Читать книгу Das große Lise-Gast-Buch - Lise Gast - Страница 9
Die neue Heimat
Оглавление„Jetzt sind wir bald da“, sagte Herr Burger und sah Regine an. Sie erwiderte seinen Blick eine Sekunde lang, sah dann wieder geradeaus. „Na, na“, brummte er gleich darauf tröstlich.
„Siehst du, das ist eure Stadt. Grüningen liegt bei Warburg“, erzählte er und ließ seinen Wagen langsam bergauf schnaufen. „Hierher schicken sie dich vielleicht in die Schule.“
„So nahe sind wir schon?“
„Na, es werden noch fünfzehn Kilometer sein. Nein, so weit wirst du wohl nicht fahren müssen. Vielleicht gibt’s im nächsten Ort, in Niederhausen, eine Mittelschule für dich. Das ist nicht so weit, und dahin fährt vielleicht ein Omnibus. Bist du zu Hause in die höhere Schule gegangen?“
„Nein, auch in die Mittelschule. Axel sagt, ich würde doch später einmal etwas Praktisches werden, weil ich so gern wirtschafte und koche und backe. Ja, ich kann Kuchen backen, wirklich! Und in der Schule, in die ich dort ging, gab es in den oberen Klassen auch schon Kochstunden. Ob das hier in Westfalen auch so ist?“
„Meinst du, die Westfalen kochen nicht? Und wie gut! Hast du noch nie was von westfälischem Schinken gehört?“
Doch, das hatte Regine wohl. Jetzt aber interessierte sie das Städtchen, und sie sah eifrig um sich. Sie fuhren an einem hellen, großen Gebäude vorbei, dem man schon von weitem ansah, daß es eine Schule war. Aber eine Jungenschule, wie man sofort merkte. Der Unterricht mußte gerade zu Ende sein, denn es strömte aus dem Tor, Jungen aller Größen, mit Schulranzen die kleineren, mit Mappen unterm Arm die größeren. Aus einem Seitentor wurden Räder herausgeschoben.
„Vielleicht sind deine neuen Brüder dabei“, lächelte Herr Burger. „Such sie mal heraus! Wie wäre es mit dem?“ Er zeigte auf einen sommersprossigen, rothaarigen, etwa vierzehn Jahre alten Bengel, der soeben auf sein Rad sprang, indem er, an der Lenkstange anfassend, es neben sich herschob, zu einer Flanke ansetzte und dann mit gegrätschten Beinen auf dem Sattel landete. Es sah großartig aus, und Regine lachte.
„Der würde mir schon gefallen!“
Der Junge, der gerade in Höhe des Lastzuges fuhr, hatte wohl gemerkt, daß man ihn beobachtete. Er sah zu Regine empor, lachte sie an und streckte ihr dann die Zunge heraus, so lang er konnte. Herr Burger, der es auch sah, lachte laut.
„Na? Gefällt er dir immer noch?“
„Warum nicht? Frech ist er, aber radeln kann er wunderbar. So aufsteigen wie er, das möchte ich auch lernen.“
„Ich glaube, du wirst es mit den Buben schon aufnehmen“, sagte Herr Burger nach einer kleinen Weile, in der sie beide nachdenklich geschwiegen hatten. „Soll ich einmal zu dir herein gucken, wenn ich die Tour wieder fahre?“
„Ach ja“, sagte Regine dankbar. Sie fühlte genau, was der Mann neben ihr meinte. Natürlich ist aller Anfang schwer.
In Niederhausen hielten sie noch einmal an. Herr Burger stieg aus und bedeutete, Regine möchte mitkommen. Sie traten in den Laden, vor dem er gehalten hatte, und Regine sollte sich etwas aussuchen. Was mochte sie denn gern, eine Tafel Schokolade oder gebrannte Mandeln oder Zuckerle? Raus mit der Sprache!
„Ach, Herr Burger...“
„Nun, sei nicht dumm. Vollmilch oder Nuß?“
„Nuß, bitte. Und ich danke Ihnen auch schön. Wissen Sie, wenn Sie uns in Grüningen einmal besuchen, dann backe ich einen Kuchen. Ob mir das meine Tante erlaubt, was meinen Sie? Vielleicht glaubt sie mir nicht, daß ich es kann?“
„Du mußt es ihr nur richtig beibringen. Gleich von Anfang an ein bißchen zugreifen und dich nützlich machen. Sie hat doch nur Buben, sagtest du. Da ist es doch für ein Mädel nicht schwer! Es wird schon alles gutgehen, Regele.“ Er sagte es tröstend und so, daß man es wirklich glauben konnte. Sie waren aus Niederhausen herausgefahren und rollten nun Grüningen zu. Regines Herz fing an zu klopfen.
