Читать книгу Zwei Freunde - Liselotte Welskopf-Henrich - Страница 10

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Die Tage eilten Weihnachten zu. Sie liefen wie die Stafettenläufer, die im Nu den Stab wechseln und schon weitereilen. Kaum daß man sich nach ihnen umsah, waren sie um eine Etappe vorangekommen.

Die Schaufenster gleißten und boten Trödel und Kostbarkeiten feil; Menschenmengen stauten sich davor. Große Fichten mit elektrischen Kerzen standen in den winterkalten Straßen. Die Stadt vertausendfachte, was Dorf und Familie zum Feste tun konnten. Ihre Kerzenbäume waren größer und brannten länger, die Krippen und Weihnachtsmänner erschienen riesig und zahlreich, die Spielzeugeisenbahnen funktionierten mit kompliziertem Raffinement und wirkten magnetisch auf jung und alt. Die Stadt tat, was sie auf allen Gebieten des Lebens zu tun vermochte, sie steigerte, vervielfältigte und brachte Bewegung; in den Händen ihrer Geschäftsleute wurden alle Herrlichkeiten zu Waren, und sie maß alle Wünsche in Kaufkraft. Aber die Sterne standen fremd und vergessen über ihrem Treiben, und der himmelweiße Schnee wurde in ihren Straßen schmutzig.

Wichmann verlebte die Tage in einem Zustand, den er selbst nicht ganz durchschaute. Die Tätigkeit im Ministerium war noch lebhaft. Die Erweiterung des Grevenhagenschen Referats machte sich auch für Wichmann spürbar. Er bekam Arbeiten, vornehmlich des Herrn Borowski, in die Hand, die nicht vollständig durchdacht, in ihrer Begründungflüchtig waren, und er feilte daran, teilte neu ein, stellte die Gedanken schlagkräftiger zusammen und vertilgte das Wort »hinsichtlich«, das sein Chef nicht liebte. Wichmann empfand diese Aufgabe als unangenehm. Er war keine Lehrernatur. Aber es ging alles glatt; von den Schwierigkeiten, die Borowski angedroht hatte, ließ sich vorläufig nichts merken. Der Großsprecher schwieg nur mit rotem Kopf, wenn Grevenhagen seine Kritik in sehr höflicher Form, inhaltlich aber mit schonungsloser Schärfe vorbrachte. Auch Pöschko, der Amtmann mit der Gardegrenadiershaltung, trat jetzt leibhaftig in Wichmanns Gesichtskreis, und der Assessor spürte, daß er noch zu weich war, um die Achtung dieses selbstbewußten Mannes zu erzwingen.

Im Grunde war ihm das alles auch gleichgültig. Sein sonderbarer Zustand, in dem er das Leben seiner Mitmenschen wie ein Marionettentheater an sich vorüberziehen ließ, blieb. Sein eigenes Leben lag fern davon, weltenfern. Nur wenn er den Geruch der Pferde spürte, auf denen er jetzt schon halbwegs sicher zu sitzen vermochte, wenn ihn die Wipfel des Parks grüßten, wenn er an dem Zimmer Nr. 412 vorbeiging und den Namen »Grevenhagen, Ministerialrat«, las, dann tat sich in ihm etwas auf, eine zweite Bühne seiner Seele, die von einem dunklen Vorhang verdeckt war, während auf den Brettern davor für das Publikum gespielt wurde. Was sich hinter jenem Vorhang in ihm selbst verbarg, ahnte auch Wichmann nur in Nebeln und Träumen. Himmel und Hölle oder nur Kulissengerümpel, wer wußte es, aber er fühlte sich voll verführerischer unbestimmter Hoffnung, und seine Handlungen wurden von Kräften und Wünschen geleitet, über die er sich selbst keine Rechenschaft mehr gab. Noch immer hatte er der dringenden Einladung der älteren Schwester zum Weihnachtsfest nicht zugesagt, noch immer lagen die Briefe des Tanzstundenfräuleins im blauen Umschlag mit der klobig gemalten Adresse unbeantwortet in der Schublade, und er konnte eine Gereiztheit und Befangenheit gegenüber seiner unentwegt aufmerksamen und vielleicht etwas neugierigen geheimrätlichen Quartierswirtin nicht mehr überwinden. Die eingegangene Post wurde von seinen Händen durchwühlt und die Meinung, daß sich eine Einladung darunter befinden könne, auf den nächsten Tag vertröstet. Um den Amtsball kreisten seine bewußten Gedanken nur sehr selten, aber als das Gerücht ging, daß er abgesagt werden sollte, glaubte er in einen Abgrund zu stürzen.

So war der 20. Dezember 1928 gekommen. Zum erstenmal nach einer Zeit, die Ewigkeit schien, erlaubte sich Wichmann wieder einen langen und vertrauten Blick nach den kahl gewordenen Zweigen des Ahorns, nach dem Rosentor und jenem halb verborgenen Fenster, das hinten im Garten mit Perlmuttglanz schillerte. Heute endlich wollte er seine rasenden Hoffnungen, sie wiederzusehen, freigeben. Sie …

Er hatte am Morgen noch dienstlich mit Grevenhagen zu tun. Nie waren die Gedanken des Assessors so scharf gewesen, nie seine Worte so gut formuliert. Den Auftrag, verschiedene Vorarbeiten der Denkschrift zu den Etatsverhandlungen, die ihn am ersten Tage seines Dienstes beschäftigt hatten, zu etwas Einheitlichem zusammenzufassen, erledigte er in einer so überraschend knappen Frist, daß Grevenhagens stumme Miene die Brauchbarkeit der Arbeit zunächst anzweifeln wollte. Es stellte sich heraus, daß sie vorzüglich war.

»Ministerialdirektor Boschhofer wird darüber wohl noch persönlich mit Ihnen sprechen. Alles, was die Etatsverhandlungen anbetrifft, geht speziell durch seine Hand.«

Verbeugung.

Warum nicht? Das Gehörn des Mastochsen hatte seine Schrecken verloren für den, der mit dem Besten seines Lebens in ganz anderen Regionen weilte.

Der Dienst schloß etwas früher. Korts und Casparius bemühten sich, mit Wichmann Schritt zu halten.

»Sie haben jetzt einen Zustand an sich … Wichmann, Menschenskind … Sie werden doch net verliebt sein?«

Wichmann lachte ausgelassen, wie ein Bub, dem es gelingt, den heißbegehrten Roman vor dem Vater zu verstecken. »Warum denn nicht ein bißchen verliebt, Kasperl? Meine Kleine aus der Tanzstunde hat mir einen sehr niedlichen Brief geschrieben …«

»Ha … so. Dann ischt’s ja harmlos. – Holen wir unser Prachtstück, die Hüsch, heut alle miteinander ab?«

»Wenn wir alle miteinander zwei Stunden zu spät kommen wollen«, knurrte Korts.

»Werden Sie uns überhaupt durch Ihr Erscheinen beehren, Robert Herr Teufel? Das weiß bis jetzt keiner so recht.«

»Ich selber auch nicht.«

»Wir müssen aber ausmachen, wer sie abholt, des g’hört sich. Wichmann, Sie habe so was für Damen … gehen Sie!«

»Meinetwegen. Wenn’s mir zu lange dauert, überlass’ ich sie dem Schildhauf.«

»Wieso?« Korts ging in Angriffsstellung.

»Ha, der hat seine Freundin fortgeschickt, ischt zur Zeit arbeitslos in bezug auf Frauen. Beschäftigen Sie den nur ein bißle.«

»Servus … also heut abend …«

»Das wird ein Affentheater!«

»Tun Sie nur Geld in Ihren Beutel!«

Man trennte sich.

Wichmann ging durch den Park nach Hause. Die fünfte Nachmittagsstunde hielt die Masse der an den Frondienst Gefesselten noch an den Schreibtischen fest. Die Kälte hatte Kinder und Kinderfrauen längst vertrieben, und so gehörten die Wege, die Bäume und die Teiche Oskar Wichmann und den wenigen, die der Zufall fremd an ihm vorbeiführte. Es war ein schöner Tag. Die abgestorbene, noch schneefreie Landschaft lag im zarten Winterschein der Sonne. Der Reif hatte sich mit seinen Brillanten an den Gräsern festgesetzt, ohne zu tauen; über den Moorwassern lag ein Hauch des Gefrierens. Alles wartete in Stille, bis das dicke Eis und der mollige Schnee mit seiner alles blendenden Helle kommen würden und die Stimmen der Kinder wieder laut und jauchzend schallen konnten. Noch war es nicht an dem, noch waren die kahlen erstorbenen Äste, die matten Farben, ein Dunst über der Sonne wie unklare Sehnsucht und der milde Frost nur eine Ahnung der Fülle … Fülle auch der Freuden des Winters, wenn er mit allen seinen Gütern kam.

Was wahr war? Sehnsucht? Vollkommenheit?

Im Himmel der Phantasie, mit leise klopfendem Herzen ging Wichmann über die angefrorene Erde des Reitwegs. Er war noch sehr jung. Ja. Warum es leugnen?

Als der Abend hereinbrach und Lichter aufleuchteten, tat Oskar Wichmann die gleichgültigen Dinge, die dennoch alle den Reiz des Sektes hatten und im Gaukelspiel der Erwartung leise prickelten. Der herbsüße Duft, den Fräulein Hüsch heute stärker als sonst ausstrahlte, ihre hauchdünnen Strümpfe, die Pumps mit unwahrscheinlich hohen Hacken, der Maulwurfsmantel, die kunstvoll-schlicht gelegten Locken … Schildhaufs steifer Hut, das weißseidene Halstuch und die Lackschuhe, das Auto, das man gemeinsam nahm, das alles zusammen war der Auftakt zu einer Melodie, die beginnen wollte.

