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Onkel Henry findet einen Ausweg

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„...und ich kann dies alles nur deshalb so sehr genießen, weil ich weiß, daß es Dir auch gutgeht. Ich bin sehr, sehr schwer von Dir fortgefahren, wie schwer, das kannst Du sicher gar nicht verstehen. Jetzt aber, wo Du schreibst, es wäre so schön und lustig und wie eine richtige Heimat in Grüningen, jetzt bin ich furchtbar gerne hier. Es ist ja auch so traumhaft, daß mir dies vergönnt ist. Später nehme ich Dich mal mit hierher. Am besten gefällt mir...“

Regine sah auf. Mützchen hatte gerufen. Heiß lag die Sonne über dem sommerlichen Garten. Regine trug nur einen bunten Luftanzug, den Mützchen ihr genäht hatte. Sie war schon ganz braun gebrannt.

„Ja, ich komme!“

Sie rannte nicht, sondern ging ein wenig zögernd über den Rasen. Seit der dummen Geschichte mit der Scheibe war alles anders geworden. So richtig fröhlich konnte man nicht mehr sein.

Mitunter vergaß man es, beim Spielen oder über einem spannenden Buch, im allgemeinen aber blieb auch da noch eine Stelle im Magen – oder war es auf dem Herzen? –, wo es drückte.

„Regele! Wo steckst du denn? Wir bekommen Besuch!“ erzählte Mützchen eifrig. „Onkel Henry hat angerufen.“

„Oh!“ sagte Regine erschrocken. Mützchen lachte gutmütig.

„Aber Regele, er tut dir doch nichts. Zu dumm, solche Angst zu haben! Ich geb’ dich doch nicht her!“

„Ich“, sagte sie, nicht „Wir“. War das Zufall? Oder ahnte Onkel Hannes etwas?

„Jetzt sag’ ich es wenigstens ihr“, dachte Regine, aber sie kam nicht dazu.

„Flink, trag den Kuchen zum Bäcker! Warte, hier ist das Netz! Und bringe dreißig Brötchen mit! Aber lauf, mein Regele, fix, hörst du? Du mußt dann noch den Tisch in der Laube decken.“

Regine lief, wenigstens, solange Mützchen sie sehen konnte. Dann verfiel sie in einen langsamen, nachdenklichen Trott. Es jetzt zu sagen, war viel schwieriger als damals, das war ihr klar. Onkel Hannes war sicher sehr, sehr böse, daß sie so lange geschwiegen hatte. Wenn Onkel Henry sie nun mitnähme, dann brauchte sie diese Geschichte nie zu erzählen.

Regine grübelte. Wenn Onkel Hannes nur damals nicht gesagt hätte, Verschweigen wäre viel, viel schlimmer als die dumme Sache selbst! Passieren könnte das jedem, aber man müßte auch den Mut haben, es zuzugeben.

Nein, jetzt konnte sie es nicht mehr sagen. Und da war es vielleicht wirklich besser, sie ließ sich von Onkel Henry mitnehmen, wenn er sie tatsächlich noch haben wollte.

Regine fühlte, wie ihr die Tränen kamen, wenn sie dies alles zu Ende dachte. Fort von hier, von Hannesle – das vor allem, das war das Schlimmste! –, aber auch fort von Mützchen und den großen Jungen. Und fort von Gottfried, mit dem sie so viele Pläne geschmiedet hatte für die großen Ferien, und fort von dem lieben, waldumschmiegten Grüningen, das ihr so schnell zur Heimat geworden war. Und schließlich auch fort von Onkel Hannes, den sie liebte und bewunderte, vor allem, wenn er Klavier spielte und diesen schönen, fernen Glanz in die Augen bekam.

Onkel Henrys Wagen war schon da, als sie vom Bäcker zurückkam. So hatte Mützchen doch selbst den Kaffeetisch dekken müssen? Nein, sie saß noch mit dem Besuch im Wohnzimmer. Regine baute die Tassen auf das Brett und balancierte es zur Küchentür hinaus. Mützchen sollte sich wenigstens auf sie verlassen können.

