Читать книгу Das große Lise-Gast-Buch - Lise Gast - Страница 8

Der Herr mit dem roten Wagen

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„Danke. Nein wirklich, ich sitze wunderbar. Und ich fahre furchtbar gerne Lastwagen“, sagte Regine. Sie mußte es sehr laut sagen, denn der zweite Gang, den der Fahrer gerade eingeschaltet hatte, machte einen fürchterlichen Krach, so einen Krach, daß man eigentlich regelrecht schreien mußte, um sich verständlich machen zu können.

„Ja? Man sieht ja auch mehr von der Landschaft als von einem so lächerlichen niedrigen Personenwagen aus“, sagte der Fahrer stolz und bescheiden. Er war ein älterer Mann, braungebrannt und ein wenig bartstoppelig, aber mit so guten braunen Augen, daß man ihn gleich gern haben mußte. „Sieh mal, da unten! Wir sitzen hier wie der Kapitän auf einem Ozeandampfer, hoch oben, und das da sind die kleinen Motorboote.“ Er wies auf einen kleinen Personenwagen, der sie eben überholte und an ihnen vorbeiwitschte. Regine nickte.

„Wirklich!“ Ja, wie auf einem Dampfer kam sie sich vor, der ins weite Meer hinaussteuert. Beinahe meinte sie, ihre Reise sei eigentlich viel schöner und großartiger als die Axels. Natürlich, der freute sich schrecklich, aber er wußte doch wenigstens, wohin er kam. Nach Rom, von dem er schon so viele Bilder gesehen und ihr gezeigt hatte. Sie aber fuhr in ein ganz unbekanntes Land, an einen Ort, den weder sie noch Axel gesehen hatte. Vielleicht gab es Grüningen am Ende gar nicht? Vielleicht war es nur ein Druckfehler auf der Karte?

„Waren Sie schon einmal dort? Ich meine, in Grüningen“, sagte sie aus diesem Gedankengang heraus. Man konnte sich jetzt in normaler Lautstärke unterhalten.

„Freilich, ich bin oft daran vorbeigefahren. Freust du dich denn darauf, dorthin zu kommen?“ Wilm schien ihm einiges erzählt zu haben.

„Ja, sicher. Nur – ob die Leute dort sich freuen, wenn ich komme?“

„Sie werden schon. Es sind doch Verwandte von dir?“

„Ja, die Frau ist Mutters Schwester. Aber sie hat schon selbst vier Kinder.“

„Ha no, ich hab’ auch fünf“, sagte der Fahrer tröstend. Regine lachte ihn dankbar an.

„Buben oder Mädel?“

„Vier Buben und ein Mädel.“

„Was? Wirklich?“

„Ja. Wir haben uns immer ein Mädel gewünscht, und schließlich kam es auch noch. Wenn man so etwas überhaupt sagen darf – das Mädel ist mir fast das liebste von allen“, sagte er. Etwas Schöneres hätte Regine nicht hören können.

Ach nein, Regines Herz war nicht schwer. Der Abschied von Axel hatte natürlich weh getan, aber man konnte ja gar nicht trüb und traurig sein, wenn man bei solchem Wetter, in einer so bezaubernden Gegend und noch dazu in dieser Jahreszeit fuhr! Es war wohl der schönste Frühlingsmorgen, den der liebe Gott sich in seiner besten Laune ausgedacht hatte. In der Ferne lag ein zarter Dunst über den Wäldern; hier an der Landstraße rechts und links blühten die Bäume weiß und rosa, und die Wiesen lagen in schimmerndem Grün in der Sonne. Der Schatten des Lasters, der eilig neben ihnen herlief, war auf dem betauten Gras umstrahlt von einem hellgoldenen Kranz. Regine beobachtete dies schon die ganze Zeit und wies jetzt hinaus, zeigte es ihrem Begleiter.

„Sehen Sie mal, Herr Burger, wir sind golden eingerahmt.“

Er lachte.

