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Etwas geht entzwei

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Regine kannte bald alle Schulkinder von Grüningen, obwohl sie nicht mit ihnen in die Schule ging. Mit denen, die nachmittags kamen, spielte sie in den Pausen, und beim Spiel lernt man sich am besten kennen. Der Schulhof vor dem Haus war sonnig und hell. Dort konnte man herrlich Völker- und Jägerball und all das spielen, was überall in den Schulhöfen gespielt wird. Abends spannten Dieter und Jürgen dann einen dicken Bindfaden von einem Fenster des Schulhauses zum Zaun hinüber und zogen im Kies des Schulhofes Striche, und dann wurde Ringtennis gespielt, bis man den fliegenden Ring in der Dämmerung nicht mehr erkennen konnte. Die Jungen spielten verbissen und ehrgeizig. Regine hatte das Spiel schnell begriffen und nach anfänglicher Unterlegenheit bald gute Erfolge erzielt. Es kam vor, daß sie sogar Jürgen schlug, der doch älter und auch trainierter war als sie. Aber sie war flink und wendig. Auch Mützchen spielte mitunter mit, vor allem im Vierer. Dann nahm sie sich Jürgen als Partner und behauptete, Dieter und Regine würden nicht einen einzigen Pluspunkt erlangen. Und während sie das noch siegesgewiß herausschmetterte, schmetterte sie gleichzeitig einen Angabering haarscharf unter der Schnur durch. Allgemeines Hallo!

„Bitte! Jeder hat zwei Angaben!“ rief sie, selbst lachend, und gab die zweite. Dieter, der Heimtücker, nahm sie nicht an, weil er schon berechnet hatte, daß der Ring bei Mützchens Temperament außerhalb landen würde. Und richtig! So stand es also sofort 1:0 für Dieter und Regine.

„Aber warum fängst du ihn denn nicht? Du hättest ihn doch bekommen!“ mauzte Mützchen. Dieter lachte schadenfroh, und Jürgen rief: „Du mußt dich beherrschen lernen, mein Mützchen! Nicht immer mit Vollgas los, verstehst du?“ Das sagte seine Mutter ihm nämlich mitunter, und zwar nicht zu Unrecht. Er hatte genug von ihrer Art geerbt. Gerne hörte er so was natürlich nicht, deshalb gab er es jetzt honigsüß zurück. So waren die Bengel.

Sie spielten bis in die Dämmerung hinein, auch heute. Regine war so munter, viel munterer, als man nach ihrem abgekürzten Mittagsschlaf hätte vermuten sollen. Als sie „gute Nacht“ sagte, legte sie Mützchen die Arme um den Hals und gab ihr ganz fix einen Kuß. Dann war sie hinaus. Den Wecker hatte sie schon vorher zu sich geholt. Wer weiß, ob ein Baukasten immer richtig munter macht oder ob man sich womöglich auch daran gewöhnt.

Onkel Hannes war sehr musikalisch. Sein Kummer war, daß er kein Klavier besaß. Mitunter ging er zum Pastor des Dorfes und spielte dort. Dann kam er immer ganz verändert wieder, wie von innen erleuchtet. Mit den Schulkindern sang er viel, zwei- und mehrstimmig. Seinen beiden großen Jungen hatte er auch Klavierstunden gegeben, bevor sie zur Schule in die Stadt fahren mußten und dadurch kaum mehr Zeit hatten. Der Pastor des Dorfes hatte ihm freundlich erlaubt, dies bei ihm, auf seinem Instrument, zu tun. Auch üben durften die Jungen dort. Meistens bekamen sie dann auch noch ein schönes Stück Kuchen oder ein paar rotbackige Äpfel oder die ersten Kirschen. Jetzt hatte nur noch Gottfried Klavierstunde bei seinem Vater, und Regine wagte nicht zu fragen, ob sie mittun dürfte. Es wäre ja vielleicht auch etwas schwierig geworden, denn Gottfried war schon über die Anfangskünste hinaus und spielte bereits mit Baßschlüssel und Begleitung. Gottfried war zehn.