Der Tisch in der Laube sah, als er fertig gedeckt war, entzückend aus. Sonnenkringel und Schatten huschten über die Decke, und die Tassen und Tellerchen wirkten erst hier so richtig hübsch. Regine ging hinein, um sich umzuziehen. Onkels Dirndlkleid sollte sie nehmen, hatte Mützchen gesagt. Sie bürstete sich vor dem Spiegel die Haare, bis die Locken glänzten. Dann ging sie hinunter, immer noch bemerkenswert langsam, zögernd, und öffnete mit einem Entschluß die Tür zum Wohnzimmer.

„Ach, da bist du ja“, sagte Mützchen und stand lebhaft auf. „Wie gut, daß du kommst! Ich werde rasch Kaffee aufbrühen. Den Tisch hast du gedeckt? Danke, Regele. Ja, komm, du kannst dem Onkel solange Gesellschaft leisten!“

Regine trat heran. Der Onkel saß in Onkel Hannes’ tiefem Stuhl und sah ihr freundlich entgegen. Er zog sie, als sie ihn begrüßte, mit der Hand ein wenig näher zu sich heran. Regine gehorchte, als er sie bat, sich ein bißchen zu ihm zu setzen. Das hatte er schon einmal getan, an jenem ersten Tag, als sie sich begegneten. Er rauchte eine Zigarre, legte sie aber jetzt weg.

„Du hast mir einen so schönen, langen Brief geschrieben“, begann der Onkel nach einer Weile, „wie schön du es hier hast und wie lieb alle zu dir sind. Deine Tante sagte eben auch, wie herzlich gern sie dich hat. Ich war eigentlich gekommen, um dich zu fragen, ob du nicht doch einmal zu mir kommen willst, wenigstens in den Ferien.

Vielleicht kannst du dir nicht vorstellen, wie es ist, so allein zu leben, wie ich es jetzt muß, seit meine Frau nicht mehr da ist. Ich habe natürlich eine ganze Menge Menschen, mit denen ich sprechen muß, im Büro, in der Fabrik, und bei Verhandlungen. Aber ich habe keinen, der ein bißchen mit mir lacht und fröhlich ist. Und da hatte ich mir das ausgemalt, daß du vielleicht doch mitkämst.

Jetzt, als ich ein bißchen bei ihr saß, erzählte mir deine Tante, du wärst gar nicht mehr so fröhlich wie vorher. Du wärst so ganz anders. Regine, ich habe mir das jetzt überlegt. Sich ein Kind mitnehmen wie ein buntes Spielzeug, das man sich kauft, damit man in Freistunden seine Freude daran hat – ich glaube, das darf man nicht. Auch, wenn man dem Kind dafür alles geben kann, was es sich wünscht: ein schönes Leben in einem großen, warmen Haus, eine gute Schulbildung und noch vieles mehr. Aber ein Kind zu sich nehmen, das einen Kummer hat, gut zu ihm sein und Zeit dafür haben und ihm allmählich den Kummer überwinden und heilen helfen, das darf man doch? Oder meinst du nicht? Hast du denn solches Heimweh nach deinem großen Bruder?“

Er sagte das so lieb, halb scheu und auch ein bißchen ungeschickt. Regine sah ihn einen Augenblick voll an. Und da sah sie, daß seine Augen lieb und sehnsüchtig blickten, so gut, so freundlich und besorgt.

Sie gab sich einen Ruck und nahm ihn ganz schnell um den Hals. Er saß so niedrig, es ging ganz gut. Sie merkte, daß er ein bißchen erschrak. Bei ihr ging ja meistens alles so schnell, daß die andern nicht recht mitkamen. Aber das war nur ein Augenblick. Dann schloß er seine Arme um sie und hielt sie vorsichtig und zart an sich gedrückt.