„Glaubst du, daß ich das noch nie gesehen hätte? Freilich, wir müssen nach vorn sehen, wir Fahrer. Oder höchstens in den Rückspiegel, wenn uns jemand überholen will. Aber neulich hatte ich mein kleines Mädel mitgenommen. Es ist noch etwas jünger als du. Die hat mir das auch gezeigt. Ihr habt eben doch offnere Augen als unsereiner.“

„Vielleicht für so etwas. Aber sonst nicht. Sehen Sie, daß der an uns vorbei wollte, hatte ich noch nicht gemerkt.“

„Der darf auch nicht“, sagte Burger und schmunzelte schadenfroh. Ein sehr eleganter Wagen, niedrig, dunkelrot, besetzt mit einem einzelnen Herrn, wollte sie schon seit einem Weilchen überholen. Er kam aber nicht dazu. Immer wieder kam ihnen ein anderes Fahrzeug entgegen, das er erst vorbeilassen mußte.

Regine, in ihrer hellen Frühlingsstimmung, beugte sich aus dem Fenster, dessen Scheibe sie heruntergekurbelt hatte, schaute rückwärts und winkte ihm lachend zu. Gerade mußte er wieder seine vorwitzige Kühlernase, als er eben im Begriff gewesen war, an ihnen vorbeizuflitzen, zurückziehen und brav hinter ihnen bleiben, bis der Lastzug, der ihnen entgegenkam, vorbeigebrummt war. Regine hatte sich mit ihrer Kleinmädel-Schmalheit auf die linke Seite des Fahrers gesetzt, weil man da mehr sehen konnte. Rechts von ihnen lagen auf dem breiten Ledersitz ihr Rucksack und ihr neuer kleiner Koffer, den Axel ihr noch gekauft hatte.

„Gelt, der ist bös! Na, wenn er erst auf der Autobahn fährt, kann er überholen, soviel er will“, brummte Burger und sah dem Wagen nach, der jetzt endlich vorbeigeschossen war. Ein bitterböser Blick war zu ihnen heraufgefunkelt in der Sekunde, in der sie auf gleicher Höhe fuhren. Der Herr schien gemeint zu haben, Regine lache ihn aus.

„Laß ihn sausen!“

„Kommen wir wirklich auf die Autobahn, und fahren wir lange drauf?“ fragte Regine.

„Bis Kassel. Weil ich heute leer fahre. Ich lade erst in Paderborn. Sonst benutze ich hier die Autobahn nicht. Sie ist mir zu bergig. Wenn man geladen hat, fährt man lieber um die Berge herum, wo es möglich ist. Aber ohne Ladung tu ich es schon.“

„Oh!“ Regine setzte sich erwartungsvoll aufrecht. „Und jetzt sind wir gleich da?“ Sie hatte das blaue Schild gesehen.

„Ja, und sie ist schön. Gerade diese Strecke. Ich habe dir extra gesagt, du sollst dich auf diese Seite hier setzen, da siehst du bei Hersfeld die schöne alte Burg. Ich glaube, sie ist jetzt als Jugendherberge eingerichtet.“

„Sie sind lieb“, sagte Regine aufatmend. „Überhaupt, daß ich mit Ihnen fahren darf!“

„Na, na!“ brummte er. „Ich dachte an mein Mädel. Das hat noch vier Brüder und Vater und Mutter. Und wen hast du noch?“

„Einen Bruder hab’ ich auch noch“, sagte Regine schnell. „Und der ist wirklich gut. Bloß eben – jetzt ist er nicht da!“

„So. Aber nun gib acht!“ sagte Herr Burger.

Wie schön rollte der Wagen jetzt auf der ebenen Glätte nach der holprigen Zubringerstraße! Es war ein Genuß zu fahren. „Weißt du was? Jetzt trinken wir erst einmal richtig Kaffee“, schlug er vor. „Hier gibt es schöne Rasthäuser.“

„Kommt jetzt eins?“ fragte Regine.