Mit ihm verstand sich Regine gut. Er war so ein richtiger Lausejunge und Stromer. Nachmittagelang durchstreiften sie den Wald, suchten Abwurfstangen von Rehböcken und Hirschen oder griffen Forellen im Bach. Letzteres war zwar verboten, wurde aber seit Menschengedenken von der Dorfjugend getan. Mitunter sahen sie Rotwild, einmal einen Fuchs ganz in der Nähe. Regine schrieb dies alles an Axel. Ihre Briefe waren lang und lebendig. Wie gut mußte es Regine getroffen haben, daß sie so schrieb!

Acht Tage nach Onkel Henrys Besuch spielte Regine gegen Abend mit Gottfried Fußball. Sie schossen gegenseitig Tore, weil sie nur zu zweit waren, und zählten sie, laut rufend. Leider kam Onkel Hannes und nahm Gottfried zur Klavierstunde mit. Regine blieb allein zurück. Mützchen war mit dem Jüngsten zum Kaffee eingeladen, was selten geschah. Sie waren noch nicht wieder daheim.

Gelangweilt spielte Regine weiter. Sie schoß den Ball am Haus hoch und stoppte ihn, wenn er wieder herunterkam, mit dem Fuß ab. Das zu können war wichtig beim Fußball. Gottfried konnte es wunderbar. Regine mühte sich damit ab und bekam den Trick nicht heraus. Voller Wut schoß sie schließlich den Ball waagerecht auf das Haus zu. Krach! Du lieber Gott...

Ja, du lieber Gott! Nun war guter Rat teuer. Der Ball war durch die Kellerfensterscheibe direkt in den Keller geflogen. Die Scheibe war in tausend Scherben gegangen. Regine stand verdutzt davor.

Gesehen hatte es niemand. Regine drückte sich ins Haus, suchte den Kellerschlüssel und holte den Ball wieder heraus. Wenn Mützchen dagewesen wäre, hätte sie ihr das Unglück sofort erzählt, aber Mützchen war nicht da. Regine hängte den Kellerschlüssel wieder an den Nagel und suchte sich ihren Schulranzen. Sie mußte ja noch Schularbeiten machen.

Am Abend kamen Mützchen und Onkel Hannes mitsamt den beiden Kleinen zurück. Es war etwas später geworden, und man mußte sich mit dem Abendbrot sputen. Regine lief und deckte den Tisch. Mützchen hatte sich über Hannesle geärgert, der sich bei Pastors weinerlich und ungezogen benommen hatte.

„Vielleicht steckt was in ihm“, sagte sie, als er auch bei Tisch heulte. Onkel Hannes aber fand, daß einfach Ungezogenheit in ihm stecke. Als der Kleine ein Butterbrot, das Mützchen ihm hingab, mit einem wütenden „Nein!“ wegstieß, so daß es, natürlich mit der gestrichenen Seite nach unten, auf den Tisch fiel, bekam er einen ordentlichen Katzenkopf vom Vater. Dadurch waren die Schleusen geöffnet und schlossen sich auch nicht wieder, und Regine war froh, als sie mit dem Kleinen abziehen und ihn zu Bett bringen konnte. Sonst wäre dem Katzenkopf vielleicht noch eine Backpfeife gefolgt.

„Bleib hier!“ heulte der Kleine herzzerbrechend, als sie wieder hinuntergehen wollte. Schließlich hob sie ihn wieder auf und brachte ihn in die Kinderstube, legte ihn auf ihren Diwan und kuschelte sich daneben. Während sie ihm flüsternd erzählte, hörte sie, wie die Stubentür sachte aufging. Sie guckte aus den Augenwinkeln. Mützchen stand da im Dämmern und guckte herüber. Regine winkte ein bißchen mit der Hand.

„Geht in Ordnung“, hieß das. Und Mützchen verstand das auch. Sie lächelte, ging wieder rückwärts und schloß die Tür leise hinter sich. Regine nahm Hannesle noch näher an sich heran, streifte ihre Sandalen von den Füßen und hob die Beine auf den Diwan. Die Herzstöße des Kleinen, die während des Weinens dicht hintereinander gekommen waren, wurden jetzt seltener und hörten schließlich ganz auf. Einmal lächelte er ein bißchen, als Regine ihm etwas Komisches erzählte. Gleich darauf war er eingeschlafen.

Regine lauschte noch ein wenig auf seinen kleinen Schniefatem. Es war so süß, den Kleinen im Arm zu halten, ganz dicht. Er hatte noch Locken, ein wenig länger, als Jungen sie sonst tragen. Mützchen konnte sich noch nicht davon trennen. Regine lächelte und schlief im selben Augenblick ebenfalls ein. Ihr Tag war immer lang und bunt; solange man umherlief, merkte man keine Müdigkeit. Aber wenn man sich hinlegte, überkam sie einen mit unwiderstehlicher Gewalt.

