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Mit Winnetou zum Bodensee

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Unsere Kinder machten keine teuren Sommerreisen, wir hatten kein Auto, keine Zeit und kein Geld dazu. Dafür dachten sie sich andere schöne Dinge aus. Der Jüngste, Ben, und seine etwas ältere Schwester Steffi planten eines Sommers eine Reise an den Bodensee. Als das übliche Aufsatzthema in der Schule kam – Mein schönstes Ferienerlebnis –, schrieb Ben, damals zwölf Jahre alt, folgendes, und mancher wird ihn um sein Ferienerlebnis beneiden:

Ich gehöre in eine ponynärrische Familie und bin der Jüngste von achten. Seit ich denken kann, leben wir mit Ponys zusammen, erst in Westfalen auf einem Gutshof, jetzt in einem eigenen Holzhaus in Württemberg. Das kaufte meine Mutter, damit wir mit unsern Pferden Zusammenleben können. Es hieß vom ersten Tag an „Der Ponyhof“. Dort wohnen wir in einem Wiesental, und um unser Häuschen herum grasen unsere liebsten Spielgefährten: die kleinen Rappen, Füchse und Braunen, der stolze Hengst Winnetou und die winzigen Fohlen.

Erst hatten wir nur Shettys, das sind die allerkleinsten Ponys; als aber unsere größeren Geschwister auch reiten wollten, kauften wir Isländer dazu. Auf denen reitet auch Mutter.

Daß es mit diesen Pferdchen viel Spaß gibt, kann man sich denken. Ponys werden sehr zahm. Und so ist es keine Seltenheit, daß Winnetou, unser kleiner Hengst, uns mitunter in der Wohnküche besucht oder daß Appelschnut, seine kleine kohlschwarze Frau, auf der Gartenterrasse erscheint, wo wir mit Besuch Kaffee trinken. Und erst die Fohlen! Anfangs sind sie so winzig wie Stadtköfferchen, und wir können sie auf den Armen herumtragen. Man bedenke, Pferde! Die Mutterstuten haben nichts dagegen, sie wissen, daß wir ihren Kindern nicht weh tun.

Wir reiten natürlich alle. Seit kurzem besitzen wir aber auch zwei kleine Ponywagen, mit denen wir ausfahren können. Mit dem Zweispänner geht es jeden Tag in die Stadt zum Einkaufen, und eine meiner Schwestern ist damit zur Hochzeit gefahren, sogar vierspännig. Das war wunderbar und aufregend. Der Einspänner ist richtig geländegängig, mit dem kann man jeden Waldweg fahren. Wir haben ihn sogar schon über Baumstämme gehoben und durch Bäche geschleust. Wenn es steil bergauf geht, steigen wir natürlich aus, und wir achten auch darauf, daß unsern Ponys nichts passiert, wenn es bergab geht. In der Ebene aber saust der Wagen, daß die Haare fliegen. Unsere Ponys laufen gern schnell und haben den größten Spaß daran, das federleichte, gummibereifte Wägelchen zu ziehen.

Am liebsten fahre ich mit Winnetou, den ich auch allein reite. Meine Geschwister sind schon über ihn hinausgewachsen. Ich habe ihn selbst zugeritten, als er zu uns kam. Das war ein Theater! Mutter und eins meiner Geschwister hielten ihn rechts und links, bis ich mich auf seinen Rücken hinaufgemogelt hatte. Aber sobald sie ihn losließen, drehte er sich wie ein Kreisel, dreimal, fünfmal, zehnmal, und ging dabei vorn und hinten hoch, bis er mich los war und ich in weitem Bogen in die Wiese sauste. Was haben wir da gelacht!

Jetzt aber geht er wie ein Dressurpferd unter mir, auch ohne Zügel, wenn ich gerade mal keinen bei der Hand habe. Er springt über Bäche und Hindernisse und tritt in fast jedem Turnier der Umgebung auf, lachend begrüßt vom Publikum, das ihn schon kennt. Beim Jagdgalopp überholt er sogar die Isländer, obwohl sie längere Beine haben.

Die Fohlen, die Appelschnut von ihm bekommt, sind alle erst schwarz, wenn sie geboren werden, und es ist jedes Jahr spannend, ob es ein Rappe bleibt oder ein Schimmel wird. Einmal haben wir erlebt, daß ein Fohlen ganz bunt wurde: braun die Kruppe, weiß die Beine, schwarz die Mähne und der Schweif aus den drei Farben gemischt. Dieses Pony heißt Aki und ist so komisch, daß wir es nicht verkauft haben, obwohl wir schon genügend Pferde besitzen. Wir haben es heute noch, und es erheitert alle Besucher, wenn es „Bittebitte“ macht oder uns die Brotrinden aus der Tasche stiehlt.