Die Wagen fuhren vor. In der Halle leuchtete es von Glaslüstern und elektrischen Kerzen an Spiegelwänden. Schwere Teppiche deckten den Boden der Hotelhalle und die breiten Treppen. Die Stimmen blieben gedämpft. Garderobennummern wurden ausgegeben. Mäntel glitten herab und die Toiletten der Damen, die nackten, zart gepuderten Schultern enthüllten sich. Spitze und Seide, hell und schwarz, rauschten aneinander vorbei. Leicht gefärbte Wangen röteten sich mehr. Hände suchten in kleinen glitzernden Taschen. Kavaliere plauderten schon. Die ersten Begrüßungen fanden statt. Schildhauf entdeckte Bekannte und machte den verträumten Wichmann darauf aufmerksam, daß er Nischan grüßen müsse. Fräulein Hüsch sah prüfend um sich.

Man geleitete die Dame zum Saal. Er war groß genug für die Zahl der Eintretenden. Das Parkett spiegelte weithin. An den Wänden mit den Marmorbüsten und den goldenen Arabesken stand rings die Reihe der Tische, von denen schon viele belegt waren. Schildhauf hatte einen Tisch nicht zu nahe der Kapelle reservieren lassen. Die Gäste der Nebentische hatten ihre Plätze noch nicht eingenommen. Fräulein Hüsch beugte sich über die Namenskarten.

»Hören Sie, das sind ja alles Herrn aus andern Abteilungen, die da um uns herumsitzen.«

»Korts und Casparius kommen noch an unseren Tisch«, rechtfertigte sich der Verantwortliche. »Im übrigen ist die dienstliche Rangordnung nicht durchbrochen … Die Hautevolee vom Ministerialrat aufwärts hat die andere Saalseite mit den Logen – konnte dort leider nichts mehr bekommen! Alle Plätze waren schon vergeben. Aber die Verbindung wird sich allmählich herstellen lassen.«

Die nicht ganz befriedigte Schöne zuckte mit den Achseln und ließ sich nieder. Korts und Casparius tauchten auf, nahmen am Tisch Platz, beide mit schlohweißen Hemdbrüsten, im schwarzen Tuch des Smokings. Man beobachtete seine Mitmenschen.

»Schauen Sie! Schauen Sie bloß, Herr Wichmann! Ihre Verehrerin … seien Sie doch nicht so unaufmerksam!«

Der Angerufene fuhr aus Träumen auf und blickte in die Richtung, die die Damenhand leicht angedeutet hatte. Fräulein Sauberzweig ging unter den letzten Nachzüglern einsam und suchend durch den Saal. Das billige Fähnchen, das über ihren Schultern hing, war sehr kurz, die Wadenlinie schwunglos. Die beiden Hände hielten krampfhaft das silberglänzende Handtäschchen vor den Leib.

»Das hat sie bestimmt selbst genäht!«

»Nehmen Sie sich in acht, Wichmann, die Dame geht auf Raub aus.«

Die Wangen des Mädchens waren ungeschickt mit Rouge gefärbt, und die natürliche Röte kam daneben hervor. Die neunzehnjährige Silvia Sauberzweig war ein niedliches Mädchen, aber sie war schüchtern und ungeschickt.

»Ha, also das Mädle tut mir wirklich leid«, sagte Casparius gutmütig. »Die hat sich daheim vor ihrem Spiegel so wunder schön g’funde, und jetzt heult sie bald. Daß aber auch der Baier net kommt. Der hat wahrscheinlich wieder kein Geld. Oje und die Schmock, die hat der Pöschko heut am Tisch. Habe die denn kein Platz mehr für des Mädle? Des ischt eigentlich eine Gemeinheit von der Freundin Anneli gegen die Silvia. Gegenwart von Männern beziehungsweise die daraus entstehenden Hoffnungen und Konkurrenzkämpfe bringen eine Verderbnis hinsichtlich des Frauencharakters mit sich, die selbst auf einem Beamtenball keine Grenzen kennt.«

Fräulein Sauberzweig steuerte unsicher hin und her.

Die Mitglieder des Tanzorchesters erschienen schon durch eine kleine Nebentür auf dem Podium am Saalende und verteilten die Noten für das Eingangsstück auf die Ständer.

»Ha, jetzt gucket – wie hat denn die Silvia ihren Kompaß eingestellt? Gerät in das Revier der ministerialrätlichen Wale und Hechte, das arme Weißfischle! Ich kann’s nimmer mit ansehen. Fräulein Hüsch, Sie sind unsere beschte Kuh, beschtes Pferd im …«

»Stute …«

»Seien Sie still, Herr Korts, mit Ihrer Auslegung meiner schlichten Wortwirrnis bringen Sie den Zorn der Dame über mich, der mich untröstlich macht, und mir noch eine Forderung über den Hals! Ha, also was ich sage will, Fräulein Hüsch, unsere einzige und daher beschte Kollegin … ischt eben einzig dastehend und kann den Jammer auch net mitansehen. Erlauben Sie, daß ich des arme Mädle an unseren Tisch bring’? Ein Stuhl wird sich schon finde.«

»Sie sind wohl verrückt, Herr Casparius?«

»Ha, nei, aber enttäuscht von Ihne. Dabei sehe Sie so hübsch aus in Ihre Spitzle!«

»Die Sauberzweig! Wir sind ja vorläufig noch nicht im Soldaten- und Arbeiterparadies.«

»Ha, nei, in einem Paradies sind wir noch net, den Eindruck hab’ i also auch. Dazu sind die Dame immer noch etwas zu viel angezoge und zu wenig Mensch schlechthin. Insofern sind wir aber Kommunischte, als Sie uns zwinge, uns selbander zu viert in eine einzige Dame, nämlich Ihre werte Person zu teilen.«

»Ich verzichte darauf. Wenn Sie Ihre Frau Gemahlin nicht mitgebracht haben, können Sie sich ja zu der Sauberzweig setzen.«

Casparius machte sein Schimpansengesicht und betrachtete Lotte Hüsch mit abgründig philosophischem Blick von unten herauf.

Schildhauf schaute umher, ob er dem Streitobjekt nicht einen anderen Platz verschaffen und dadurch alle zufriedenstellen könne. Er erhob sich, um einen besseren Überblick zu haben.

Die Tanzfläche war schon fast leer und spiegelte die beiden mächtigen Glaslüster, in Erwartung der Paare, die sich nach der Musik auf der Glätte des Bodens bewegen sollten. Die Logen hatten sich gefüllt, um jeden Tisch schloß sich ein Kreis der Gäste; rings schien kein Stuhl mehr frei. Die Kellner liefen umher und nahmen die Bestellungen entgegen. Mit leicht vorgeneigten Schultern und Köpfen unterhielten sich die Herren und Damen über die Tische hinweg, auf denen steife Weinkarten von möglichen Genüssen erzählten. Das Schwarz der Smokings und einiger Fräcke überwog. Die Damen waren in der Minderzahl und schieden sich für das Auge leicht in die beiden Gruppen der Berufstätigen – Stenotypistinnen, Sekretärinnen – und der Ehefrauen, die mit ihren Gatten gekommen waren. Trotz des gewagten Dranges, mit dem die Fülle der Lundheimer aus dem prall sitzenden großgeblümten Überzug hervorquellen wollte, trotz des stark geschminkten Gesichtes der kleinen Schmock überwog das Schlichte und Solide unter den Ballteilnehmerinnen durchaus.

Neben netten jungen und älteren Frauen, denen die Lebensfrische der kleinstädtischen Herkunft anzusehen war, fand das Auge einige auffallend gute Erscheinungen.

Die Musik intonierte den einleitenden Schlager. Der erste Geiger war ein feingliedriger, südländischer Menschentyp. Seine empfindsamen Hände schienen die Töne zu fühlen und mit ihnen zu spielen; durch seinen ganzen Körper ging der Rhythmus des Taktes; sein scheitellos gelegtes dunkles Haar begann bei der Bewegung zum Ohr zu fallen. Wichmann beobachtete ihn; er war selbst empfänglich für alles Rhythmische und nicht unmusikalisch.

Die Kellner brachten Weinflaschen. Alles ordnete sich zum Beginn des Festes. Der einzige verzweifelte, störende, hilflosherumirrende Punkt war das kleine Mädchen Silvia. Sie preßte noch immer die Silberlamétasche vor den Leib. Auch am Tisch der Anneli Schmock schien man endlich das Peinliche der Lage zu empfinden, und Wichmann wurde zumute, wie ihm damals als achtjährigem Jungen zumute gewesen war, als das neu erworbene Kaninchen voll Todesangst ihm seine Hände und Hosen naß machte. Er war gereizt durch das Unnütze, Ungeschickte, hilflos und voll Mitleid zugleich. Pöschko am entfernten Tisch stand auf. Seine Gestalt ragte jetzt ebenso stramm wie die Schildhaufs, dem Panzerturm eines Kriegsschiffs gleich, über das Meer der Sitzenden. Er winkte dem einsamordnungswidrigen Lebewesen auf dem Parkett heranzukommen. Aber Silvia konnte den Befehl seiner Hand nicht mehr wahrnehmen, denn schneller noch, als Pöschkos Wink erfolgte, hatte sich von der anderen Seite des Saales her etwas anderes begeben. Ein Herr mit lichtgrauem Haar kam über das Parkett. Obwohl er groß und sehr schlank war, lag in seinen Bewegungen nichts Unverhältnismäßiges oder Schwächliches. Seine Schritte waren leicht, und sein Körper war von einer Geschmeidigkeit der sicheren und unauffälligen Bewegung, die elegant wirkte. Er sprach zu dem Mädchen herab, dessen Hände die Lamétasche krampfartig mißhandelten und das ihm dann hochrot und mit steifen Beinen in die Loge folgte.

»Himmeldonnerwetter.« Wichmann fühlte, daß Schildhauf gern lauter geflucht und mit dem Fuße aufgestampft hätte. »Das mußte ja passieren.« Der Korpsstudent und Regierungsrat im Staatsministerium setzte sich. »Grevenhagen wird uns für Kaffern halten. Es war unsere Sache, dieses Mädchen rechtzeitig vom Parkett abzuräumen.«

»Ha, wenn Sie ein Kaffernhäuptling gewesen wären, Herr Schildhauf, dann hätten Sie sich die Sach einfacher g’macht. Da hätten Sie das Mädche ganz einfach in Ermangelung sonstiger Sitzgelegenheit auf die Speisekarte g’setzt.«

»Als Knochenbrühe«, schlug Korts vor.