Am andern Morgen war das Hannesle krank. Windpocken, nicht schlimm, aber betrüblich für ihn selbst. Die andern, auch Regine, hatten sie schon gehabt. So durfte er im Kinderzimmer bleiben, zumal sie beide sehr darum baten. Regine versprach, ihm etwas Schönes aus Niederhausen mitzubringen.

Das tat sie auch. Sie brachte einen „Schwarzen Peter“ mit, und nun konnten sie fein spielen. Auch Gottfried tat mit. Regine erzählte, was sie in dem Spielzeugladen für Herrlichkeiten gesehen hatte.

„Ich wünschte, ich könnte dir noch ganz andere Sachen mitbringen“, sagte sie sehnsüchtig. „Weißt du, im Herbst sammle ich Kartoffeln, und von dem Geld kaufen wir uns was Feines. Wir müssen nur gut überlegen, was das schönste ist. Und für Weihnachten schreiben wir einen schönen Wunschzettel. Man muß natürlich auch artig sein, wenn das Christkind etwas bringen soll, nicht so zornig wie Hannesle gestern. Hörst du?“

„Regele, weißt du, daß ein Paket für dich da ist?“ sagte in diesem Augenblick Mützchen. Sie war hereingekommen, rotbackig und geschäftig. „Du hast ja noch kein Vesperbrot. Natürlich ißt du was, nein, erst wird gegessen. Dann kannst du das Paket aufmachen.“

„Aber sehen, von wem es ist, das darf ich doch!“ Regine hopste Mützchen nach, die Treppe hinunter. Sie hatte sich selbst eine kleine Spannung ausgedacht: Natürlich war das Paket von Axel, von wem sollte es denn sonst sein! Aber es war so hübsch, sich selbst ein bißchen hinzuhalten und dann überrascht zu sein.

Und es war doch nicht von Axel! Es war von Onkel Henry. Regine stand erstarrt. Dann ging sie langsam rückwärts, nicht so wie Mützchen gestern abend, als Hannesle ihre Anwesenheit nicht merken sollte, sondern so, als läge dort eine Pistole, die jeden Augenblick losgehen könnte.

„Aber Regele!“ lachte Mützchen. „Das Paket beißt doch nicht!“

„Das Paket nicht, aber der Onkel Henry! Nein, ich mache es nicht auf!“

„Dummerle! Komm, komm, iß dein Brot! Ich an deiner Stelle wäre neugierig, was er schickt.“

Das war Regine im Grunde auch, und als Jürgen stichelte, sie dächte wohl, der Onkel selbst säße darin, mußte sie lachen und packte nun das gefährliche Ding am Bindfaden.

„Ich packe es oben aus. Da kann Hannesle zusehen.“

Nein, sie war wirklich dumm gewesen. Wahre Herrlichkeiten stiegen aus dem Paket! Eine Puppe, ein Lotto, aber auch ein kleines Aufziehauto, rot, mit richtigen Reifen, fast ganz genauso wie Onkel Henrys Wagen. Regine stellte es sofort dem selig aufschreienden Hannesle auf die Decke. Und ein Ball! Und unten drin sogar ein Kleid, ein buntes Dirndl, sogar in der richtigen Größe. Regine freute sich sehr.

„Der Onkel ist lieb!“ brummte Hannesle. Es war die reinste Weihnachtsbescherung. Zuletzt fanden sie noch ein Päckchen Kaffee für Mützchen, eine Schachtel besonders gute Zigaretten für Onkel Hannes und für jeden der großen Jungen ein Buch.

„Wart, den Krempel trage ich jetzt erst raus“, sagte Regine, indem sie auf die Berge von Packpapier, Pappe und Holzwolle zeigte, und raffte alles zusammen. Dabei fiel noch ein Brief heraus, der an sie gerichtet war. Sie ließ ihn vorläufig liegen.

Am Abend erzählten sie Onkel Hannes bei Tisch, was für Herrlichkeiten gekommen wären. Er hörte ein bißchen zerstreut zu.

„Und was schreibt er denn?“ fragte er schließlich.