„Ja, dort halte ich meistens. Die Leute haben ein zahmes Reh. Willst du es einmal ansehen?“

„Ist deshalb hier das Bild von dem Rehbock?“ fragte Regine interessiert. Sie waren an einem Schild vorbeigefahren, auf dem ein lebensgroßer Rehbock zu sehen war.

„Nein“, sagte Herr Burger und lachte, „das nicht. Aber hier ist ein Wildwechsel. Weißt du, was das ist? Ein Weg, den die Rehe benützen, wenn sie über die Autobahn wechseln. Da müssen die Fahrer besonders achtsam sein, damit sie kein Tier verletzen, sowohl bei Tag als auch in der Nacht.“

„Fahren Sie denn auch in der Nacht?“ staunte Regine.

„Natürlich, oft. So, jetzt sind wir da.“

Herr Burger fuhr den Wagen rechts heran und bremste. Hier war auch eine Tankstelle, und Wagen aller Art standen dort. Regine sprang hinaus, ihr Fahrer folgte. Sie gingen zum Rasthaus hinüber.

Das war ein schöner, neuer Bau, hell, mit schmiedeeisernen Gittern vor den Fenstern, und darin war es besonders gemütlich. Die Wände waren mit hellem Holz getäfelt, die Tische weiß gescheuert, und alles war freundlich und sauber. Herr Burger bestellte für Regine und sich selbst je ein tüchtiges Fernfahrerfrühstück.

„Ich lade dich selbstverständlich ein, du brauchst nichts zu bezahlen“, sagte er beruhigend. Regine sprang hinaus in die Küche, sie wollte so gern das zahme Reh sehen.

Als sie durch die Gaststube ging, stieß sie um ein Haar mit einem Herrn zusammen, der eben durch die hintere Tür hereintrat. Sie wich ihm gerade noch aus und war selbst sehr erschrocken, weil es beinah einen Zusammenstoß gegeben hätte. Aber ihr „Oh, Entschuldigung!“ bekam nur ein undeutliches Brummen zur Antwort. Sie war froh, gleich darauf draußen zu sein. In dem Augenblick, in dem sie den Herrn angesehen hatte, hatte sie ihn erkannt. Es war der Fahrer des dunkelroten Wagens, der sie während der Fahrt einigemal zu überholen versucht hatte.

In der Küche stand eine freundliche, runde Frau am Herd und brühte eben Kaffee auf. Ihr ganzes Gesicht glänzte vor Behagen und Gutmütigkeit. Regine fragte sie zutraulich nach dem Reh.

„Natürlich kannst du es sehen. Es ist draußen im Garten hinter dem Haus. Nein, es tut nichts, du kannst es gern streicheln. Warte, ich gehe mit dir, ich muß sowieso draußen nach dem Rechten sehen.“

Die Frau wollte einen Eimer mit Hühnerfutter aufnehmen, der neben dem Herd stand. Regine bückte sich rasch und kam ihr zuvor.

„Ich kann ihn auch tragen!“

Sie gingen zusammen hinaus in den Garten. Der war mit einem Drahtzaun umgeben. Gleich dahinter begann der Wald.

„Den Zaun haben wir nur der Hühner wegen gesetzt. Unser Rickele reißt nicht aus“, sagte die Frau und lockte das Reh. Es äugte aus seinen sanften braunen Lichtern zu ihnen herüber, hob das lackschwarze Geäse und kam ganz vertraut zu ihnen heran. Regine streichelte es vorsichtig, damit es nicht erschrecke, und sprach zärtlich mit ihm. Nein, was für ein unwahrscheinlich zartes Tier solch ein Reh war. Sie hatte noch nie eins so nahe gesehen.

Sie fütterten dann zusammen die Hühner und freuten sich an dem eifrigen Gepicke der bunten Schar. Schließlich aber meinte die Frau, sie müsse jetzt schnell wieder in die Küche, die Herren warteten ja auf den Kaffee.