„Kannst du es mir nicht sagen, Regine?“ fragte er nach einer Weile. Er fragte es ganz leise.

„Doch!“ schluckte Regine, ohne sich zu rühren. Wenn nur Mützchen jetzt nicht käme!

Mützchen war schrecklich lieb, aber Zeit hatte sie eigentlich nie für einen. Immer ging alles hopphopp bei ihr. Regine holte tief Luft.

„Onkel Henry, schenk mir fünf Mark! Oder sechs!“ flüsterte sie ganz schnell. So viel ungefähr mußte eine solche Kellerfensterscheibe wohl kosten. Sie wollte ihm gern wiedergeben, was übrigblieb, wenn sie billiger war. Aber das alles ließ sich nicht so schnell erklären. Sie merkte nur, daß er sich ein wenig bewegte. Ob er nun böse war? Sie wagte nicht, ihn anzusehen.

„Hast du einen Wunsch, der so viel kostet? Oder hast du“ – er lachte ganz leise –, „hast du was ausgefressen, Kind? Das kommt ja nicht nur bei Jungen vor. Nun sei mal tapfer, und gib es zu, gar so schlimm wird es ja wohl nicht sein!“

Daß er das sagte! Gerade das! Regine löste die Arme von seinem Hals, bog sich ein wenig zurück und sah ihn nun doch an. Wahrhaftig, seine stahlblauen, früher herrischen Augen lachten. Sie lachten herzlich und lustig.

„Ich war doch auch einmal ein Junge, der uneingestandene Dummheiten mit sich herumtrug. Also heraus damit! Was zerschmissen und nicht gebeichtet. Ich dachte mir’s doch.“

„Onkel Henry, du bist – du bist...“ Regine lachte und schluchzte gleichzeitig, und dann erfuhr der Onkel die ganze Geschichte, die noch niemand wußte. Sie kam zutage, durcheinander wie Kraut und Rüben, die Scheibe und der Ausflug und Hannesles Krankheit und daß es am ersten Tag eben nicht ging, sofort zu beichten, und daß es nachher so viel, viel schwerer war und eigentlich überhaupt zu spät. Der Onkel hörte sich alles an und klopfte ihr dann die Backe.

„So. Na, das hätten wir! Die Scheibe, Regine – oder Regele, so heißt du wohl bei denen, die dich liebhaben –, also die Scheibe übernehme ich. Einverstanden? Gut. War es das? Wirklich? Sonst nichts?“

„Sonst nichts, Onkel Henry“, sagte Regine und seufzte tief auf. Ach, wie gut das tat, wenn man es endlich von der Seele herunter hatte! „Sonst ist es so schön hier!“

„Das glaube ich.“ Auch er seufzte ein wenig, aber anders als sie. „Und so was Schönes habe ich eben nicht für dich. Geschwister, das Wichtigste für ein Kind, kann ich dir nicht geben – tja, da war es also nichts mit meinem Traum.“

„Bist du sehr traurig? Aber wenn ich vom Hannesle weg müßte...“

„Und von den andern auch. Ich glaube es dir. Verstehst du dich auch mit den großen Jungen so gut?“

„Sehr. Sie sind ja nur wenig zu Hause, deshalb freuen wir uns alle so sehr auf die Ferien. Sie fahren in der Schulzeit am Morgen so zeitig fort und kommen erst um halb drei Uhr wieder, manchmal noch später.“ Regine, das Herz vom schlimmsten Kummer befreit, begann zu erzählen und zu schildern. Sie merkte gar nicht, daß sie auf der Seitenlehne des Stuhles saß, in dem der Onkel lehnte, und daß er noch immer den Arm um sie gelegt hatte, fest und gut.

Mützchen kam so bald nicht wieder. Vielleicht hatte sie in der Küche wieder einmal etwas verschusselt, fand den Kaffee nicht oder hatte die Milch verschüttet.