Schildhauf schenkte Wein ein, um seinen Ärger zu überwinden.

»Ich find’ das ja wirklich übertrieben von Grevenhagen. Die Silvia konnte zu dem Pöschko gehen, wo sie hingehört.« Lotte Hüsch war giftig.

Wichmann sah bei den Worten ihr Gesicht, das sich in Härte und Unzufriedenheit mehr entstellte, als sie selbst ahnen konnte.

Wichmann aber ließ mit den anderen das gehobene Glas anklingen, und während er trank, wirkte er schon wieder wie geistesabwesend.

Das Erscheinen des Fräulein Sauberzweig wurde zu einer Fügung der Fäden spinnenden Schicksalsgöttinnen.

Als das Eingangsstück der Musik verklungen und der erste Onestep, an dem nur wenige Paare teilnahmen, trotz dünnen Klatschens der Tanzenden nicht wiederholt wurde, wartete Wichmann darauf, daß Schildhauf Fräulein Hüsch zu dem zu erwartenden Boston auffordern werde. Der Regierungsrat erhob sich auch schon bei dem ersten Anzeichen, daß das Orchester seine Klang erzeugende Arbeit wieder aufnehmen wolle, und machte eine Verbeugung, die zwei Zentimeter tiefer war, als echte Hochachtung verlangt hätte. Aber Fräulein Hüsch gefiel sie; mit einem geübten Lächeln des Wohlgefallens schloß sie sich dem Kavalier an. Es war kein schlechtes Paar; beide waren stattlich und gut gewachsen. Nur ein klein wenig zu kurz für die Mode schien das Spitzenkleid, das die anziehend geformten Knie der Trägerin freigab.

Auch Wichmann stand auf. Er spürte die neugierigen Blicke von Korts und Casparius hinter sich, als er quer durch den Saal steuerte, während die tanzwilligen Paare sich mehr im äußeren Rund gruppierten. Das Licht begann vor seinen Augen zu flimmern, der rote Samt der Logen schloß sich ihm zu einem einzigen dunklen Purpurleuchten zusammen, dennoch hielt er die Richtung unfehlbar genau.

Der Ton, den ein stimmender Geigenbogen hervorlockte, verriet ihm, daß auch seine Seele eine gespannte Saite war, die singen oder zerreißen wollte. Er gewann den Gang, der hinter den Logen durchführte. Es waren vielleicht nur noch Sekunden, bis der Tanz einsetzen mußte. Das Geschwätz wurde schon leiser.

Wichmann wußte, daß er die sechste Loge aufsuchen wollte; er hatte längst gezählt. Die Logen, gegen den Tanzsaal hin durch die Brüstung abgeschlossen, waren dem hinteren Gang zu offen. Wichmann stockte.

Ein tief herabhängendes Tischtuch, Gläser mit goldenem Wein, dunkelgrüne hochmütige Flaschen, die über ihren Etiketten die Hälse reckten – eine mächtige Masse im Frack, gleich einem Ballvater –, daneben Grevenhagen, dessen schmales Gesicht überlegen spöttisch wirkte, und andere noch, Herren und Damen, die Wichmann jetzt nicht mehr erkennen konnte … und sie …

Ein gedämpft geführtes Gespräch wurde abgebrochen.

»Ah, Herr Assessor! Darf ich Sie meiner Frau vorstellen. Herr Dr. Wichmann, mein junger und hoffnungsvoller Mitarbeiter. Der Name ist dir nicht mehr unbekannt.«

Dir … dir. Wie ein Blitzstrahl, leuchtend und erschreckend. Draußen intonierte die Musik. Die Klänge schwollen und schmolzen. Paare bewegten sich.

Wichmann zitterte, als er die Schultern aus der Verbeugung wieder hob.

Frau Grevenhagen hatte angenommen, daß er gekommen sei, sie zum Tanze aufzufordern er … sie … zum ersten Tanz … Wahnsinn! Schande des falschen Schritts! Er hatte geglaubt, daß sie mit ihrem Gatten oder einem der Würdenträger tanzen würde – und er wollte das Fräulein Sauberzweig … Fräulein Sauberzweig … und sie nur mit einem einzigen Blick streifen … Oskar Wichmann war nicht selbstbewußt genug und zu unerfahren, um zu durchschauen, daß Frau Grevenhagen ihn absichtlich mißverstanden hatte.

Sie erhob sich. Irgendein Tier, das den Platz auf ihrem Nacken lieben mußte, war herabgeglitten und hütete jetzt den Stuhl, bis sie wiederkam. Sie neigte den Kopf, eine Bewegung, in der Wichmanns Vernunft erstarb. Er sah den Gatten nicht, der lächelnd aufgestanden war und den Weg für die Tänzerin freigab. Er sah Boschhofer nicht, dem der Zwicker von der Nase fiel, so daß er ihn wieder aufsetzen mußte, um die Weinkarte weiterzustudieren. Nischan sah er nicht und nicht den halb offenen Mund der Silvia. Er sah das alles nicht und sah es doch; es waren nur die Hintergründe, die dem Schöpfer heute zu ihrem Bild gefielen.

Er ging neben ihr, den Rhythmus ihres Schrittes in den Nerven. Im Saale blieben sie einander gegenüber stehen. Die Musik spielte die Takte aus bis zum Ende eines Satzes und brach ab. Eine kurze Stille trat ein, die Tänzer stockten verwirrt. Der erste Geiger hatte sein Instrument abgenommen, sein nachtfarbenes bleiches Gesicht wandte sich dem neu antretenden Paar zu. Er verneigte sich tief und setzte das Instrument wieder an – Diener der Schönheit und Grazie. Nur für ein Paar spielte jetzt die Musik. Schmarotzer waren die anderen.

In Wichmanns Fingerspitzen pulste das Blut bei der ersten Berührung der Hände. Er legte den Arm um den Frauenkörper, andeutend, scheu, die Tanzschritte gingen im Gleichmaß. Sein Wille leitete sie. Er spürte einen unbekannten Hauch, vielleicht hatte eine Blüte im ewigen Baumschatten des Amazonas so geatmet. Die Instrumente sangen fremdartig, langgezogen und schwül.

Tango.

Es wurde gemurmelt, Paare traten ab. Nur die gewandten der Tänzer wagten zu bleiben, und es waren ihrer nicht viel. Frei bot sich das Parkett der gebändigt-lüsternen Bewegung. Das Gesicht ohne Lächeln lag nahe an Wichmanns Wange, ein Atem streifte den seinen. Er begriff, daß Zeit nicht nur eine lange Straße eilte. Wenn sie ihre Tiefen öffnete, schwand das Vergehen, und Jahre füllten den Augenblick. Mit der Sicherheit des Traumes schritt das Paar; reglos blieben die Schultern. Die Zeit schien stillzustehen. Namen, Wissen sanken dahin. Schwermütig, unveränderlich lagen zwei braune Augen zwischen den Ufern perlfarbener Lider. Das grenzenlose Moor konnte nicht stiller, nicht unheimlicher sein.

Die Figur des strengsten und leidenschaftlichsten der Tänze schloß in verhüllter Deutung. Unter dem Manne bog sich ein weicher Körper; das Antlitz mit verschlossenen Lippen wich zurück und ergab sich in der Beugung des Nackens; Haar fiel aus der Stirn, zwei Lippen öffneten sich, ohne zu sprechen. Die Hand im Rücken der Tänzerin fühlte die Wärme des Blutes.

Ein Strich der Geigen klang aus; die Körper lösten sich, um das erregende Spiel noch einmal zu beginnen. Das Haar seiner Tänzerin war Wichmann näher, stärker der Duft des Unbekannten. Götter der Wildnis … Zauberer …

Eine Unberührbare lag in seinem Arm. Wenn sie des Nachts sprach, mußte sie mit Schlangen und Sternen sprechen können. Nicht mehr er selbst, führte der Mann die Tänzerin zur Ruhe zurück. Ein Tier, mit glasglänzenden Augen, legte sich wieder um ihren Nacken.

Das andere war unwirklich. Er hatte sich verbeugt und wurde gebeten zu bleiben. Dienstbeflissen eilende Befrackte mit weißen Servietten unter dem Arm brachten Stuhl und Glas, der Wein ging über die Zunge, aber das Herz vermochte nicht mehr schneller zu hämmern. Stimmen sprachen Worte … fern … fern … wie solche, die man vom Berge herab in tiefen Tälern hört.

»Juarez hat dich erkannt, Marion, und deinen Lieblingstanz gespielt. Es sollte eine Aufmerksamkeit für dich sein. Hat sie dich sehr belästigt?«

»Nein.«

Sie hatte eine dunkle Stimme und sprach langsam und immer noch, ohne zu lächeln. Ihre Hand legte sich sanft um den Stiel des Kelches, der den Wein zu ihrem Munde führen durfte.

Die Äderchen in Boschhofers Haut waren rot; Nischan glotzte aus seinem farblosen Gesicht unter den immer frisch gewaschenen Lockenhaaren.

Auch das war nur eine sehr undeutliche Wahrnehmung, daß der Assessor Wichmann im nächsten Tanze mit Silvia Sauberzweig über das Parkett ging und daß er sie veranlaßte, sich am Tische zu verabschieden, damit er sie zu Pöschko und ihrer Freundin Anneli hinüberbringen könne. Wichmanns Stuhl am Tische Grevenhagens nahm der Staatssekretär ein, der das Fest mit seiner Anwesenheit beehrte.

Als Wichmann wieder zu seinen Kollegen kam, glaubte er in einem sehr fernen Lande gewesen zu sein, aus dem er fremd und verwundert zurückkehrte, um die Seinen kaum mehr wiederzuerkennen.