Und nun waren sie angekommen. Grüningen lag ein wenig abseits von der großen Straße, aber man konnte mit dem Laster hinfahren. Es ging erst ein wenig bergauf und dann in eine flache Mulde hinunter. „Im schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus“, an dieses Lied mußte Regine denken. Ach, das Dorf lag entzückend und am allerschönsten das Schulhaus! Gleich am Anfang, ein Haus mit einem Mansardendach, dessen Ziegel, einstmals rot, jetzt ein wenig abgedunkelt waren. Das Haus war von selbstklimmendem Wein bewachsen, so daß die Fenster wie aus grünen Polstern herausguckten, und davor lag ein Schulhof, von einer Hecke eingefriedet und von Kastanien beschattet. Hinter dem Haus begann der Garten, er war dreieckig, mit einer Laube im hinteren Winkel, einem Sandkasten und einem Schaukelgerüst, und auf dem Schaukelbrett saß ein kleiner Junge und angelte mit seinen dicken Beinen vor und zurück, um in Schwung zu kommen.
„Mütz-chen! Mütz-chen! Gib mir einen Schubs!“ rief er. Aber kein Mützchen kam. Regine, die eben abgestiegen war und ein wenig unschlüssig neben Herrn Burger stehengeblieben war, stellte rasch ihr Köfferchen weg.
„Warte, ich komme!“ Sie schlüpfte durch das Gartentor und lief zur Schaukel. „So, nun halte dich mal richtig fest! Achtung – ja, so. Na, ist das fein? Noch höher?“
„Nein, aber, das ist doch jeden Tag dasselbe!“ rief in diesem Augenblick eine helle Frauenstimme. „Alle sind da, nur der Herr Jüngste nicht. Hannesle, hast du nicht gehört? Zum Essen kommen!“
Regine guckte sich um. In der Küchentür, die sich nach dem Garten zu öffnete, stand eine kleine runde Frau, helles Haar und bunte Schürze, lustige Augen und rote Backen. „Nun aber los!“
„Ich hab’ ihn nur geschaukelt“, sagte Regine ein wenig schuldbewußt und hob den Kleinen rasch herunter. „Er hat gerufen, es sollte ihn jemand anschubsen.“ Sie lief, den Kleinen an der Hand, auf die Frau zu. Die guckte sie an.
„Wer bist du denn? Mein Gott, das ist doch die Regine! Wahrhaftig, das Regele schneit uns hier herein! Ja, euren Brief haben wir bekommen. Nein, aber, Mädel – wie lange bist du denn schon da?“
„Eben gekommen“, meldete Herr Burger, der nun auch durch das Gartenpförtchen getreten war. „Frau Westphal? Ja? Da kann ich Ihnen also die neue Tochter übergeben. Am liebsten würde ich sie behalten, so gut haben wir uns unterwegs vertragen“, sagte er und nickte Regine zu. Die kleine Frau lachte.
„Das könnte Ihnen so passen! Wo ich mir doch mein ganzes Leben lang ein Mädel gewünscht habe!“ Sie legte den Arm um Regines Schulter. „Nein, das gibt’s nicht! Und mit dem Hannesle hast du dich auch schon angefreundet, Regele? Aber Hunger wirst du haben, gut, daß wir so spät zu Mittag essen. Und Sie kommen auch mit herein, gelt, bitte! Wir wollen eben anfangen.“
„Aber ich kann Ihnen doch nicht in die Suppenschüssel fallen“, wehrte Herr Burger ab. Jedoch Frau Westphal ließ das nicht gelten.
„Unsinn, bei uns geht dauernd Besuch ein und aus. Ich habe genug gekocht. Wenn Ihnen ein tüchtiger Eintopf recht ist?“
Sie waren durch die Küche und den Flur in ein helles Eckzimmer getreten. Ein bäuerlicher Tisch, um den an zwei Seiten eine Bank lief, stand in der Fensterecke, und auf dem Tisch dampfte in einer Bunzlauer Terrine die Suppe. Ein Mann und drei Jungen, zwei größere und ein vielleicht zehnjähriger, erhoben sich, als sie eintraten. Regine gab Herrn Burger einen kleinen Puff in die Seite und verschluckte ein Lachen.
