
Im überfüllten Gerichtssaal bricht Chaos aus. Verwirrt und ängstlich springen die Zuschauer auf. Rechtsanwälte schnappen Aktentaschen und Prozeßunterlagen. Die Leute versuchen, durch einen der Ausgänge zu entkommen, und rempeln einander in Panik an.
»Nein!« ruft jemand. »Bleiben Sie ruhig!«
Verstört schaue ich nach hinten, wo Artie sitzen müßte. Ich kann ihn nirgendwo entdecken. Die Menschenmenge drängt und schiebt und schreit.
Ticktickticktickticktick.
Ben rennt mit anderen Referendaren zur Richtertür nicht weit von der Richterbank. Mein Herz beginnt zu hämmern. Die Zeit verlangsamt sich, dehnt sich aus.
»Artie ist da hinten!« rufe ich.
Sarah packt mich am Arm. »Armen!«
Ich blicke zum Podium. Armen steht oben, beschattet die Augen vor dem von der Decke herabfallenden Licht und starrt blinzelnd in die letzte Reihe. Richter Townsend sitzt wie angewachsen auf seinem Stuhl.
Galanter greift sich Armens Hammer und schlägt damit auf das Podium: bum bum bum! »Ordnung! Ordnung, sage ich!« bellt er mit hochrotem Kopf. Wieder und wieder schlägt er mit dem Hammer des Gerichtsvorsitzenden zu. »Ordnung!«
»O mein Gott«, sagt Armen, als er merkt, was vorgeht. »Das darf doch nicht wahr sein.«