Nein, Mützchen hatte nichts verschusselt. Mützchen hatte sogar einmal zur Tür hereingesehen, diese dann aber wieder zugezogen, ganz sachte und langsam. Und nun saß sie in der Küche neben dem fertigen Kaffee am Herd, die Hände im Schoß, und wartete.

Sie wartete lange, fast eine Stunde, und ihr Herz war schwer. Sie hatte gedacht, man brauche ein fremdes Kind nur herzlich liebzuhaben, und alles gehe gut. Aber das genügte nicht, wie es sich herausgestellt hatte. Und sie wußte auch, warum es nicht genügte. Man muß sich auch Zeit für ein Kind nehmen.

Und das hatte sie nicht getan. Und nun war es so gekommen. Sie hatte wohl gemerkt, daß Regine einen Kummer haben mußte, aber sie hatte immer gedacht: Das wird schon vorbeigehen. Nun erzählte das Kind diesen Kummer einem andern. Der, dem ein Kind seinen Kummer erzählt, der ist ihm der Nächste auf der Welt.

Mützchen war sehr betrübt. Sie wünschte Regine von Herzen alles Gute. Bei Onkel Henry würde sie es schön haben, daran war kein Zweifel. Mützchen wünschte sich aber auch sehr, Regine bei sich behalten zu können. Sie selbst hatte ja keine kleine Tochter und hatte sich so sehr eine gewünscht. Nun hatte sie gedacht, das Leben habe ihr Regine geschenkt, um sie dafür zu entschädigen, daß es ihr diesen Wunsch versagte.

Freilich, Onkel Henry konnte ihr mehr bieten, sie auf die besten Schulen schicken, und so früh aufzustehen brauchte sie auch nicht. Trotzdem, ach, trotzdem!

Mützchen fühlte, wie ihr ganz schnell ein paar Tränen über das Gesicht liefen. Sie wischte sie ab. In diesem Augenblick ging drüben die Tür. Und gleich darauf brachen Onkel Henry und Regine bei ihr in die Küche ein.

„Gibt es denn gar keinen Kaffee heute, Mützchen? Wir verdursten!“

„Wir“, sagten sie und strahlten beide. Strahlten so...

„Natürlich! Seid nicht böse!“

Mützchen nahm rasch und ein wenig übereifrig die Mütze von der Kaffeekanne. Vielleicht hatte sie sich auch die Augen nicht gut ausgewischt – hoppla –, Onkel Henry fing die Kanne gerade noch auf. Ach ja, Tempo, ihr alter Fehler!

Onkel Hannes gab noch Unterricht, er würde später kommen. So setzten sie sich zunächst zu dritt an den sommerlichen Kaffeetisch in der Laube. Mützchen goß ein.

Regine war dicht am Platzen, man sah es ihr an. Sie mußte heraus damit.

„Nun sag’s schon“, lächelte Onkel Henry, als die Tassen gefüllt waren, „du kannst es ja doch nicht abwarten.“

„Mützchen, wir haben uns was Herrliches ausgedacht! Was Herrliches, Mützchen!“ sprudelte Regine. Mützchen versuchte, ihr zuzulächeln.

„Was denn? Nun erzähle doch!“

„Also, weil Onkel Henry doch immer so allein ist und gar keine Kinder hat und weil – ja, und die Jungen haben es so weit, und Klavierstunde könnten sie dort auch haben, Onkel hat einen Flügel und kennt auch einen feinen Klavierlehrer. Und sie wären auch zu zweit, da kriegt man nicht so leicht Heimweh. Und alle Ferien wären sie natürlich hier und manchmal auch sonntags, weil der Onkel doch einen Wagen hat. Und die Jungensschulen sind dort gut, sagt Onkel Henry...“

„Die Jungen? Was haben denn die Jungen damit zu tun?“ fragte Mützchen. Sie hielt das Milchkännchen noch in der Hand über ihrer Tasse.