„Ich komme mit“, sagte Regine und lief voran, den Eimer in der Hand. Vor der Hintertür des Hauses lagen ein paar Kartoffelschalen verstreut. Regine sprang darüber hinweg, die Frau aber hatte wohl nicht hingesehen. Sie trat darauf und rutschte aus. Bums! Regine drehte sich erschrocken um. Da lag die dicke, freundliche Frau am Boden und stöhnte.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen auf!“ Regine war sehr hilfsbereit und stützte die Verunglückte. Diese ächzte und humpelte mühsam in die Küche hinein.

„Mein Fuß! Ich muß ihn mir vertreten haben!“

Ja, nun war guter Rat teuer. Die Wirtsfrau hockte auf einem Küchenstuhl und rieb stöhnend an ihrem Knöchel herum, und drinnen mußte bedient werden.

„Gebrochen ist er nicht“, murmelte sie auf Regines mitfühlende Frage hin. „Aber er tut so weh. Ruf die Maria, sie muß oben sein. Sie soll schnell herunterkommen!“

Regine lief die Treppe hinauf und meldete das Unglück oben. Bevor aber Maria herunterkam, war Regine schon wieder bei der Wirtsfrau.

„Warten Sie, bleiben Sie sitzen! Ich bring’ erst einmal den Kaffee hinein zu den Herren“, sagte sie geschäftig. „Wie viele Tassen? Drei?“

„Ja, für dich und deinen Fahrer. Aber zuerst bekommt der Herr an dem Tisch am Fenster“, sagte die Frau.

„Ach, der Brummbär? Ja, der muß zuerst bekommen, er war ja auch früher hier als wir“, sagte Regine und stellte Tasse und Zuckerschälchen auf einem kleinen, blanken Tablett zurecht. „So, und noch Milch? Ja, danke. Wollte er auch etwas zu essen?“

„Frag ihn, erst hat er nur einen Kaffee bestellt. Wir haben Kuchen da und auch Brötchen.“

Regine ordnete das Geschirr auf dem Tablett und nahm es dann vorsichtig auf. Ihr machte so etwas Spaß. Sie hatte sich immer gewünscht, einmal Bedienung zu spielen und den Leuten Essen und Trinken bringen zu dürfen.

„Bitte schön, der Herr!“ sagte sie mit einem kleinen Knicks und wartete, bis der Brummbär seine Zeitung weggelegt hatte. Dann stellte sie zierlich und nett das Tablett vor ihn hin.

„Wünschen der Herr auch etwas zu essen? Kuchen hätten wir da, aber auch frische Brötchen und Butter.“

„Ja, gehörst du denn hierher?“ fragte der Gast und sah sie an.

„Im Augenblick ja“, sagte Regine keck, „im Augenblick ist die Frau Wirtin verhindert. Also, was darf ich bringen?“

„Bring einen Kuchen. – Warst du nicht vorhin in dem Laster, der mich durchaus nicht überholen lassen wollte?“

„Doch. Aber man darf doch nur überholen, wenn kein Fahrzeug entgegenkommt“, antwortete Regine ein wenig fragend, „oder...“

„Doch, doch. Sag mal – na, erst bringst du mir einmal den Kuchen, ja?“

Regine lief. Jetzt sollte aber erst Herr Burger sein Frühstück haben, fand sie. Sie brachte es ihm und erzählte ganz schnell, was geschehen war.

„Wir haben doch einen Augenblick Zeit. Ich meine nur, bis Maria wieder in der Küche ist. Sie richtet oben die Zimmer“, berichtete sie atemlos. Herr Burger lachte.

„Auf eine halbe Stunde kommt es mir nicht an.“

Nichts war Regine lieber als das. Sie fühlte sich nach dem Stillsitzen im Wagen so munter und rührte sich so gern ein bißchen. Wenn sie dieser freundlichen Frau ein wenig helfen konnte, war ihr das nur recht. So lief sie also wieder hinaus, fragte, wo der Kuchen stehe, und verhieß, sie werde nachher dafür sorgen, daß der verletzte Knöchel einen kalten Umschlag bekäme.