»O du mei lieb’s Herrgöttle von Biberach! Da ischt er wieder … leibhaftig! Oder ischt’s nur Ihr Geischt? Wir haben den unsern alle aufgegeben vor Schreck und Erstaunen. Jetzt bestellen Sie uns nur eine gute Flasche. Des ischt die mindeste Straf. Herrgott, was es alles gibt!«

»Hören Sie, woher kennen Sie denn Frau Grevenhagen? Haben Sie nicht immer getan, als wüßten Sie von nichts? So ein heimtückisches Gemüt haben Sie? Den ersten Tanz, das grenzt ja schon an Skandal! Und der Juarez spielt eigens für Sie und sie. Aber jetzt müssen Sie Geständnisse ablegen, sonst ist’s aus!«

»Wichmann – ich bin platt wie ein Eierkuchen. Sie … das war ja nun tatsächlich sehr … sehr … na sagen wir mal: erstaunlich. Der Staatssekretär stand mit offenem Mund an der Tür.«

»Wo ham Sie so gut tanzen gelernt? Das hätt’ ich Ihnen gar nicht zugetraut. Sie können mir nicht mehr erzählen, daß Sie ein Philister sind. Wie Sie den Tango hingelegt haben – famos. Wollen Sie es nicht auch einmal mit mir probieren?«

Die Maske, die Wichmann aufhatte, konnte sprechen. Er war froh darüber.

»Gern.«

Fräulein Hüsch plauderte während des gleichgültigen Onestep, den die Beinmuskeln absolvierten.

»Sie ist eine phantastische Frau, einfach phantastisch. Jetzt geben Sie doch zu, daß Sie das auch finden?«

Wichmann war wie einem Tempeltänzer zumute, der in der Ekstase gestört werden soll. Matt und feindselig schloß er die Lippen und machte eine gewagte Kurve mit seiner plappernden Dame.

»Morgen wird das Sandsteinhaus zittern vor Gerüchten! Machen Sie sich nichts draus! Mich freut’s eigentlich, wenn Sie die Rasselbande auch einmal kennen und verachten lernen!« Das Paar kam dicht an einigen Tischen vorbei.

»Sie … da hat Ihnen einer was zugesteckt, einen kleinen Zettel? Kommen Sie, wir tanzen unauffällig zum Saalende, dann können Sie nachschauen.«

Wichmann folgte mechanisch. Am Türende des Saales gab er mit seiner Dame den Tanz auf und stellte sich unter einen Wandleuchter, scheinbar als einer der Zuschauer. Seine Rechte griff in die Tasche.

»Nein – da links.«

Er suchte, zog ein kleines Papier heraus und reichte es achtlos Fräulein Hüsch. Sie las vor.

»Der Ball wird pikant,

wenn man mit Verstand

die Fäden erkannt,

in denen Kollegen

sich zappelnd bewegen,

in den Händen zum Schein

ein Sauberzweiglein.«

»Unverschämt. Typisch Nathan oder Borowski. Hauen Sie doch gleich beiden eine ’runter.«

»Sobald ich dazu gelaunt bin.«

»Ach, es ist Ihnen schnuppe? Hören Sie, Sie imponieren mir allmählich. So was gedeiht also auch im Geheimratsviertel!«

Wichmann wollte seine Dame zurückführen, als der Onestep zu Ende ging, aber Borowski war plötzlich da und engagierte sie vorweg für den nächsten Tanz. Wichmann zog sich zurück und schlenderte ziellos umher. Was sich im Saal bei den wiederauflebenden Klängen bewegte, waren nur Holzfiguren. Ahnten sie denn, was Tanz war, diese braven Beamtenfrauen und die hungrigen kleinen Mädchen? Fernes, unerreichbares Geheimnis der großen Leidenschaft … Sie war sein gewesen.

Der von Gedanken zugleich Volle und Leere spürte immer noch das lächerliche Papier in der Hand, für das er Nathan oder Borowski gelegentlich eine runterhauen mußte. Es war ihm lästig. Nirgends ein Papierkorb … so steckte er es wieder in die linke Tasche. Seine Finger fühlten dabei einen zweiten Zettel. Eine vergessene gebrauchte Theaterkarte oder …? Wichmann holte den zweiten Zettel heraus, während er den ersten tiefer steckte.

Ein Strick zog seine Kehle zu, sein Herz versagte fast. Er griff nach der Wand und schob das Papier zurück. Vor seinen Augen wirbelten die Linien der Marmortische.

»Boston nach der Pause. M. G.«

Ein Spuk? Foppen böser Geister? Oder …

Wichmann wußte nicht mehr, wie er zu Korts und jenem fremden Herrn gekommen war, die beide dem Tanze zusahen. Vielleicht hatten sie ihn angesprochen, und er war stehengeblieben.

Der Fremde fiel ihm auf. Er war das erste, was er wirklich sah, nachdem er jenen zweiten Zettel gelesen hatte. Der Unbekannte war noch jung, schmal gewachsen, mit starkem Hinterkopf und trug eine dunkle Intelligenzbrille. Der Kopf streckte sich über einer langen Brust nach vorn. Neben den stämmigen, breiten Schultern von Korts glich er einer Weidengerte.

»Da sehn Sie«, sagte er zu Wichmann, noch ohne mit ihm bekannt geworden zu sein, »diese Groteske des Totentanzes. Sehen Sie diese Bürgerweiber, wie sie sich geputzt haben für den Jahrmarkt der Körper. Wollen Sie sagen, daß das Tanzen etwas anderes sei? Verborgene Wollust … Tabu …›Das darf man nicht vor keuschen Herzen nennen … was keusche Herzen nicht entbehren können … ‹ Mein Herr, was meinen Sie, wie lange diese Weiber noch tanzen und girren, bis der Vulkan birst?«

»Was für ein Vulkan?«

»Sie wollen mich absichtlich nicht verstehen. Dies ist ein Theater. Hinter der Bühne rollt schon der Donner; der nächste Blitz wird einschlagen, er wird einschlagen. Vor den Flammen werden sie fliehen wollen, die Spieler und die seidenbezogenen Weiber … ersticken werden sie, einander morden … Laß sie krepieren … sie sterben mit ihrer Welt.«

»Sie sind Kommunist?«

»Herr! Ich sehe, was hinter den Dingen steht. Was ist das, Kommunist? Ich rede von der Zeit der Schwerter und der Erzengel! Ja, meinetwegen, aber nur, wenn Sie ›Kommunist‹ als Schimpfwort nehmen, so bekenne ich mich dazu, um des Ungewöhnlichen willen. Ihre bürgerliche Moral stinkt, ihre Wirtschaft ist ein fauler Stamm. Lassen Sie sich nicht täuschen, wenn Sie noch die unversehrte Rinde sehen; er stürzt an einem Tag zusammen, wenn der Wind aufspringt. Dort sehen Sie den Borowski tanzen, das Schweineohr mit seiner girrenden Taube! Sehen Sie ihn an! Die Luft, mit der man ihn aufgeblasen hat, wird entweichen, das Jahrmarktschweinchen klatscht zusammen. Und so etwas regiert in Deutschland! Wollen Sie das dulden?«

»Vermutlich sind Sie auch Beamter?«

»Nein, Herr, glücklicherweise nicht. Ich bin Proletarier, wenn auch mit einem weißen Stehkragen. Wollen Sie mir den gestatten, ja?«

»Was denken Sie über Frau Grevenhagen?« fragte Korts.

»Interessiert Sie das?«

»Nicht im geringsten.«

Der merkwürdige Mensch verschwand ohne Gruß.

»Wer ist das gewesen, Korts?«

»Ein Doktor Musa, Verrückter aus der Abteilung II.«

Wichmann lehnte sich neben Korts an die Wand.

Marion kam mit ihrem Gatten aus der Loge und ging mit ihm zum Tanz. Sie trug ein langes schwarzes Seidenkleid. Es war bis zum Hals geschlossen und schmiegte sich an ihre Gestalt. Nur im Rücken gaben Spitzen den Schimmer ihrer Haut preis. Justus Grevenhagen führte sie wie eine den Göttern geweihte Hindin, behutsam, mit unmerklicher Berührung, und sie folgte seinem Willen, ehe er ihn ausdrückte. Marion war nicht klein. Der Gatte beugte sich um ein weniges zu ihr hinab. Seine Bewegungen waren gut, in den Maßen der Musik, sie waren geschult, aber was er in seinen Armen hielt, war ein Wunder. Er empfand es, und der Liebende liebte ihn dafür.

Marion hatte kein Tanzstundenbillett geschrieben. Sie war auch keine Dirne. Armer Nathan, armer Borowski, die die Herrlichkeit dieser Frau nie empfinden konnten. Nicht nur im alten jüdischen Tempel, auch bei den Frauen gab es Vorhof und Heiligtümer, und nicht alle waren zugelassen zu schauen; sie wurden blind, wenn sie sich näherten, und spotteten über das, was die Sehenden zu erkennen vorgaben.

Einmal noch an diesem Abend konnte der Assessor Wichmann an ihren Tisch gehen … einmal noch … denn Fräulein du Prel saß jetzt dort. Bis dahin, bis zu diesem einen Mal, währte das Fest. Dann mußte es Nacht werden.

Wichmann blieb bei dem schweigsamen Korts. Fräulein Hüsch tanzte vorbei. Sie tanzte mit Borowski, sie tanzte mit Nathan, sie tanzte oft mit Schildhauf und sie tanzte mit Casparius. Boschhofer kam quer durch den Saal und begrüßte sie. Er lachte laut und zutunlich, und Nischan ließ sich von ihr den dritten Tango geben. Grevenhagen ging die letzten Takte eines Onestep mit ihr. Er war ihr bester Tänzer. Die Geheimrätin hatte erzählt, daß er als junger Mensch Herrenreiter gewesen war.

Marion …

Es war schon spät.

Wichmann ging zum zweiten Mal den Gang zu der Loge; der Boden brannte ihm unter den Füßen wie Feuer. Auf dem Tisch in der Loge standen Sektflaschen; in den Gläsern perlte es. Boschhofer trank und sprach hinüber zu Frau Ministerialrat Grevenhagen, die ihm mit rätselhaftem Ernst zuhörte. Es roch nach teuren köstlichen Tabaken und noch einmal matt und verfließend nach jenen fremden Blumen.