„Ja, natürlich die Jungen! Weil ich doch nicht weg will von hier! Von Hannesle und von euch! Und ich brauche doch auch keine höhere Schule. Aber die Jungen sind doch auch schon größer, und einmal gehen sie sowieso fort von zu Hause. Und es wäre doch herrlich für sie.“

„So. Darf ich einmal...“ Onkel Henry nahm Mützchen behutsam die Milchkanne aus der Hand. Die Tasse lief schon ein ganzes Weilchen über, er hatte es aber auch eben erst gesehen.

Mützchen guckte darauf und mußte lachen, und dann lachten sie alle drei. Lachten und schütteten das Übergelaufene in den Kies des Gartenweges und tranken erst allesamt einmal einen Schluck Kaffee. Und dann wurde richtig erzählt, der Reihe nach.

Onkel Henry nahm die Sache in die Hand und fädelte sie richtig ein, von der kaputten Scheibe angefangen bis zu dem Augenblick, in dem Regine den guten Gedanken fand.

„Nein, du fandest ihn!“ verwahrte sich Regine heftig und eifrig. „Du bist auf die Jungen gekommen!“

„Aber du hast mir von ihnen erzählt!“

„Ja, das von der Fahrerei, das alles. Daß sie im Winter manchmal ganz erfroren sind, wenn sie ankommen, und Jürgen hat einmal die ganze Strecke schieben müssen, in Regen und Sturm. Und naß sind sie oft bis auf die Haut. Nein, gut haben sie es nicht! Im Sommer schon, aber auch da sind sie manchmal schrecklich müde, und zum Schwimmen gehen und so etwas, dazu reicht die Zeit nie so richtig. Und mit den Klavierstunden hat Onkel Hannes auch aufhören müssen, weil die Jungen einfach keine Zeit zum Üben haben. Das wäre alles bei Onkel Henry viel besser!“

„Ob es nicht wirklich ein wenig besser wäre?“ fragte Onkel Henry jetzt vorsichtig. „Ich hätte sie so gern bei mir. Ich habe mir immer von Herzen Kinder gewünscht. Für wen arbeitet man schließlich, wenn nicht für die, die nach einem kommen? Und da ich keine habe und nun auch keine Frau mehr, so würden Sie mir damit eine große Freude machen. Wir müssen das alles einmal in Ruhe mit Ihrem Mann besprechen. Eins aber möchte ich gleich vorwegnehmen: Ich wäre oft mit den Jungen hier, sooft es geht. Mit dem Wagen ist man ja rasch über Land, und ich muß sagen, Sie haben sich hier ein bezauberndes Stückchen Erde ausgesucht. Ich glaube, Grüningen hat sich der liebe Gott in seiner besten Laune ausgedacht, das Schulhaus aber in erster Linie.“

Er lächelte Mützchen zu, und Mützchen strahlte zurück. Immer sagte sie ja: „Grüningen ist der schönste Platz in Nordrhein-Westfalen.“

Etwas später hörte man, wie die Schulkinder mit lautem Hallo aus dem Hause stürzten, die Schule war aus für heute. Nun würde Onkel Hannes gleich kommen. Richtig, da bog er um die Ecke.

Regine hatte ihn sehnsüchtig und gleichzeitig mit angstvollem Herzklopfen erwartet. Jetzt mußte es also heraus.

Es fiel ihr sehr schwer. Und sie sah deutlich, daß Onkel Hannes traurig war, als er alles angehört hatte. Seine Augen wurden ganz dunkel. Ach, alles konnte er leiden, nur nicht ein Vertuschen und Verschweigen.