In dem Sommer nun, von dem ich erzählen will, war bei uns der Teufel los. Die Ponys spielten uns einen Streich nach dem anderen. Immer erfanden sie neue Möglichkeiten, auszureißen. Dauernd waren wir auf Ponyjagd. „Aki ist weg“, hieß es, „lauft und sucht sie, ehe sie Unheil anrichtet. Der häufigste Alarmschrei war: „Eben hab’ ich gesehen, wie der Winnetou wieder...“, und die ganze Familie rannte.

Winnetou, mein kleiner Schimmel, ist sehr unternehmend und unbeschreiblich frech. Und immer heißt es dann: „Natürlich, dein Pony!“

Darum und auch, weil meine Schwester Steffi und ich gern eine Reise machen wollten, entstand der Plan: „Dürfen wir mit Winnetou an den Bodensee fahren?“ Mutter, die gerade andere Dinge im Kopf hatte, sagte leichtsinnigerweise: „Ja, nur los. Dann hört wenigstens die ewige Ponysucherei auf. Es darf aber nichts kosten.“

Na, da haben wir nicht lange gewartet, sondern gleich alles, was wir unterwegs brauchten, auf den Einspänner gepackt. Die Strecke hatten wir uns auf einer Wanderkarte herausgesucht; wir wollten natürlich keine Autostraßen fahren, und zur Übernachtung hofften wir auf die Reitvereine am Wege. Etwas Geld hatten wir, und Mutter, die nun sah, daß es uns ernst war, stiftete auch noch einen Schein. Hafer für Winnetou nahmen wir aus der gemeinsamen Futterkiste.

„Hier hätte er ja auch welchen bekommen“, sagte Steffi und schaufelte feste in den Reisesack. Und ein paar Pfund Mohrrüben gegen den Durst waren „zufällig“ beim letzten Einkauf im Wagen liegengeblieben...

Eines frühen Augustmorgens war es dann soweit. Steffi und ich allein mit Winnetou, herrlich! Erst ging es mächtig bergauf, über die Reiterleskapelle am Kalten Feld; du lieber Himmel, war das heiß! Und dann weiter zur Schwäbischen Alb empor, ungefähr dort, wo die Autos die Geislinger Steige erklettern. Da sind wir natürlich abgestiegen und zu Fuß neben Winnetou hermarschiert. Aber schon an einem der nächsten Tage wurden wir fürstlich belohnt: Wir kreuzten die Donau. Hier blieben wir so lange, daß wir unser Tagesziel beinahe nicht mehr erreicht hätten. Winnetou fand es, genau wie wir, gar zu herrlich, nach der heißen Tour ein kühles Bad zu nehmen. Abwechselnd betrieben wir mit ihm einen von uns erfundenen Sport, den sicher nur wenige Menschen kennen: neben dem Pony zu schwimmen, sich, an seine Mähne gehängt, stromab treiben zu lassen, soweit man Lust hat. Ein bißchen muß man aufpassen, daß man keinen Schlag von Winnetous Hufen abbekommt, denn er rudert eben doch, um die Richtung beizubehalten. Die Donau ist dort nämlich ganz schön reißend. Und dann, wenn das Ufer wieder erklettert ist, rauf auf das nasse Pferd und im Galopp zurück zur Lagerstätte. Wir konnten nicht genug davon bekommen.

Als wir auf die Uhr sahen, war es schon später Nachmittag. Schleunigst packten wir auf und tackelten im Tempo los. Knapp vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir unser Ziel, einen Reitverein. Die Reitburschen dort lachten sich halbtot über unser kleines Pferd. Sie stellten Winnetou neben Herkes, ihr größtes Reitpferd, und lachten und lachten. „Freilich, auf so eins kämt ihr sowieso nicht rauf!“ sagten sie spöttisch.

Da hatten sie sich aber geschnitten. Steffi und ich reiten seit Jahren im Reitverein auf großen Pferden, und da ist erste Bedingung, daß man ohne Bügel hinaufkommt. So wetteten wir um fünf Mark, daß ich auf den Herkes käme. Steffi warnte die andern noch, aber einer der Pferdeburschen wollte durchaus wetten. Er führte Herkes in die Stallgasse und hielt ihn am Kopf. Wupp, war ich oben und hatte fünf Mark verdient. Davon gingen wir am Abend Eis essen. Dem Stallburschen brachten wir zum Trost eine Flasche Bier mit.

Fünf Tage brauchten wir bis zum Bodensee. Dort wollten wir Ali besuchen, einen kleinen Rapphengst, den wir dorthin verkauft hatten. Er war inzwischen gewachsen, größer als Winnetou, sehr rassig. Als er uns kommen sah, trompetete er ohrenzerreißend und wollte über den Zaun springen. Er und Winnetou begrüßten einander aufgeregt und laut schnaubend. Ein paarmal mußten wir sie auseinanderreißen, zwei Hengste, das ist immer so eine Sache.