Wichmann führte Fräulein du Prel zum Tanz.

Die Sekretärin trug das Haar schlicht gescheitelt wie in dem Vorzimmer Nr. 412. Ihre Bewegungen waren graziös, ihr Velourskleid, das aus dem Dunkelblauen ins Schwarze schillerte, war ein Pariser Modell von aparter Linienführung. Aber ihre Haut schien matt, ohne den Schimmer der Blütenblätter, und die Augen sahen zurückhaltend auf den begleitenden Herrn. Die Instrumente spielten ermüdet.

Als Wichmann seine Tänzerin zurückführte, war die beginnende Auflösung des Festes zu spüren. Der Staatssekretär hatte sich schon wieder entfernt. Tische waren leer geworden. Damen nahmen die Pelze um die Schultern, Herren zahlten. Auch Grevenhagen und Boschhofer hatten dem Oberkellner auf Tellern unter der Rechnung verdeckt die Summen hingelegt. Durch das Portal des Saales verschwanden immer mehr der Festteilnehmer.

»Wollen Sie nicht in unserem Wagen mitkommen, Herr Wichmann? Sie wohnen doch nicht weit von uns?«

»Mit vielem Dank, Herr Ministerialrat.«

Als Wichmann seinen Kollegen die Mitteilung machte, spürte er, daß er ein Außenseiter geworden war.

»Binde Sie sich heut abend noch ein G’wicht an die Füß’, lieber Wichmann, daß Sie auf unserer nüchternen Erde bleiben. Sie haben so was Verklärtes an sich! Das ischt net gesund für einen Assessor!«

Wichmann fand keine Gelegenheit, Dienste zu leisten, denn Grevenhagen sah alles. Er gab das Tier mit den Glasaugen um ihre Schultern, er hielt und er reichte den Strauß der Teerosen, die mit müden Köpfen Duft verströmten. Die Garderobe wurde in die Loge gebracht.

Man ging, von Blicken geleitet.

Boschhofer hatte einen Mietwagen bestellt und nahm Nischan mit sich.

Wichmann saß zum erstenmal in dem dunklen Kabriolett, das weich und fast ohne Geräusch ging. Er saß neben dem Chauffeur, dem schweigsamen Mann mit der sicheren Hand. Hinter sich hörte er keine Stimme. Die Fahrt war kurz.

Vor dem Rosentor verabschiedete er sich.

Der Schein der Laterne fiel noch einmal auf ihre dunkle Gestalt. Sie lächelte ihrem Gatten zu. Ihre vollen Lippen waren aufgesprungen wie eine Knospe. Wichmann erschrak. Er begriff, daß Justus Grevenhagen sie hinter den Mauern und herabgelassenen Jalousien des Hauses in seine Arme nehmen und küssen durfte, und seine Seele fuhr bei dem Bilde zurück wie die Hand, die unwissend glühendes Eisen berührt hat.

Durch die hohen Fenster seines Zimmers schaute er noch einmal nach den Zweigen des Ahorns. Wo war er? Er war einen Weg gegangen, der nicht weiterführte und auf dem er nicht mehr zurückfand. Was sollte jetzt werden? Sie war Grevenhagens Frau.

Er mußte fliehen. Morgen wollte er dieses Zimmer kündigen. Seine zitternden Hände rissen Briefbogen aus der Schublade des Schreibtisches und schrieben den Brief, der seine Reise in die Vaterstadt für Weihnachten festlegte.

Als der Morgen grauen wollte, saß Oskar Wichmann noch im Smoking auf der Kante seiner weißbezogenen Couch, und das Licht der Stehlampe fiel auf einen Zettel in seinen unruhigen Fingern:

»Boston nach der Pause. M. G.«

Es war ein kleiner Zettel aus sehr dünnem, ganz holzfreiem Papier. Die eine Schmalseite war perforiert, Anzeichen dafür, daß es sich um ein Blatt aus einem Notizbuch handelte. Die Worte waren mit Blei flüchtig geschrieben, mit anderen Schriftzügen, als sie das Gedicht des spottenden Kollegen zeigte.

Wichmann quälte sich mit der nicht Wirklichkeit gewordenen Möglichkeit, daß er dieses Papier zuerst aus der Tasche gezogen und Fräulein Hüsch zum Lesen gegeben hätte. Gleich von welcher Hand es stammte, welcher Schurke es geschrieben hatte – die Verleumdung hätte es aufgegriffen, mit tausend Händen herumgezeigt, mit stinkenden Zungen umgeifert, bis sie die Frau, die köstlicher war als andere, endlich in den Schmutz ziehen konnte.

Schuft. War es Borowski, war es Nathan? Wer war es sonst?

Wer?

Marion stand weit entfernt von dem Gewürm. Wenn sie, Fürstin der Schönheit und Justus Grevenhagens Frau, zum Tanz befehlen wollte, so tat sie es mit einem Wort, wie die Frauen aus königlichem Geblüt.

Sie … nein … niemals.

Laß dir die gespaltene Zunge herausreißen, du kleine Schlange in meiner Seele. Schweig mit deinem Gezisch! Marion ist auf der rechten Seite ihres Tänzers gegangen, nicht auf der linken. Sie schrieb keinen Zettel, während ihre Hände dem Tanz gehörten. Sie hat … auch nicht … am Tisch … und nicht, als Oskar Wichmann das kleine Mädchen Silvia Sauberzweig zum Abschied veranlaßte … und als er Marion Grevenhagen die Hand küßte …

sie hat auch nicht zum Scherz …

schweig, schweig …

hat auch nicht gewartet, als Oskar Wichmann nicht mehr kam …

sie hat nicht …

nicht, hörst du …

ihre Schriftzüge sehen anders aus …

woher weißt du das, Oskar Wichmann?

Wer kannte ihre Hand, wenn sie schrieb? Wen durfte Wichmann danach fragen? Wer war der Schuft, der die Züge so zierlich – nein, mit weitem Strich – so dumm gesetzt hatte?

Wichmann ließ den Zettel durch die Luft auf den Teppich schweben und legte den schmerzenden Kopf auf die Arme. Wo war jetzt das Notizbuch, aus dem eine Hand – welche, welche? – diesen Zettel herausgerissen hatte?

Oskar Wichmann bückte sich und hob das Papier wieder auf. Er legte es in einen kleinen Visitenkartenumschlag und schob den Umschlag in die Brieftasche. Hund, der es gewagt hat … Wichmann steckte einen leeren Bogen in ein Kuvert, schrieb eine erfundene Adresse, frankierte nicht und machte sich mit diesem Erzeugnis seiner List auf den Weg zum Briefkasten. Er war in den Überzieher geschlüpft, den Hut hatte er nicht aufgesetzt. Laut und widerwärtig rührte sich das Sicherheitsschloß, als er die Wohnungstür öffnete; die Haustür schnappte mit Klang zurück, als sie wieder geschlossen wurde. Es war noch fast Nacht, noch nicht sechs Uhr.

Wichmanns Schritte hallten durch die stille Straße. Der Briefkasten befand sich einige Häuser weiter, dem vom Park entfernten Ende der Straße zu. Er warf seinen Brief ein und markierte eine erschreckte Bewegung, als ob er Zuschauer habe, denen er zeigen wolle, daß dieses Einwerfen ein Versehen gewesen sei.

Er bewegte die Klappe der gefräßigen Öffnung ein paarmal auf und ab, wie in einer vergeblichen Hoffnung, seinen Brief wieder herauszuholen, und stellte sich dann bei dem Briefkasten auf.

In zehn Minuten mußte der Bote kommen, der den Kasten zum erstenmal am Tage leerte.

Minuten waren lang.

Oskar Wichmann ging auf und ab. Die Laternen brannten noch. Er fühlte sich nicht müde.

Als der Bote mit dem Rad und dem großen ledernen Sack kam, begann Wichmann zu reden. Er habe einen wichtigen Brief, der eingeschrieben werden mußte und noch nicht frankiert war, aus Versehen eingeworfen … Hier sei der andere, an seine Schwester gerichtet, den er habe einwerfen wollen … in der Dunkelheit habe er falsch gegriffen …

Es sei außerordentlich unangenehm … er müsse das Schreiben unbedingt zurückhaben …

Auf der Post könne er es zurückerhalten, im Sortierraum, meinte der Beamte ruhig.

Wichmann zog Portemonnaie und Zigarrenetui. Sicher befanden sich nicht viele Briefe in dem Kasten? Nein, es war zu hören, wie wenige in den Sack fielen. Wenn der Herr Postbeamte vielleicht rasch selbst nachsehen würde?

Aber es sei viel zu dunkel … und überhaupt nicht gestattet.

Der Sack war noch nicht geschlossen. Zweifelnd schaute der Beamte sich um. Das Geldstück und zwei Zigarren glitten durch seine Hand rasch in die Tasche.

Er griff in den Ledersack. Zwei Hände voll Briefe und Karten kamen aus dem Schlund. Wichmann schaute dem Boten über die Schulter. Wenn er Unglück hatte, lag sein Schreiben obenauf.

»Ohne Marke, auf der Rückseite groß mein Name«, erklärte der Assessor.

Der Bote sah die Briefe bedächtig durch und drehte jeden nach beiden Seiten.

»Halt … hier …« Wichmann hielt hastig in der Hand des anderen einen Brief fest, einen Umschlag aus weißem Papier, dessen Güte zu sehen und zu fühlen war.

»Nee, nee, Herr, das ist nicht Ihrer. Der ist aus der Kreuderstraße 3, die Umschläge kenn’ wir schon. Sehen Sie her, lassen Sie mich umdrehn, der ist auch frankiert.« Der Bote hielt Wichmann die Vorderseite des Briefes mit der Adresse und der Marke unter die Nase. Wichmann starrte darauf.