„Sei nicht böse“, flüsterte sie erstickt, „Onkel Henry will mir helfen, hat er gesagt.“

„Natürlich ersetze ich die Scheibe“, tröstete der Onkel, „aber du mußt dir vornehmen, daß du es das nächste Mal wirklich gleich sagst, wenn dir so etwas passiert.“

„Nein, das nächste Mal tu ich es nicht wieder“, schluckte Regine, „das nächste Mal sage ich es gleich, wirklich!“

„Gut, Regele“, sagte Onkel Hannes sanft, „es hat dir wohl viel Kummer gemacht?“

„Ja, Onkel Hannes, danke! Und jetzt darf ich bei euch bleiben?“

In diesem Augenblick erschien Hannesle, noch im Schlafanzug vom Mittagsschlaf her, der heute ein bißchen länger gedauert hatte, in der hinteren Haustür. Es sah ärgerlich und vorwurfsvoll drein.

„Hannesle!“ rief Regine, sprang auf und lief zu ihm hinüber. „Komm, Onkel Henry ist da. Wart, du sagst ihm gleich so guten Tag!“

Sie hob ihn auf den Arm und schleppte ihn heran.

„Guten Tag, kleiner Mann“, sagte Onkel Henry und sah lächelnd in das runde, rotgeschlafene Kindergesicht. „Sehen Sie, da haben Sie doch noch Nachwuchs. Bis der in die Stadt muß, um zu lernen, vergehen noch ein paar Jahre.“

Regine hatte den Kleinen kurzerhand auf Onkel Henrys Schoß gesetzt, obwohl er ja eigentlich kein Schoßkind mehr war.

Mützchen lächelte Onkel Henry zu. Aber es war ein ernstes und ein wenig wehmütiges Lächeln.

„Es geht schnell, glauben Sie mir. Es geht viel zu schnell“, sagte sie leise.

Der Onkel erwiderte ihren Blick, sagte aber nichts. Aber er guckte so lieb, so lieb, wie man es ihm eigentlich nie zugetraut hätte.

„Nun lauf und zieh ihn erst einmal an“, sagte Mützchen zu Regine, „zieh ihm das Sonntagshöschen an und das helle Hemd. Du möchtest ihn doch immer fein haben. Und heute ist ja auch ein Feiertag, finde ich.“

Die großen Jungen kamen an diesem Tag erst gegen Abend nach Hause. Das war ganz gut so, da konnte man vorher alles in Ruhe besprechen. Es war ja noch nichts Endgültiges, aber doch ein Plan, eine Aussicht. Onkel Henry begrüßte sie und sah sie prüfend an. Man konnte nicht recht beurteilen, wer ihm zunächst mehr gefiel. Jürgen mit seinem roten Schopf und den unternehmend blitzenden Augen – er hatte Mützchens Temperament, da war kein Zweifel. Man konnte sich gut vorstellen, daß er einmal Sportlehrer werden würde, verwegen und mitreißend, ein Kerl, der seinen Weg im Leben schon finden würde.

Dieter war anders. Bei ihm war es schwerer, zu beurteilen, wohin es ihn führen würde. Er hatte ein klares Profil, und er konnte verträumt gucken, besonders wenn er am Klavier saß oder über irgend etwas nachgrübelte. Regine hatte sich immer mehr zu Jürgen hingezogen gefühlt und zu Gottfried, außer zu ihrem Hannesle natürlich, den sie von Anfang an als ihr Kind angesehen hatte. Aber Dieter war auch nett, fand sie. Jetzt stand sie mit klopfendem Herzen dabei, als der Onkel die Jungen musterte. Ihre Brüder, waren sie nicht prächtige Kerls? Obwohl, natürlich, so wie Axel war keiner!