„Am besten vielleicht mit essigsaurer Tonerde. Haben Sie welche hier?“

„Wir haben immer allerlei im Haus. Die Maria wird sie dir geben. Ja, von dem Kuchen dort! Schneide aber das Stück nicht zu dünn.“

„Ach, für den alten Querkopf! Er guckte einen an, als ob er einen fressen wollte. Er hat sicher schlechte Laune.“

„Trotzdem muß man höflich sein!“

„Das werde ich schon“, versicherte Regine eifrig. „So – ist es so recht? Warten Sie nur, wenn wir den Umschlag gemacht haben, tut der Fuß nicht mehr so weh. Mir tut es halt so arg leid!“

Sie lief wieder in die Gaststube. Der Herr Querkopf hatte die Zeitung ganz weggelegt. Als sie ihm den Kuchen hinstellte, sah er sie aufmerksam an.

„Setz dich doch ein wenig zu mir!“ sagte er dann, wesentlich freundlicher als vorhin. „Magst du nicht? Wo kommst du denn her?“

Regine nannte die Stadt, in der sie mit Axel gewohnt hatte.

„Aber jetzt gehöre ich nach Grüningen, jedenfalls für ein Jahr“, setzte sie hinzu. „Grüningen in Westfalen. Ich kenne es selbst noch nicht. Es liegt hinter Kassel.“

„Grüningen? So. Wie heißt du denn?“ fragte der Herr und rührte in seinem Kaffee. Regine hatte sich auf seine Aufforderung hin an seinen Tisch gesetzt, obwohl es sie drängte, hinauszulaufen.

„Regine Habernoll“, sagte sie artig und fuhr zusammen, als er mit einem Ruck den Kopf hob.

„Habernoll? Habernoll heißt du?“

Regine nickte.

„So heiße ich nämlich auch. Und wie heißen die Leute, zu denen du fährst?“

„Westphal. Lehrer Westphal in Grüningen“, antwortete Regine ein wenig verwirrt. „Ich kenne sie noch nicht, aber die Frau ist eine Schwester meiner Mutter. Sie haben vier Jungen.“

„Westphal – so? Wie hieß denn deine Tante vor der Hochzeit – aber du wirst ihren Mädchennamen wohl nicht wissen? Doch wie deine Mutter hieß, ehe sie heiratete, das weißt du sicher! Willst du mir das sagen?“ fragte jetzt der Herr, nachdem er eine kleine Weile nachgedacht hatte.

„Meine Mutter hieß Hertha, und ehe sie Vater heiratete hieß sie Wiesner mit dem Familiennamen“, antwortete Regine. Im gleichen Augenblick, als sie das sagte, ging ihr ein Licht auf. Sie sah den Herrn aufmerksam an.

„Sind Sie vielleicht – ich glaube, ich weiß, wer Sie sind“, sagte sie. „Mein Onkel Henry, ja? Wir sprachen nämlich von Ihnen.“ Gleich darauf wurde sie rot, sie merkte es selbst, aber sie konnte es nicht verhindern.

„Ihr habt von mir gesprochen? Was denn?“ fragte der Herr. Sie blickte einen Augenblick in sein Gesicht. Es war, als funkelte es in seinen Augen, und die Brauen darüber zuckten ein wenig. War es ein Donnerwetter, das sich da ankündigte, oder war es ein Lachen, das noch nicht ganz herauskam? Regine war sich nicht klar darüber, eins aber zuckte gedankenschnell durch sie hin: So schlimm wie vorhin sah der Herr gar nicht mehr aus. Überhaupt nicht schlimm, man konnte sich sogar vorstellen, daß er nett aussehen konnte, so zum Beispiel, wenn er lachte, wie jetzt gerade.

„Wir haben halt von unsern Verwandten gesprochen, Axel und ich“, sagte sie rasch. „Aber ich muß jetzt weiter, entschuldigen Sie bitte. Die Wirtin...“

„Ausgerissen wird trotzdem nicht! Der Laden hier wird wohl auch ein Weilchen ohne dich weiterbestehen“, sagte er, und er sagte es so, daß Regine wirklich zögerte, fortzugehen. Man merkte, daß er ein Herr war, gewohnt zu befehlen. Es kam ihm wohl überhaupt nicht in den Sinn, daß jemand nicht sofort gehorchen könnte.