»Herrn

Dr. Alfons Musa …«

»Ja … danke … ich sehe …«

»Aber der … da hab’n wir Ihren! Bitte, das ist der Ihre, sehn Sie nicht? Ohne Marke – und Dr. O. Wichmann.«

»Ja … ja … danke.«

Wichmann zerrte noch einen Schein hervor und drückte ihn dem Mann in die Hand. Dann machte er sich mit seinem Umschlag auf den Rückweg.

Herrn … Alfons Musa … und diese … diese … Schrift. Wichmann war zumute, als ob ein scharfes Messer sein Gehirn zerschnitten habe und jedes Teil nur noch für sich arbeite, ohne Zusammenhang untereinander, so wie die Teile eines Regenwurms sich winden, den die Amsel zerhackt hat. Die dünne weite Schrift, der in sich geschlossene U-Bogen über dem lateinischen U, bei dem er nichts zu suchen hatte, der offen auseinandergezogene A-Beutel … Götter, Götter, Götter … Es war der Zug derselben Hand … ihrer … Wichmann krampften sich die Muskeln um das Herz zusammen, daß es ihm fast den Atem verschlug. Er versuchte nicht, nach der anderen Straßenseite hinüberzublicken …

… die Umschläge kenn’ wir schon … Kreuderstraße 3.

Er stand wieder in seinem Zimmer, stand im Mantel vor seinem Schreibtisch und brachte es nicht über sich, die Zettel aus der Brieftasche hervorzuholen. Sie hatte gewartet … und er hatte ihr Rätsel mit Moral und Vernunft umsponnen und nicht geglaubt, daß sie ganz anders handeln werde, als die Überlegung des Regierungsassessors Dr. jur. (summa cum laude) ihr vorschreiben wollte. Sie hatte gewartet … und er hatte Fräulein du Prel zum Tanz geholt, weil er ein Philister war, der den Mutwillen einer großen Frau mit kümmerlichen Vorstellungen fortdiskutierte. Noch einmal hatte sie die Seine werden wollen … und er?

Was schrieb Frau Grevenhagen an Alfons Musa?

Vielleicht verkehrte der Verrückte aus der Abteilung II in diesem Hause, in das Oskar Wichmann eine Einladung noch immer nicht erhalten hatte. Vielleicht …

Alphonse …?

Die Eifersucht hatte scharfe Zähne, sie wetzte sie am scharfen Verstand. Eine Frau, die heimliche Zettel schrieb, schrieb auch heimliche Briefe. Eine Frau mit dünnen, haltlosen Zügen, geschiedene Gräfin Markwitz … Hast du noch einen Diener und Geliebten mehr nötig, Marion?

Die Erinnerung war übermächtig. Oskar Wichmann spürte in seinen Nerven den Duft der fremden Blumen. Ein perlfarbenes Gesicht ohne Lächeln beugte sich zurück …

Marion, Marion …

Müde hingen die Blüten und Knospen der Teerosen an sich beugenden Stielen und verströmten ihren Duft.

Ein einziges Mal … noch ein einziges Mal … aber er … Oskar Wichmann wußte nicht mehr, wie er den Weg in das Ministerium gemacht hatte. Er vergrub sich in seinem Zimmer zwischen den Büromöbeln wie ein wundes Tier, das Dunkelheit sucht. Zum erstenmal nahm er den Hörer nicht ab, wenn das Telefon mit seiner schrillen Stimme rief. Er las Akten, ohne ihren Sinn zu begreifen. Er hörte Schritte an seiner Tür vorbeilaufen und fürchtete jedesmal, daß sie bei ihm anhalten könnten. Es war ihm, als ob er das Ticken seiner Uhr vom Handgelenk bis in die Stirn fühlte. Sie lief weiter und wollte die Stunde zeigen, in der die anderen in der »Stillen Klause« sich Witze erzählen und ihrem Kater einen Mokka geben würden. Die anderen. Oskar Wichmann haßte sie. Er haßte die freche Hüsch, den prallen Korts. Was würden sie anderes tun, als mit den Fingern auf ihn deuten und über die Brühe mit Einlage hinwegschielen nach dem Mann, der mit Marion Grevenhagen getanzt hatte!

Das Telefon rief in kurzer Zeit zum dritten Mal.

»Wichmann.«

Fräulein du Prels Stimme sagte, deutlich und verhalten wie immer, »Ministerialrat Grevenhagen läßt Sie bitten, Dinge, die keinen Aufschub dulden, möglichst noch heute mit ihm zu besprechen. Er will morgen bis über Neujahr auf Urlaub gehen.«

»Danke. Es liegt nichts Eiliges vor.«

Wichmann lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Es war, als ob jemand plötzlich eine schwere Last, die er auf seinen Schultern umherschleppte, fortgenommen habe. Auf Urlaub fahren! Fort, weit weg! Den Mann nicht mehr sehen müssen, dem »sie« gehörte, seine Stimme nicht mehr hören müssen, diese beiden Menschen vergessen können. Wieder um sich schauen, als ob nichts gewesen sei!

Als die Uhr sich bis zur ersten Stunde nach Mittag durchgetickt hatte und Lotte Hüsch in ihrer zerfahrenen Art anklopfte und die Tür öffnete, stand Oskar Wichmann mit einem gleichgültigen Lächeln auf, um nach Hut und Mantel zu greifen.

»Wo stecken Sie denn die ganze Zeit, Herr Wichmann?«

»Hier. Ich habe mein Zimmer nicht verlassen.«

»Hören Sie, entwickeln Sie sich nicht zum Streber! Der Chef geht doch morgen auf Urlaub. Wir alle waren in der Bücherei beisammen. Sie ahnen gar nicht, was Sie für ein berühmter Mann geworden sind!«

»Leider ahne ich es.«

Die Tischrunde war heute zahlreich. Die Katzen schlichen um den wohlschmeckenden Brei kollegialer Anzüglichkeiten, ohne sich bei der Undurchsichtigkeit von Wichmanns Mienen recht daranzuwagen. Als die rote Grütze mit der gelben Soße verspeist und der Mokka mit Zucker und Sahne vertilgt war, faßte Wichmann Nathan ins Auge. Der Blick des anderen wich zur Seite.

»Sie wählen manchmal ungeeignete Aufbewahrungsorte für Ihre gesammelten Werke, mein Herr. Wenn Sie keine Ohrfeigen bezogen haben, so liegen die Gründe dafür nicht in Ihrem Verhalten. Ich möchte es nur vermeiden, einmal mehr als nötig meine Hände waschen zu müssen.«

Wichmann hatte leise gesprochen und ohne die Farbe zu wechseln. Die Runde war mäuschenstill. Der Angeredete versuchte zu lachen, stand dann auf und entfernte sich ohne Gruß.

Casparius fing an, vom Weihnachtsurlaub zu sprechen, und Wichmann empfand, daß die Kollegen seine Schärfe nicht billigten. Ohne sich am Gespräch zu beteiligen, dachte er für sich selbst über die Fest- und Ferientage nach.

Er hatte noch keinen Urlaub zu beanspruchen und wollte sich auch nicht um freie Tage bemühen. Es war sein Plan, am 24. Dezember mit dem Mittagszug nach Hause zu reisen und am 26. Dezember des Nachts zurückzufahren.

Drei Tage blieben noch bis dahin.

Er hoffte, sie ungestört verbringen zu können. Fräulein Hüsch verreiste schon, Nathan würde sich nicht mehr blicken lassen, und Borowski blieb sicher ebenfalls unsichtbar, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte. Die anderen hielten jetzt den Mund.

Da Grevenhagen nicht anwesend war und das Fest so nahe bevorstand, verbreitete sich eine lässige Stimmung in der Abteilung. Wichmann war der einzige, der wirklich arbeitete. Er schloß ein neues Gutachtenüber die Bezirksreform ab. Es war bescheidener als das erste. Der allgemeine Schlüssel, den er hatte finden wollen, ließ sich noch nicht berechnen, da keine ausreichenden einheitlich gewonnenen Wirtschafts- und Sozialdaten für das ganze Staatsgebiet zu erhalten waren. Es ließ sich vorläufig nur von Fall zu Fall und mehr nach Erahrungf als nach Wissenschaft vorgehen. Wichmann hatte eine Karte gezeichnet, die den beteiligten Ministerien vorgelegt werden konnte.

Die Festtage in der Heimat genoß Wichmann wie ein vorläufig den Gefahren Entronnener. Es schien alles zu sein wie früher und war doch ganz anders. Die bunten Kerzen am Baum brannten und beleuchteten die goldgeflügelten Wachsengel, die der kleine Junge Oskar schon bestaunt hatte, als die Eltern noch lebten. Wichmann hatte bei seiner verheirateten Schwester auf dem weißgedeckten Gabentisch eine Fülle von Geschenken und Aufmerksamkeiten vorgefunden. Er machte mit Schwester und Schwager am ersten Feiertag den Nachmittagsspaziergang unter blauem Winterhimmel und freute sich mit den Kindern, die in neuen Mänteln und bunten Mützen ihre Puppenwagen ausfuhren und ihre Pistolen knallen ließen. Er ging des Abends in das Stadttheater und begrüßte im Foyer das Tanzstundenfräulein in dem rosaseidenen Kleidchen. Er erzählte von der großen Stadt, von der Residenzstraße und dem mächtigen Ministerium. Es war alles richtig, was er sagte, und war doch alles falsch. Wenn er den Uhrzeiger vorrücken sah, spürte er den Druck in seinem Innern. Das Zeichen des Abschieds stand mit großen Lettern schon über der ersten Begrüßung. Er mußte zurück … zurück in die Kreuderstraße.