„Ach!“ Regines Gesicht verdunkelte sich ein wenig. „Ich soll ihm immer einmal schreiben. Und in den großen Ferien soll ich ihn besuchen. Ich fahr’ aber nicht. Wenn der vielleicht denkt...“

Der sagt man nicht von einem Erwachsenen“, verwies sie Onkel Hannes. „Das ist nicht höflich, hörst du? Und schreiben mußt du ihm selbstverständlich, wenn er dir so schöne Sachen schickt.“

„Ja, aber der – er braucht nicht zu denken...“

„Er meint es doch bestimmt gut mit dir. Nein, Mützchen, danke, ich esse nicht mehr.“

„Hast du Ärger gehabt, Hannes?“ fragte Mützchen vorsichtig.

„Ärger? Wieso? – Übrigens ja, sogar einen dicken. Denk dir nur...“ Onkel Hannes ging hinüber zum Bücherregal und holte sich seine kurze Pfeife herunter. „Haben uns die Bengel doch wahrhaftig die Fensterscheibe im Keller eingeworfen. Und keiner ist es gewesen. Ich habe ausdrücklich gesagt, was in der Pause passiert, bezahle ich. Denn ich erlaube das Ballspielen nun einmal, und dabei kann es geschehen. Denkst du, die Kerls kommen zu mir? Nein. Da wird geleugnet und gelogen, dabei haben sie es doch gar nicht nötig. Das hat mich so gekränkt.“

„Das ist aber auch häßlich“, sagte Mützchen betrübt.

„Heute wollte ich eine Wanderung mit ihnen machen“, fuhr Onkel Hannes fort, „aber ich habe sie abgeblasen. Wenn es keiner war, braucht auch keiner den Spaß zu haben.“

Regine saß ganz still. Sie verstand selbst nicht, warum sie nichts sagte, aber sie konnte nicht. Vorhin hatte Onkel Hannes ihr ein wenig kurz die Meinung gesagt. Dies war das erstemal gewesen, seit sie hier war. Sie kannte ihn sonst nur heiter und kameradschaftlich. Es war, als habe er sie damit in ein Schnekkenhaus gescheucht.

Sie drückte sich nach dem Essen still davon. Einem aufmerksamen Beobachter wäre das bestimmt aufgefallen. Mützchen jedoch dachte, sie liefe eben zum Hannesle hinauf. Das tat Regine auch, aber sie enttäuschte den Kleinen trotzdem. Sonst hatte sie immer den Kopf voller Einfälle und Schnurren. Heute aber saß sie auf dem Rand des Diwans und starrte vor sich hin.

„Regele“, lockte der Kleine. „Regele! Bist du meine Swester?“

Sie hatte ihm das beigebracht. Ein Weilchen pflegte sie dann mit „Nein!“ zu antworten, und er mußte dann furchtbar betrübt tun. Schließlich sagte sie dann „Ja!“, und sie fielen sich um den Hals. Heute war gerade dies ein Spiel, das ihr wenig zusagte.

„Ach, Hannesle – ich wünschte, ich wäre es!“ seufzte sie und legte ihren Kopf neben den Kleinen in das Kissen. „Aber paß auf, eines Tages muß ich fort. Onkel Henry...“

Und nun fing sie an zu weinen. Onkel Henry, die zerbrochene Scheibe, die verpatzte Wanderung – die Grüninger Jungen konnten ja schließlich nichts zugeben, was sie nicht getan hatten –, was aber nützte es ihnen, wenn sie, Regine, es Onkel Hannes jetzt sagte? Natürlich hätte sie es tun müssen, aber sie meinte, sie könne es nicht. Er hatte heute so streng ausgesehen.

Und sie müsse an Onkel Henry schreiben, hatte er gesagt. Das beschwerte Regines Herz fast am meisten. Wenn sie unhöflich schrieb, würde Mützchen schelten und verlangen, daß sie einen zweiten Brief schrieb. Und wenn sie lieb und dankbar schrieb, dann käme Onkel Henry womöglich gleich und nähme sie doch mit.

„Was hast du denn, Regele?“ fragte Mützchen natürlich am Abend, als sie „gute Nacht“ sagen kam. Und ebenso natürlich antwortete Regine, so harmlos erstaunt, daß man sofort wußte, es war etwas:

„Ich? Wieso? Nein, ich habe nichts.“

Das große Lise-Gast-Buch

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