„Darf ich nicht – wenigstens, bis die Maria wieder da ist?“

„Gut, dann lauf! Aber komm gleich wieder!“ erwiderte Herr Habernoll und steckte sich eine Zigarre an. Regine rannte. In der Küche traf sie auf die Tochter der Wirtin, die soeben dabei war, der Mutter einen Umschlag um das verletzte Bein zu machen. Maria war also da. Aber es gab doch noch viel zu tun.

„Gelt, Sie brauchen mich noch?“ fragte sie die Frau. „Bitte, ich möchte Ihnen gern noch ein Wenig helfen.“

„Du bist ein guter Kerl“, sagte die Wirtin freundlich. „Aber du mußt erst einmal selbst frühstücken, dein Fahrer will sicher bald weiter?“

„Aber nein, dem eilt es nicht. Nur der andere, der Herr mit dem roten Wagen...“

Regine zögerte.

„Will er noch was.?“

„Ich habe nicht gefragt.“

„So, aber?“

„Er ist, glaube ich, mein Onkel“, sagte Regine langsam. „Er sagte jedenfalls zu mir...“

„Kennst du ihn denn?“ fragte die Wirtin und sah Regine an. „Nein. Ich habe ihn noch nie gesehen. Aber er fragte mich, wie ich heiße, und als ich es sagte, meinte er, er hieße auch so. Und dann hat er mich ausgefragt.“

„Na aber!“ sagte die Wirtin und schüttelte den Kopf. „So etwas! Nimm dich nur in acht, Kind! So unterwegs, da kann einem allerlei passieren. Was würde deine Mutter denn dazu sagen?“

„Ich habe keine Mutter mehr“, sagte Regine langsam, „auch keinen Vater. Meine Eltern sind auf einer Auslandsreise umgekommen, am selben Tag, bei einem Eisenbahnunglück. Aber ich habe noch einen Bruder“, fügte sie hastig hinzu, als sie die mitleidigen Gesichter der beiden Frauen sah. „Einen Bruder, dem hab’ ich bisher den Haushalt geführt. Er ist wirklich lieb und gut zu mir. Ja, und der hat gesagt...“, sie stockte.

„Was denn?“ fragte Maria, von der Wickelei an dem wehen Bein aufsehend.

„Ich darf mit niemandem Fremden reden“, gestand Regine kleinlaut. Und sie hatte doch geredet, gleich am ersten Morgen, an dem sie allein unterwegs war.

„Ich muß jetzt gehen“, sagte sie und wandte sich der Gaststube zu. Ihr Schritt war zögernd.

„Na?“ fragte Herr Burger, als sie an seinen Tisch trat.

„Müssen wir fort?“

„So allmählich wohl.“

In diesem Augenblick stand der Herr drüben am Fenster auf. Er knöpfte sich den mittleren Knopf seines Rockes zu, reckte sich ein wenig in den Schultern und kam dann herüber, quer durch die Gaststube. Regine sah ihm entgegen. Er machte dem Fahrer gegenüber eine kleine, mehr angedeutete Verbeugung.

„Habernoll. Ich habe gehört, daß meine Nichte Regine mit Ihnen unterwegs ist. Ich kann meine Reise ein wenig ändern und sie mitnehmen, dorthin bringen, wohin sie fahren muß. Nach Grüningen. Bitte geben Sie mir das Gepäck des Kindes! Sie brechen ja wohl auch jetzt auf.“

„Sicher“, sagte Burger und sah auf. „Aber mit dem Kind. Das Kind ist mir anvertraut und fährt mit mir.“

„Aber Mann, ich sage Ihnen ja, daß ich der Onkel bin, der Vetter ihres Vaters. Übrigens können Sie meine Papiere ansehen. Mein Name ist Habernoll, wie der dieses Kindes.“