Am Morgen des zweiten Feiertages, der zugleich der Abschiedstag war, wanderte Wichmann mit seiner jüngeren Schwester noch einmal zu den umliegenden Höhen der kleinen Universitätsstadt. Im Tale lagen weiße Nebel. Es war kein Schnee gefallen; der Fuß ging über hartgefrorene Erde. Oskar und Vera liefen schweigend mit geröteten Wangen den sich windenden Pfad am Hang hinauf. Sie genossen miteinander das wohltuende Gefühl, alles Niedrige unter sich zurückzulassen, die Höhe aber und die Sicht in die Ferne zu gewinnen. Der Bruder ließ die Schwester auf dem steilen und schmalen Weg vorangehen, um sie nicht durch zu schnellen Schritt etwa zu überanstrengen. Aber Vera lief leicht, mit flinken und sicheren Füßen wie ein junges Reh, und der Bruder schritt aus, um ihr zu folgen. Vera hatte sich verändert. Oder sah der betrachtende Bruder die Schwester nur mit neuen Augen? Am Weihnachtsabend war ihm das bisher Unbekannte an der Schwester aufgefallen. Ihre Gestalt war schlanker und wiederum voller geworden, in ihrem Lachen klang ein neuer Ton, und sie wandelte sich immerzu. Unter dem Christbaum stand sie in einem weißen Kleid wie eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht, mit weichem Goldhaar, das in natürlichen Wellen fiel. Heute schien sie sportlich und kühn; die Locken waren von einer kleinen Kappe gefaßt, das Schneiderkostüm betonte das Ebenmaß ihrer noch wenig ausgesprochenen Formen, ihr Schritt federte. Wie die Verkörperung des herben Morgens wirkte sie! Wichmann kam der Schwester mit ein paar schnellen Sprüngen zur Seite.

»Vera?« Er sah ihr in die Augen. Es war nur die einzige Hoffnung in ihm, daß sie schon begreifen möchte, was ein liebender Mensch empfand.

Vera lachte. Errötete sie? Spürte sie, was in ihm vorging? Er hatte als Junge alle Spiele mit ihr gespielt und alle Geheimnisse mit ihr getauscht. Sie war immer seine Vertraute gewesen und er der ihre. Alle seine Schulfreunde hatten im stillen für Vera geschwärmt. Wichmann rechnete einen Augenblick. Die Schwester war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt.

»Vera … unser Vater war Chemiker …«

Das Mädchen legte den Kopf ein wenig zur Seite und blieb stehen, um den Blick in die Weite zu genießen. Dann lächelte sie den Bruder an. »Ja, gewiß«, sagte sie, zwischen Scherz und Ernst. Oskar Wichmann spürte aus ihrem Ton, daß sie ihn nicht hänseln wollte. Ihre Seele war ein sehr feines Instrument und nahm den zartesten Bogenstrich wahr.

»Erinnerst du dich vielleicht an einige seiner wissenschaftlichen Geheimnisse?« fuhr er fort. »Du beschäftigst dich doch auch mit solchen ernsthaften Dingen?«

»Mehr mit Sprachweisheiten, und zwar im sechsten Semester, Bruderherz.«

Die Geschwister hatten eine Bank erreicht, und obgleich die Luft sehr kalt war, schien ihnen die Wirkung der Morgensonne doch zu genügen, um sich für ein paar Minuten miteinander niederzulassen. Rings war es einsam, alle Höhen und der weite Himmel schienen den beiden allein zu gehören.

»Sprachweisheiten«, wiederholte Oskar Wichmann.

»Ja, aber den Sinn der menschlichen Worte zu erraten, ist oft schwer, am schwersten gegenüber dem großen Bruder.«

»O du junge Philosophin! Kennst du nicht doch ein geheimnisvolles Mittel, irgendein Zauberwort, mit dem man Liebe töten kann, ehe man selbst daran stirbt?«

Vera wurde dunkelrot. »Ich weiß«, sagte sie leise, »du hast es schwer.«

»Was weißt du?« Wichmann war aufgestanden, um den Weg fortzusetzen. Er fühlte sich getroffen, und im Weiterschreiten glaubte er das Gespräch, das er begonnen hatte, eher fortführen zu können.

»Ach Oskar!« Die Schwester griff nach seiner Hand, der Bruder faßte sie und so gingen sie miteinander weiter.

»Hast du schon einmal einen Mann geliebt, Vera? Es ist noch nicht lange her, daß wir uns getrennt haben, und doch bist du anders geworden.«

Vera schüttelte den Kopf, ohne aufzuschauen. Sie hob ein Steinchen vom Weg und warf es in die Luft.

»Ich habe es ja nicht nötig«, sagte sie übermütig. »Ich werde arbeiten.«

»Ich meine … könntest du dir vorstellen …?«

»Wie das ist, wenn man sich verliebt? Oskar, ihr seid – also die meisten von euch sind Hampel oder Spießer oder Großtuer oder Hohlköpfe. Dafür bin ich noch nicht reif und werde es auch nie. Und sonst … na ja …«

»Willst du mich einmal in der großen Stadt besuchen?«

»Ja, gern. Aber ich komme doch nicht. Denn dann reist Olga mit« – das war die ältere Schwester –, »und ich kann dir die Bekannten aufzählen, bei denen ich Besuch machen und mit denen ich ins Theater gehen und mit deren junger Garde ich tanzen muß. Hast du dich schon einmal um den Vetter Cormann gekümmert? Nein? Na, siehst du. Ich will auch nichts von ihm wissen. Meine Verehrer interessieren mich alle nicht. Es könnte mich höchstens reizen …«

»Was könnte dich reizen?«

Wichmann pflückte einen Zweig und spielte damit. Der Weg führte am Rande der Anhöhen, fast eben, in vielen Windungen weiter, und man brauchte nicht auf ihn zu achten und sich nicht anzustrengen. Die Gedanken arbeiteten frei.

»Was könnte dich also reizen?«

»Gar nichts.«

Oh, die Schwester verbarg etwas. Wichmann fühlte sich um so mehr zu ihr hingezogen.

»Ich möchte am liebsten wieder fort aus der Kreuderstraße«, sagte er. Vera hatte seine Hand losgelassen.

»Ist ›sie‹ so schön?« fragte sie. »Du mußt dich in acht nehmen, mit deinen Briefen, Oskar. Olga wird schon stutzig.« Wichmann fühlte, wie ihm das Blut bis zur Stirn stieg.

»Ich habe nur sachlich erzählt. Aber liest sie meine Briefe an dich?«

»Solange ich bei ihr wohne, kann ich das kaum verhindern. Es ist die alte Familiengewohnheit, du weißt es ja.«

Wichmann war sehr verstimmt.

Er verlangsamte den Schritt etwas, denn er hatte noch keine Lust, wieder abzusteigen, und auch nicht, sehr viel weiter zu gehen.

»Ist ›sie‹ glücklich, Oskar?«

»Glücklich?« Wichmann dachte nach. Er hatte sich diese Frage noch nie gestellt. Sie war die Frau des andern.

»Sie lebt in einer Welt, in der sie fremd erscheint«, sagte er leise. »Aber darin liegt auch ein besonderer Reiz. Weißt du etwas von Bremer Patriziern und Potsdamer Offiziersadel?«

»Von diesen unglücklichen Menschen, die nie sich selbst, sondern immer nur ihre vorgezeichnete Rolle spielen dürfen? Ein grausames Schicksal, kompensiert nur durch die Wollust des Hochmuts, und gerade die zehrt diese Menschen noch mehr aus und zieht ihnen bei lebendigem Leibe die Drähte durch die Glieder, an denen sie von anderen bewegt werden.«

»Unglücklich nennst du solche Menschen? Sie haben nicht nur ein grausames Schicksal, sie sind selbst grausam. Durch ›ihre‹ Glieder lassen sich keine Drähte ziehen, ohne daß sie daran verblutet.«

Vera schaute ins Unendliche des Himmels, ohne den Augen des Bruders mit ihrem Blick begegnen zu wollen. Es blieb wieder still zwischen den beiden Vertrauten der Kindheit.

Vera hatte einen Baumstumpf gefunden und setzte sich noch einmal. Der Bruder kauerte sich auf eine starke Wurzel. Plötzlich überwältigte es ihn. Er legte den Kopf in den Schoß des Mädchens, und seine Augen wurden feucht.

Sie schwieg und wartete.

»Komm«, sagte er, als er wieder aufstand. Er faßte die Schwester unter den Arm, und sie gingen schnell miteinander weiter.

Auf einmal lächelte Vera, hell, freundlich, lösend. Sie hatte sich wieder gewandelt.

»Wir sind Kindsköpfe, Oskar! Schlag dir alles aus dem Kopf. Vielleicht komme ich doch einmal zu dir und zu dem jour fix in der Kreuderstraße 3?«

Es war Wichmann, als ob eine Fessel von ihm abfalle. Er begann zu lachen und zu plaudern.

»Ganz falsch, teures Schwesterherz. Ich kündige das Zimmer in der Kreuderstraße und ziehe um. Aus den Augen, aus dem Sinn! Sind wir Männer nicht so?«

»Vielleicht sollt ihr so sein, ihr Verbrecher.«

Vera huschte zu dem nächsten Weg, der wieder in das Tal, führte. Die Geschwister stiegen ab.

Als am nächsten Morgen die lärmende Bahnhofshalle der großen Stadt den Zurückkehrenden in sich aufnahm und ihn wieder hinausspie in die kalten Straßen, in denen der morgendliche Winterwind herumirrte, fand Oskar Wichmann den Weg in sein Arbeitszimmer, ohne erst in das geheimrätliche Haus gegangen zu sein. Er wusch sich noch einmal die Hände, an denen immer noch Ruß zu kleben schien, steckte eine Zigarette an und sah die Neueingänge auf seinem Aktenbock durch. Es waren ihrer wenig. Man merkte, daß Grevenhagen noch auf Urlaub war. Auch die Tischrunde in der »Stillen Klause« hatte sich sehr verkleinert. An manchen Tagen erschien niemand als Wichmann und Casparius.