„Wahrhaftig, das ist er!“
Auch Herr Burger mußte lachen. Der rothaarige Junge, der Regine vorhin so passend begrüßte, nachdem sie seine Cowboykünste auf dem Rad bewundert hatte, war das erste, was sie sahen. Er schien sie auch erkannt zu haben. Regine gab erst Onkel Hannes die Hand und machte einen Knicks, dann sagte sie den Jungen guten Tag.
„Wir kennen uns ja schon“, sagte sie, als ihr Jürgen, der Rothaarige, vorgestellt wurde.
„So? Woher denn?“ fragte Onkel Hannes.
„Wir haben ihn in Warburg aus der Schule kommen sehen. Er sprang so schneidig aufs Rad, das möchte ich auch können. Nicht wahr, Jürgen, du hast uns auch gesehen?“ fragte sie scheinheilig.
Jürgen nickte. Aber sie erzählte sonst nichts von dieser Begegnung.
„Na also, das nenn’ ich einen Blick haben“, sagte Herr Westphal behaglich. „Nun aber setzen, los! Gottfried, lauf und hol noch zwei Teller!“
„Ich gehe schon. Ich weiß doch, wo die Küche ist!“ rief Regine und lief zur Tür. Schon war sie hinaus. Herr Burger sah ihr nach und schmunzelte dann stolz zu Frau Westphal hinüber.
„Die ist in Ordnung“, sagte er. „An der werden Sie Ihre Freude haben.“
„Na, unser Mützchen! Nun hat sie endlich die ersehnte Tochter bekommen“, sagte der älteste der drei Jungen, „und wir sind abgemeldet. So hatte ich mir das ja ausgemalt.“
„Ach Dieter, du Dussel! Ist sie nicht ein reizender Kerl, die Regine? Warte nur, wenn ihr mich jetzt ärgert, habe ich Verstärkung. Wissen Sie, Herr Burger, es ist nicht leicht, die einzige Frau in solch einem Männerkreis zu sein!“ sagte Mützchen lebhaft und tauchte die Suppenkelle in die Terrine. „So, da sind die beiden Teller. Setz dich hier neben mich, Regele, komm! Du wirst doch hungrig sein nach der langen Fahrt. Seit wann seid ihr denn unterwegs?“
„Seit heute in aller Herrgottsfrühe“, erzählte Regine. „Danke. Ich bin gar nicht ausgehungert. Herr Burger hat mich immerfort gefüttert. Aber ich habe euch auch was mitgebracht! Ich hole es gleich!“
Es war eine gemütliche Runde, so daß man sich sofort wie zu Hause fühlte, und die Suppe schmeckte herrlich.
Als die Terrine leer war, lief Mützchen und holte eine Schüssel Apfelmus.
„Heute ist Feiertag. Sonst gibt es bei uns wochentags nichts hinterher, aber heute müssen wir doch Regeles Einstand feiern.“
Der Abschied von Herrn Burger wurde dann doch noch ein bißchen traurig. Regine stand neben dem Laster und hielt die schwere, harte Hand des Mannes in der ihren.
„Kommen Sie wirklich mal wieder vorbei?“ fragte sie und sah ihn an. Er nickte. Dann aber sagte er leise und eindringlich: „Regele, so gut, wie sie dich aufgenommen haben, das passiert nicht jedem! Nun mußt du aber auch die Ohren steifhalten, versprichst du mir das? Natürlich komme ich wieder, wenn ich diese Tour fahre. Also – mach’s gut!“
Regine schluckte. Er stieg ein und winkte ihr noch zu, als der Wagen schon rollte. Und da sah er, wie Regine nicht mehr allein stand, ihm nachzusehen. Hannesle war gelaufen gekommen und hatte ihre Hand gefaßt. Sie beugte sich zu ihm herunter und hob ihn auf den Arm. Und als sie jetzt winkten, sah er, daß Regine nun auch lachte.
„Na, wird schon gutgehen“, brummte Herr Burger vor sich hin und schaltete. Es war doch recht einsam, wenn man so allein im Lastwagen saß. Na, vielleicht bekam er bald wieder eine Fracht für diese Gegend.
„Schaukeln wir jetzt wieder?“ fragte Hannesle, als der Wagen hinter dem Hügel verschwunden war. Regine lachte.
„Erst schlachten wir die Tafel Schokolade, die uns Onkel Burger geschenkt hat. Wollen wir? Nein, aber zuallererst trocknen wir dem Mützchen das Geschirr ab. Tust du mit? Natürlich kannst du das schon. Und dann schaukeln wir, und du zeigst mir alles, alles hier. Habt ihr auch Karnickel? Und Hühner? Was, einen Hund habt ihr auch? Darf der nicht ins Haus? Mützchen, warum darf der Waldi nicht ins Haus?“