„Von mir aus können Sie Schuster oder Schneider heißen oder auch Posemuckel. Das ist mir ganz Gottlieb Schulze. Und an Papieren können Sie haben und mir vorzeigen, was Ihnen Spaß macht“, sagte Burger mit Ruhe, „das Kind bringe ich nach Grüningen.“

„Aber Sie hören doch...“

„Fräulein, ich möchte zahlen“, sagte Burger seelenruhig. Gerade war die junge Maria ins Lokal getreten. „Bitte, hier, das Frühstück für das Kind und für mich. So, danke, das ist für Sie. Komm, Regele!“

„Halt! Regine, du bist doch schon ein Mensch mit Kopf und Verstand. Glaubst du wirklich, daß ich ein Schwindler bin? Ich heiße Habernoll, du kannst meinen Ausweis sehen.“

Regine war stehengeblieben, Burger auch. Er stand jetzt halb hinter ihr, wie ein getreuer Wächter. Regine fühlte es, und das gab ihr Mut.

„Vielleicht sind Sie mein Onkel Henry, das kann schon sein“, sagte sie und sah zu dem Herrn auf, mitten hinein in seine Augen, die von einem starken, stählernen Blau waren. Sie erkannte es mehr im Unterbewußtsein, erinnerte sich später aber sehr deutlich daran. Schade, daß diese Augen so finster blickten! Vorhin schon hatte Regine gedacht, er könnte ganz nett aussehen, wenn...

Verschüchtert fuhr sie fort: „Aber Axel, mein Bruder Axel, hat mir verboten, mit jemandem zu sprechen, den ich nicht kenne. Herr Burger soll mich hinfahren, hat Axel gesagt, und da bleibe ich bei Herrn Burger. Und er war so nett zu mir und hat mich behandelt, als wäre ich sein eigenes Kind. Was sollte Herr Burger denn meinem Bruder sagen, wenn er mich nicht selbst ablieferte? Gelt, Sie sind nicht böse.“ Sie trat einen Schritt zurück und stellte sich neben den Fernfahrer.

„Ich glaube, das Kind hat recht“, sagte jetzt die junge Maria sanft, die auch herzugetreten war. „Ich würde es auch so machen. Und vergiß uns nicht ganz, Regele, du, nein? Wirst du mal wieder hier hereinschauen, wenn du vorbeikommst?“–

„So, da hätte ich dich also behalten“, sagte Herr Burger vergnügt, als sie schon wieder eine Weile fuhren. „Der war ja ganz still am Schluß. Wärst du nicht doch ganz gern mit ihm gefahren? Er hatte doch einen so schönen Wagen“, fragte er nach einer Weile. Regine schnaufte verächtlich durch die Nase.

„Wagen? Als ob es danach ginge! Sicher war der Wagen schön. Und vielleicht war der Herr auch wirklich mein Onkel. Aber ich muß doch das tun, was Axel gesagt hat. Er müßte sich ja sonst totängstigen um mich. An sich ist Axel gar nicht ängstlich, wissen Sie, aber wenn er Sie nicht kennengelernt hätte, würde er mich bestimmt nicht so in die Welt hinausgeschickt haben. ,Bei Herrn Burger bist du in guter Hut‘, hat er gesagt, und das glaube ich auch. Und Wilm kennt Sie doch auch. – Aber gewußt, ob er es wirklich ist – ich meine, ob der Herr mein Onkel ist –, das hätte ich doch gern. Er fuchtelte mit seinen Papieren so herum, lesen konnte ich nichts. Vielleicht war das seine Absicht und ein Trick?“

Herr Burger lachte. Und dann fuhren sie weiter durch das frühlingsgrüne Land, und es war so schön, daß man alles andere vergessen mußte, was einem das Herz hätte beschweren können. Den Schmerz um Axel, die kleine Angst, wie man in Grüningen empfangen werden würde, und alle vornehmen Autofahrer der Welt, ob sie nun Onkels waren oder nicht.

Das große Lise-Gast-Buch

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