„Und wie geht es deinem richtigen Bruder? Axel heißt er ja wohl. Du mußt mir viel von ihm erzählen, Regele“, sagte Onkel Henry im selben Augenblick, als sie dies dachte. „Ja, alles muß ich wissen. Ihr werdet mich ja jetzt öfters hier haben, wenn es euch recht ist. Übrigens, wenn die Jungen heute mitfahren – es ist ja Samstag, und ich könnte euch morgen abend wieder rechtzeitig abliefern –, da könntest du eigentlich auch mitfahren, Regele, finde ich. Oder hast du noch immer ein bißchen Angst? Dann ist doch keine Gefahr, daß ich dich gegen deinen Willen entführe!“

Onkel Henry lachte, und dann lachten sie alle, auch die Jungen, als sie hörten, daß sie mitfahren sollten. Im Mercedes 220!

„Lieber Axel,

bei uns ist etwas Wunderbares passiert, das muß ich Dir gleich schreiben. Ich hatte eine Scheibe eingeschmissen und das nicht erzählt. Das kam so. Hannesle war gerade krank, und da muß ich immer bei ihm sein, weil ich ihm da erzähle oder was ausschneide, und dann ist er ganz zufrieden. Aber es waren bloß die Windpocken, also nicht schlimm. Und jetzt ist er wieder gesund und alles gut. Vor allem aber: Ich brauche nicht weg. Ich möchte doch gar nicht, denn hier ist es so schön. Mützchen hatte das nur gedacht, und Onkel Henry wollte es auch gern. Jetzt nimmt er aber die großen Jungen, alle beide, weil er selbst keine Kinder hat und sich immer welche wünschte. Und ich glaube, vielleicht kann der eine von ihnen mal wie sein Sohn in die Fabrik kommen, denn Onkel Henry hat gesagt, man muß doch wissen, für wen man arbeitet. Erst aber sollen sie dort weiter in die Schule gehen, und das ist bestimmt besser für sie, weil sie hier so einen weiten Schulweg haben, und Klavierstunden bekommen sie dort auch. Onkel Henry ist furchtbar lieb, und daß er unsere Mutter nicht gemocht hat, das stimmt gar nicht. Ich habe ihn danach gefragt, man kann sich wunderbar mit ihm unterhalten. Er hat sie sogar sehr gern gehabt, aber sie wollte eben lieber unsern Vater haben als ihn. Und da hat irgend jemand aus der lieben Verwandtschaft behauptet, es wäre umgekehrt gewesen, und er habe sie nicht leiden können. Von mir sagte er, ich sähe ihr ähnlich, und daran hätte er mich gleich erkannt, als wir uns in dem Rasthaus an der Autobahn trafen und ich ihm Kaffee brachte. Das glaube ich aber wieder nicht so recht, denn zuallererst hat er mich beim Überholen gesehen, und da war er wirklich wütend, aber das geht vielleicht jedem so, wenn er vorbei will und nicht kann.

Auf jeden Fall ist er jetzt furchtbar lieb, und ich darf in Grüningen bleiben bei Hannesle, bei Mützchen und Onkel Hannes und Gottfried. Und Onkel Henry hat gesagt – er hat doch eine Papierfabrik und kennt viele Zeitungsleute –, wenn Du Dich erst genug herumgetrieben hast in der Welt, wird er dafür sorgen, daß...

Aber das soll ich ja noch nicht verraten. Ich habe auch noch nichts verraten, nicht wahr, nein? Axel, bitte, Du darfst gar nichts merken, sonst müßte ich den Brief noch mal abschreiben ohne die letzte Zeile, denn wenn ich sie durchstreiche, liest Du sie ja doch erst recht. Und Hannesle zerrt schon so sehr an mir und will durchaus mit mir panschen gehen. Wir haben nämlich, weil es so heiß ist, eine Wanne voll Wasser auf den Rasen gestellt, aber Hannesle braucht immer jemanden, den er vollspritzen kann. Allein macht es ihm kein Vergnügen.

Nicht wahr, Du verrätst nichts! Das kann man ja auch nicht. Tausend Grüße von uns allen, auch von Onkel Henry und natürlich vom gesamten Grüninger Schulhaus. Den schönsten Gruß aber von

Deinem glücklichen Regele.“

Das große Lise-Gast-Buch

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