Die Kündigung bei der Geheimratswitwe war noch nicht ausgesprochen. Vor dem 1. Februar konnte der Mieter nicht ausziehen, wenn er nicht doppelt bezahlen wollte. Der letzte gesetzliche Kündigungstag war der 15. Januar. Der Anstand erforderte es, daß er spätestens am 1. Januar seine Absicht auszuziehen, bekanntgab. Bis dahin blieben noch einige Tage. Die Geheimrätin hatte Mandelplätzchen und Zimtbrötchen gebacken, von denen täglich sechs Stück in einem Körbchen auf des Assessors Schreibtisch standen, und täglich wurde von Weihnachten bis Neujahr das Sonntagsfrühstück serviert. Die Kreuderstraße 3 lag verlassen und verschlossen. Wichmann stand ein paarmal sehr früh auf und ritt allein durch den Park. Ein hübscher temperamentvoller Fuchs aus Privatbesitz sollte gerührt werden, und der Assessor kam auf diese Art zu einem annehmbaren Pferde. Er fühlte sich sicher auf dem Pferderücken.

Der Fuchs begrüßte ihn jedesmal zärtlich, und wenn das Tier ein Stück Zuckerrübe erhalten hatte, rieb es seine flaumweiche Schnauze an Wichmanns Wange.

Die Stallknechte wußten, daß Wichmanns Zigaretten gut waren.

»Komm’ Sie«, sagte Arnold, »ich zeig’ Ihnen was Feines.«

Er führte Wichmann zu einer Box mit zwei Grauschimmeln. »Sehn Sie, das ist Vollblut.«

Die edlen Tiere waren unruhig. Der Hengst äugte zu den Herankommenden und stampfte.

»Das ist ein junger … Wie alt schätzen Sie? Keine drei Jahre hat er. Der hat den Teufel im Leib. Er steht jetzt zu viel im Stall. Ich geb’ ihn Ihnen gern – aber Sie fliegen – lassen Sie’s lieber sein. Die Stute schon eher. Aber wenn was passiert? Lassen wir’s lieber sein. Die zwei sind ein Stück Geld wert. Was glauben Sie? Ein paar zehntausend, aber sie sind’s mehr als wert. Der Grevenhagen hat eine feine Nase.«

Wichmann zuckte zusammen.

»Den müssen Sie einmal reiten sehn, da kann ein jeder noch lernen. Den und die gnädige Frau auch, so was sieht man nicht mehr alle Tage – Neujahr kommen sie wieder. Mir ist’s recht. Ich habe jetzt nur das Theater mit dem Teufel da … und wenn mir was passiert …!«

Der Hengst schnaubte. Er hatte einen wunderbaren Kopf, unter seinem Fell spielten die Muskeln. Jede Bewegung war ein Tanz. Die Stute war ihm gleich in Färbung und Bau, kaum merklich kleiner, im Blick lag ein sanfterer Schimmer. Wichmann hatte den Traum, diese Tiere über eine weite Ebene fliehen zu sehen. Ach, ihre Hufe traten nur das Stroh in der Box, und sie scharrten und suchten Zuckerrüben in Wichmanns Tasche statt das Gras der Steppe.

»Nehmen Sie sich in acht vor dem …«

Wichmann trat zurück. Sein hübscher Fuchs war ein Ackergaul im Vergleich zu dem Grauschimmelpaar.

»Neujahr kann ich nicht kommen.«

»Nicht? Da wird Ihr Fritz aber traurig sein. Das ist nicht zu glauben, wie gern der Sie hat. Der Herr von Schilling kommt erst am 8. Januar zurück – dann muß ich mich eben solange um den Fritz kümmern. Er wird ja traurig sein. Schaun Sie zu, ob Sie nicht doch kommen können!«

Als Wichmann am Neujahrsmargen den Stall mit Sonnenaufgang betrat, empfand er den Geruch von Hafer und Mist stärker als sonst. Die Stalluft fühlte sich warm an im Gegensatz zu der eisigen Frische draußen. Die Pferde schienen lebhaft. Der junge Reiter bekam seinen Fuchs, der mit Freuden heraustänzelte, und trabte durch den Park. Die Erde war hart, die Teiche hatten sich mit grauen Eisschichten überzogen, an den Ufern häufte sich der dick zusammengekehrte Schnee. Enten fischten eifrig in einem Eisloch, und durch die Zweige der hohen Bäume schlüpften die Meisen. Wichmann hörte die Aufschlägeder Hufe des eigenen Tieres, das in den Morgen hineinlief. Sein Körper hob und senkte sich im Auffangen der Trabstöße. Die Reiterhaltung war ihm schon gewohnt geworden. Sporen und Peitsche waren mehr das Zeichen seiner Herrschaft als Gegenstände des Gebrauchs. Im Rondell beobachtete er ein Tier an der Longe … Ja, bis zur Hohen Schule war noch ein weiter Weg, wie weit, das hatte er erst begriffen, als er zu lernen anfing.

Fußgänger ließen sich noch kaum sehen. Wichmanns Hände froren am Zügel. Er hatte das Gefühl, daß seine Nasenspitze sehr rot sein müsse. Alle Gedanken und Entschlüsse, mit denen er das neue Jahr hatte anfangen wollen, waren versunken und vergessen. Er wußte nichts, als daß Morgen war und daß er schnell durch den Wind ritt.

Im Nebel stieg der rote Sonnenball. Sein Licht glitt wie ein Feenkleid zwischen dunklen Stämmen durch. Die Enten humpelten tolpatschig über das Eis.

Oskar Wichmann hatte sein Tier in Schritt fallen lassen. Er schaute die lange, baumüberdachte Allee hinunter, die sein Lieblingsweg war. Hufspuren vom Vortage waren im Boden festgefroren. Der Reif hatte sich an den Fährtenrändern abgesetzt und leuchtete mit weißen Kränzchen, wenn die Sonnenhelle schräg durch die Zweige schimmerte. Der Blick folgte dem langen schwarzerdigen Weg zwischen den fleckstämmigen Riesenwächtern zurück bis zu seinem Anfang, der ganz im Licht lag. Wie eine Quelle des Morgens war jenes weiße Leuchten, aus dem der Reitweg kam, eine Öffnung, aus der Himmelsfülle über die Erde hereinfloß. Wichmann hatte seinen Fuchs zum Stehen gebracht und schaute mit der Empfindung, daß ein neues Jahr zu Unbekanntem beginne, die große Allee hinab, die in ihrer Einsamkeit nur ganz sie selbst war … Erde, Baum, Licht und Winter.

Er wunderte sich nicht, daß sie aus ihrem lichten Anfang das sich Bewegende gebar. Erde, zur Schwere verdammt, streckte sich liebend unter die Wesen, die sie in dahineilendem Spiele traten, Zweige schüttelten weiße Flocken, um den schnellen Boten des Morgens ihren Gruß zu geben, und die Sonne stieg und schmeichelte mit ihren nie greifbaren Händen den mutwilligen Geschöpfen.

Das laute Klopfen der Hufe kam in die Allee zwischen den stummen Tanz von Schatten und Licht herein. Schon umfaßte das Auge die Schönheit des schnellen Laufs, die Gestalt der edlen Tiere. Mit geblähten Nüstern, die Kräfte kaum hemmend, mit wehenden Schweifen trabten sie dahin. Gespitzte Ohren, das Gefunkel ihrer Lichter, der Dampf vor den Nüstern waren Jugend und Morgenfrühe. Das grauweiße Fell hatte die Farbe des beginnenden Wintertages, der noch immer zwischen Nebel und Helle kämpfte. Schwarz, schmal und stolz saßen die Reiter auf dem Rücken der Tiere. Fast schienen sie ohne eigene Schwere, eins mit den Körpern, die sie durch den. Wald trugen. Die Hände hielten die Zügel mit einer strengen Leichtigkeit. Der übereinstimmende Rhythmus der beiden Tiere, die Gestalt und Haltung von Reiter und Reiterin in ihrem Ebenmaß waren ein unwiderstehliches Bild der ästhetischen Vollkommenheit.

Wichmann hatte den Atem angehalten; er war nichts mehr als schauendes Auge und lauschendes Ohr.

Die Hufschläge klangen laut auf. Ein Tier begehrte Freiheit. Seine Reiterin bändigte es schnell. Die Hände der Herren hoben sich zum Gruß. Die Sporen glänzten.

Marion hatte den Kopf leicht geneigt.

Vorbei …

Wichmann ließ die Zügel locker und ritt auf der Spur der Verschwundenen, von Parkbäumen und Biegungen Verschluckten zurück, die Allee hinab in den stärker besonnten Morgen.

Er hatte sie gesehen, Reiter und Reiterin, den Mann und die Frau, ein Leib – den Herrn und die Dame – ein Stil.

Alles andere war Schatten und wesenlos.

Ihre weiche Gestalt war von der Linie des Reitkleides halb verborgen gewesen, aber sie war schön wie das Tier, und auf den Blütenblättern ihrer Wangen hatte Trauer gelegen. Ihre Augen waren an dem Grüßenden vorübergegangen wie die leise wehende Luft, die eine Stätte zu suchen scheint und keine finden kann.

Marion.

Als Oskar Wichmann seinen schweißtriefenden Fuchs zur Mittagszeit zurückbrachte, stand das Grauschimmelpaar in der Box, und Arnold fütterte es.

Alle Überlegung und aller Entschluß waren vergeblich gewesen. Wichmann floh nicht.

Als er eines Nachmittags im hereinsinkenden Nebel das Heim der Familie Casparius besuchte und einen dünnen Kaffee zu fettem Streuselkuchen trank, beneidete er den beleibten Kollegen mit glühendem Wunsch um seine kleine strickende Frau, um das altmodische Sofa, das so bequem war, und um die schreienden Drillinge. Von alledem war Wichmann ausgeschlossen. Er mußte hinübersehen, des Morgens, des Abends und manchmal des Nachts zu jenem Zaubergarten hinter dem Ahornbaum. Er mußte aus Träumen aufschrecken und Kollegen und Arbeit vernachlässigen. Was wußten die Philister davon? Seine Phantasie hatte ihm ein gefährlicheres Leben geschaffen, das sie nicht kannten und das er nicht mehr zu missen vermochte.

Alphonse …

Marion war traurig gewesen.

Als Oskar Wichmann an einem Morgen die gedruckte Einladungskarte zum »jour fix« erhielt, auf die er lange gewartet hatte, war seine Furcht vor sich selbst größer als seine freudige Erwartung. Aber die Lockung siegte.

Zwei Freunde

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