Dann haben wir den Ali, der als unreitbar galt, doch geritten. Ein paarmal setzte er uns ab, aber das macht uns nichts aus, wir fliegen öfter von einem Pony und sind es gewöhnt, uns beim Sturz zusammengekugelt abzurollen. Wir durften auch die andern Pferde reiten, die dort standen. Der Reitlehrer war früher in unserm Verein gewesen und kannte uns. Wir halfen beim Stroheinräumen und Mistfahren und Putzen, ruderten auf dem Bodensee und verbrauchten fast alles Geld. Eines Tages rief Mutter an, wo wir denn blieben. Unsere Schwester Brigitte hätte doch in dieser Woche Hochzeit, ob wir nicht dabeisein wollten.

Himmel, das hatten wir völlig vergessen. Natürlich wollten wir! Also wurde in Eile gepackt, danke gesagt und Abschied genommen. Und jetzt begann ein Rennen gegen die Zeit. Gottlob war es kühl, und wir konnten Winnetou ohne Bedenken stundenlang traben lassen.

Einmal trafen wir Zigeuner. Sie wollten uns unsern kleinen Hengst abschwatzen. An diesem Tag fuhren wir noch zwanzig Kilometer weiter, weil wir Angst hatten, sie würden ihn uns, zwei Kindern, in der Nacht stehlen. Sie hatten auch Ponys, aber wie sahen die aus! Mager und struppig und schlecht gepflegt!

Weil wir am späten Abend keine Unterkunft mehr fanden, krochen wir schließlich unter eine Getreidegarbe. Der Mond kam heraus. Winnetou stand am Feldrain und graste. Wir wachten abwechselnd und froren wie die Schneider, denn es taute mächtig. Schließlich müssen wir doch beide eingeschlafen sein.

Als wir aufwachten, war die Sonne gerade aufgegangen. Der erste Blick galt Winnetou: Gottlob, da stand er! Erleichtert sprangen wir auf, umhalsten ihn und sagten ihm guten Morgen. Während wir dann losfuhren, malten wir uns aus, was wir uns diesmal zum Frühstück leisten würden: Milch und so viele frische Brötchen, wie wir essen konnten, und dazu Wurst aus der Hand. Dafür würde unser Geld sicherlich noch reichen.

„Wieviel haben wir denn noch?“ fragte ich. Steffi griff in die Hosentasche. Da aber war kein Portemonnaie. Wir suchten in allen Taschen. Schließlich hielten wir an und nahmen das ganze Gepäck auseinander. Kein Geldbeutel!

„Die Zigeuner!“ sagte Steffi.

Ich glaubte das nicht. „Die wollten doch aber den Winnetou!“

Nun, alles Hin und Her half nichts. Wir nahmen die Karte heraus. Achtzig Kilometer, eigentlich zwei Tagestouren, waren es noch bis nach Hause. Ob Winnetou das an einem Tag schaffen konnte? Er schaffte es! Heimzu laufen alle Ponys schneller, und Winnetou merkte genau, daß es nach Hause zu seiner lieben kleinen Frau Appelschnut ging. Er lief wie ein aufgezogenes Spielzeugpferd.

Fast die ganze Fahrt haben wir gesungen. Da merkte man den Hunger nicht so. Dann und wann fuhren wir auch unter Apfelbäumen durch. Das half uns natürlich auch, den Magen zu füllen. Trotzdem malten wir uns die heimatlichen Genüsse, die, noch dazu bei einer Hochzeit, zweifellos auf uns warteten, in den schönsten Farben aus.

Allmählich wurden die Wege bekannter. Jetzt kam schon unser Reitverein in Sicht. Doch diesmal hielten wir nicht an, sondern winkten nur hinüber und fuhren weiter. Und dann endlich unser Heimatstädtchen Lorch. Wir hielten einen Einzug wie die Königin von England. Nicht, weil wir uns so fühlten, sondern weil die Heimatzeitung uns auf dem Hinweg heimlich geknipst und einen Artikel über uns geschrieben hatte.

„Wart ihr wirklich am Bodensee?“ hörten wir immer wieder fragen. Es hätte nicht viel gefehlt, und das ganze Städtchen hätte geflaggt.

Und dann die Ankunft auf dem Ponyhof! Winnetou raste die letzten fünfhundert Meter im Galopp, obwohl es bergauf geht. Er trompetete, und Appelschnut machte in ihrer Koppel einen fast meterhohen Luftsprung und sauste zum Tor. Dort gab es eine aufgeregte, glückselige Begrüßung – kaum daß wir Winnetou Geschirr und Zügel abnehmen konnten. Aufatmend schütteten wir den letzten Hafer in den Trog. Ja, und was rollte da aus dem Reisesack heraus? Unser Portemonnaie! Steffi hatte es in der letzten Nacht aus Angst vor den Zigeunern dort versteckt und dann total vergessen. So brachten wir sogar noch Geld wieder mit nach Hause. Wir kauften davon einen hölzernen Brotteller für unsere Schwester zur Hochzeit, damit ihr in ihrer Ehe nie das Brot ausgehen sollte.

So endete unsere erste große Reise mit Winnetou, unserem geliebten kleinen Schimmelhengst.

Das große Lise-Gast-Buch

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